Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.270/2006
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2006
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2006


1P.270/2006 /scd

Urteil vom 6. Juni 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Reeb,
Gerichtsschreiber Steinmann.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Thomas
Fingerhuth,

gegen

Gerichtspräsidium Baden, Ländliweg 2, 5400 Baden,
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen,
Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.

Haftentlassung,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 25. April 2006.

Sachverhalt:

A.
Das Bezirksgericht Baden befand X.________ mit Urteil vom 24. Juni 2005 u.a.
der eventualvorsätzlichen versuchten Tötung, der Freiheitsberaubung und
Entführung unter erschwerenden Umständen, der versuchten Freiheitsberaubung
und Entführung, des qualifizierten Raubes, der einfachen Körperverletzung und
mehrfacher Erpressung für schuldig und verurteilte ihn (als Zusatzstrafe zu
einem früheren Verfahren) zu einer Zuchthausstrafe von 8 Jahren, unter
Anrechnung von 613 Tagen Untersuchungshaft. Zusätzlich versetzte es ihn zur
Sicherung des Strafvollzugs in Sicherheitshaft (im Sinne vorzeitigen
Strafantritts in der Strafanstalt Lenzburg). Die Begründung dieses Urteils
steht noch aus.

B.
Am 31. März 2006 ersuchte X.________ um Entlassung aus der Haft. Zur
Begründung verwies er auf das Ausbleiben des begründeten Urteils, die
Befragung sämtlicher Zeugen anlässlich der Hauptverhandlung, sein
Wohlverhalten während der Untersuchungshaft sowie seine persönlichen
Verhältnisse und eine mögliche Arbeitsstelle.

Der Gerichtspräsident des Bezirksgerichts Baden wies dieses Gesuch am 12.
April 2006 ab. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde von der Anklagekammer
des Obergerichts des Kantons Aargau mit Entscheid vom 25. April 2006
abgewiesen.

C.
Gegen den Entscheid der Anklagekammer des Obergerichts hat X.________ beim
Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde erhoben und um Aufhebung dieses
Entscheides, Entlassung aus der Haft und Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege ersucht. Er rügt eine Verletzung von Art. 31 Abs. 1 BV und Art.
5 Ziff. 1 lit. c i.V.m. Art. 5 Ziff. 3 EMRK und macht geltend, es sei zu
Unrecht Fortsetzungsgefahr angenommen worden und das Ausbleiben der
Urteilsbegründung unberücksichtigt geblieben.

Das Obergericht hat auf Vernehmlassung verzichtet. Das Bezirksgericht Baden
und die Staatsanwaltschaft haben sich nicht geäussert.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Eintretensvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die
Beschwerde ist einzutreten.

2.
Unter Berufung auf Art. 5 Ziff. 3 EMRK und Art. 31 Abs. 3 BV macht der
Beschwerdeführer geltend, das lange Ausbleiben der Begründung des Urteils des
Bezirksgerichts gebiete in Anbetracht aller Umstände eine Entlassung aus der
Haft. Der Beschwerdeführer übersieht, dass sich die Garantie von Art. 5 Ziff.
3 EMRK und Art. 31 Abs. 3 BV auf Untersuchungshaft im Sinne von Art. 5 Ziff.
1 lit. c EMRK, indessen nicht auf Sicherheitshaft im Anschluss an eine
(allenfalls noch nicht rechtskräftige) Verurteilung durch das Bezirksgericht
im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 lit. a EMRK bezieht (vgl. Urteil 1P.517/2000 vom
14. September 2000, in Pra 2001 Nr. 76; Entscheid des EGMR i.S. Dorsaz gegen
Schweiz, in: VPB 2002 Nr. 107;). Der Beschwerdeführer kann daher aus der
Garantie, dass die in Untersuchungshaft befindliche Person unverzüglich einem
Richter vorzuführen und allenfalls aus der Haft zu lassen sei, keinen
Anspruch auf Entlassung aus der Sicherheitshaft ableiten.

3.
Nach § 67 Abs. 1 der Strafprozessordnung des Kantons Aargau (StPO) kann ein
Beschuldigter in Haft genommen werden, wenn er einer mit Freiheitsstrafe
bedrohten Handlung dringend verdächtigt wird und Flucht- oder
Kollusionsgefahr vorliegt. Ferner kann gemäss § 67 Abs. 2 Haft angeordnet
werden, wenn die Freiheit des Beschuldigten mit Gefahr für andere verbunden
ist, namentlich wenn eine Fortsetzung der strafbaren Tätigkeit zu befürchten
ist, sowie zur Sicherung des Strafvollzuges nach der Beurteilung.

Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, auf die der angefochtene
Entscheid verweist, ist die Anordnung oder Aufrechterhaltung von Haft wegen
Fortsetzungsgefahr verhältnismässig, wenn einerseits die Rückfallprognose
sehr ungünstig und andererseits die zu befürchtenden Delikte schwerer Natur
sind. Dagegen reicht die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung weiterer
Delikte oder die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt
werden, für die Anordnung oder Aufrechterhaltung von Präventivhaft nicht aus
(BGE 125 I 60 E. 3a S. 62, mit Hinweis). Die Voraussetzungen und die
Verhältnismässigkeit der Haft, welche einen schweren Eingriff in die
persönliche Freiheit gemäss Art. 10 Abs. 2 BV darstellt, prüft das
Bundesgericht mit freier Kognition.

Das Obergericht wies im angefochtenen Entscheid darauf hin, dass das
Bezirksgericht den Beschwerdeführer wegen schwerster Straftaten zum Nachteil
unterschiedlicher Opfer für schuldig befunden hat. Ferner hielt es fest,
aufgrund des Strafverfahrens sei gerichtsnotorisch, dass die Delinquenz des
Beschwerdeführers mit schwerer Gewalttätigkeit gegenüber diversen Opfern bis
zurück ins Jahr 2000 reicht und dass sich dieser vom laufenden Verfahren und
von der Untersuchungshaft nicht habe beeinflussen lassen, was in der
Beschwerde nicht in Frage gestellt wird. Bei dieser Sachlage ist ernsthaft zu
befürchten, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Haftentlassung weiterhin
schwerste Delikte begehen könnte. An der negativen Rückfallprognose vermag
der Umstand des Wohlverhaltens während der Dauer der bisherigen Haft nichts
zu ändern, da die Haft einen streng strukturierten Rahmen aufweist und eine
permanente Überwachung garantiert. Weder eine feste Arbeitsstelle noch der
soziale familäre Rahmen vermögen unter den gegebenen Umständen die
Fortsetzungsgefahr aufzuheben. Auch wenn das Ausbleiben der Begründung des
erstinstanzlichen Urteils das Beschleunigungsgebot verletzen dürfte, erweist
sich die Sicherheitshaft nicht als unverhältnismässig (vgl. die Praxis bei
der Untersuchungshaft: BGE 128 I 149 E. 2.2 S. 151). Daraus ergibt sich
gesamthaft, dass das Obergericht ohne Verfassungsverletzung die Haft
bestätigen durfte.

Die Beschwerde erweist sich daher als unbegründet.

4.

Demnach ist die Beschwerde abzuweisen. In Anbetracht der Umstände
rechtfertigt es sich, dem Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege stattzugeben (Art. 152 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht
im Verfahren nach Art. 36b OG:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Thomas Fingerhuth wird als amtlicher Rechtsvertreter
bezeichnet und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der
Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Gerichtspräsidium Baden sowie
der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 6. Juni 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: