Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.298/2006
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{T 0/2}
1P.298/2006 /scd

Urteil vom 1. September 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Nay,
Gerichtsschreiber Störi.

Verein X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Rolf W.
Rempfler,

gegen

Bezirksamt Baden, Ländliweg 2, 5401 Baden,
Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen,
Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.

Zustellung einer Strafbefehlkopie an den Anzeigeerstatter,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 18. April 2006.

Sachverhalt:

A.
Auf Grund einer Anzeige, die Y.________ als Vertreter des "Vereins
X.________" eingereicht hatte, führte das Veterinäramt des Kantons Aargau bei
einem Landwirt in Bellikon am 9. September 2005 eine unangemeldete Kontrolle
der Tierhaltung durch; dabei wurde eine vorschriftswidrige Schweine- und
Kaninchenhaltung festgestellt.

Mit Strafbefehl vom 3. Januar 2006 bestrafte das Bezirksamt Baden den
Landwirt wegen Verstössen gegen das Tierschutzgesetz mit einer Busse von 300
Franken.

Am 26. Januar 2006 verlangte Y.________ per E-mail die Zustellung einer Kopie
des Strafbefehls.

Das Bezirksamt Baden wies dieses Begehren am 6. Februar 2006 ab mit der
Begründung, als Anzeigeerstatter sei dem Gesuchsteller im Verfahren keine
Parteistellung zugekommen.

Die Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts des Kantons Aargau hiess
die Beschwerde von Y.________ gegen diese bezirksamtliche Verfügung am 18.
April 2006 teilweise gut und wies das Bezirksamt Baden an, "Y.________
Gelegenheit zu geben, innert einer anzusetzenden Frist von einem Monat den
Strafbefehl auf der Kanzlei des Bezirksamts in Baden einzusehen. Macht er von
seinem Recht keinen Gebrauch, gilt es als verwirkt". Im Übrigen wies es die
Beschwerde ab.

B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 22. Mai 2006 wegen Verletzung des
rechtlichen Gehörs, des Öffentlichkeitsgebotes und der Medienfreiheit
beantragt der Verein X.________, diesen obergerichtlichen Entscheid
aufzuheben. Ausserdem ersucht er, seiner Beschwerde aufschiebende Wirkung
zuzuerkennen.

C.
Mit Verfügung vom 21. Juli 2006 legte der Präsident der I.
öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts der Beschwerde
aufschiebende Wirkung bei.

D.
Das Obergericht verzichtet auf Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Im kantonalen Verfahren wird sowohl vom Bezirksamt als auch vom Obergericht
im Rubrum Y.________ als Partei aufgeführt; aus den Erwägungen ergibt sich
indessen, dass beide Instanzen davon ausgehen, dass Y.________ für den Verein
X.________ handelte. So erwog das Bezirksamt, Y.________ habe als Vertreter
des Vereins X.________ Strafanzeige erstattet, und das Obergericht führt im
angefochtenen Entscheid aus, auf Grund einer Meldung von Y.________,
Präsident des Vereins X.________, sei eine unangemeldete Kontrolle der
Tierhaltung des beanzeigten Landwirts erfolgt. Unterscheiden somit die
kantonalen Instanzen nicht sauber zwischen Y.________ und dem Verein
X.________, wäre es überspitzt formalistisch, auf die vom Verein X.________
erhobene staatsrechtliche Beschwerde mit der Begründung nicht einzutreten, im
kantonalen Verfahren werde Y.________, nicht der Verein X.________, als
Partei aufgeführt. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen
Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde, unter Vorbehalt gehörig
begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 127 I 38 E. 3c; 125 I 492
E. 1b; 122 I 70 E. 1c), einzutreten ist.

2.
Der Beschwerdeführer bringt vor, er habe auf Grund der Art. 6 und 10 EMRK
sowie von Art. 17 und 30 Abs. 3 BV einen Anspruch darauf, eine Kopie des
Strafbefehls des Bezirksamts Baden vom 3. Januar 2006 zugestellt zu erhalten.
Das Bezirksamt habe die von ihm geltend gemachte Rechtsgrundlage mit keinem
Wort gewürdigt und sich auf untergeordnetes kantonales Recht berufen; dadurch
habe es seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.

2.1 Die staatsrechtliche Beschwerde ist ausschliesslich gegen
letztinstanzliche kantonale Entscheide zulässig (Art. 86 Abs. 1 OG). Auf die
vom Beschwerdeführer gegen die erste kantonale Instanz - das Bezirksamt Baden
- erhobene Gehörsverweigerungsrüge ist daher nicht einzutreten.

2.2 Nach Art. 30 Abs. 3 BV gilt der Grundsatz der öffentlichen
Urteilsverkündung für alle gerichtlichen Verfahren, nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK
und Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt II, von hier nicht zutreffenden Ausnahmen
abgesehen, für alle Entscheide über strafrechtliche Anklagen und damit auch
für solche, die in einem (abgekürzten) Strafbefehlsverfahren ergangen sind.
Dem Anspruch wird Genüge getan, wenn das Urteil bei einer der Öffentlichkeit
zugänglichen Kanzlei aufgelegt wird, wo jedermann, der ein berechtigtes
Interesse glaubhaft machen kann, den vollständigen Text des Urteils einsehen
oder sich gegen eine allfällige Gebühr eine Kopie erstellen lassen kann;
weitergehende Ansprüche - insbesondere auf Zustellung einer Kopie - bestehen
dagegen, gestützt auf die genannten Bestimmungen, nicht (BGE 124 IV 234 mit
Hinweisen).

2.2.1 Die Rüge ist somit insoweit unbegründet, als der Beschwerdeführer die
Zustellung einer Kopie des Strafbefehls verlangt. Die angeführten
verfassungs- und konventionsrechtlichen Garantien verpflichten die Gerichte
nach der dargestellten Rechtsprechung nicht, den Strafanzeigern
Strafbefehlskopien zuzustellen. Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt,
ist nicht geeignet, diese Praxis in Frage zu stellen. Entgegen seiner
Auffassung ist es den Berechtigten durchaus zuzumuten, Strafbefehle
persönlich auf der Gerichtskanzlei einzusehen. Im Falle eines gerichtlichen
Verfahrens mit mündlicher Urteilsverkündigung, die den Unwägbarkeiten des
Verfahrensgangs entsprechend früher oder später erfolgt, müsste er unter
Umständen einen erheblich grösseren Zeitaufwand einrechnen und sich
gegebenenfalls mehr als einmal zum Gericht begeben, um sicher zu sein, der
Urteilsverkündigung beiwohnen zu können.

2.2.2 Begründet ist die Rüge indessen insoweit, als der Beschwerdeführer
vorbringt, das Obergericht habe ihm zu Unrecht untersagt, sich vom
Strafbefehl eine Kopie erstellen zu lassen. Nach dem verfassungsrechtlichen
Grundsatz der öffentlichen Urteilsverkündung ist dieses Recht Bestandteil des
Rechts, Einsicht in den Strafbefehl nehmen zu können. Sollte der
Beschwerdeführer mit diesem Strafbefehl Missbrauch treiben, wie die
kantonalen Behörden befürchten, wird er gegebenenfalls die entsprechenden
zivil- und strafrechtlichen Konsequenzen zu tragen haben.

2.3 Es ist nicht ersichtlich und wird vom Beschwerdeführer auch nicht in
einer den gesetzlichen Anforderungen genügenden Weise dargetan, inwiefern er
aus der Medienfreiheit von Art. 17 BV oder der Meinungsäusserungsfreiheit von
Art. 10 EMRK weitere, über die Garantien von Art. 30 Abs. 3 BV, Art. 6 Ziff.
1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt II hinausgehenden Ansprüche ableiten
könnte. Darauf ist nicht einzutreten (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG).

3.
Die Beschwerde ist somit, soweit darauf einzutreten ist, teilweise
gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Das Obergericht wird
bei seinem neuen Entscheid anzuordnen haben, dass der Beschwerdeführer den
fraglichen Strafbefehl beim Bezirksamt einsehen und sich davon, allenfalls
gegen eine Gebühr, eine Kopie anfertigen lassen kann. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens ist dem Beschwerdeführer eine reduzierte Gerichtsgebühr
aufzuerlegen (Art. 156 OG), und der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer
eine reduzierte Entschädigung zu bezahlen (Art. 159 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird, soweit darauf einzutreten ist, teilweise gutgeheissen
und der angefochtene Entscheid der Beschwerdekammer des Obergerichts des
Kantons Aargau aufgehoben.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 500.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Bezirksamt Baden und dem
Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 1. September 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: