Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.250/2006
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{T 1/2}
1P.250/2006
1P.264/2006 /scd

Urteil vom 31. August 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Aeschlimann
Gerichtsschreiber Störi.

1P.250/2006
1.Daniel Pensa,
2.Fabrizio Visinoni,
Beschwerdeführer, beide vertreten durch Rechtsanwalt Stefan Metzger,

sowie

1P.264/2006
Mario Pfiffner, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Alexander
Blöchlinger,

gegen

Gemeinde Silvaplana, 7513 Silvaplana, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Otmar
Bänziger,
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden,
1. Kammer, Obere Plessurstrasse 1, 7000 Chur.

Gemeindeversammlungsbeschlüsse; Staatsrechtliche Beschwerden gegen die
Urteile des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden, 1. Kammer,
vom 17. März 2006.

Sachverhalt:

A.
Die Gemeindeversammlung Silvaplana beschloss am 30. November 2005 auf Antrag
des Gemeindevorstands, ein Wohnbauprojekt der Katholischen Kirche aus dem
Erstwohnungsfonds zu unterstützen. Ausserdem beschloss sie auf Antrag von
Claudia Troncana, den vom Gemeindevorstand dafür vorgeschlagenen Beitrag von
1,2 auf 2 Mio. Franken zu erhöhen.

B.  1P.264/2006
Am 8. Dezember 2005 erhob Mario Pfiffner Abstimmungsbeschwerde mit dem
Antrag, diese Beschlüsse aufzuheben. Botschaft und Antrag seien unklar
gewesen, sodass die Stimmberechtigten nicht genau gewusst hätten, worüber sie
abgestimmt hätten. Der Antrag auf Erhöhung des Beitrages auf 2 Mio. Franken
sei nicht traktandiert gewesen, weshalb sich jene Stimmberechtigten, die an
der Gemeindeversammlung nicht teilgenommen hätten, sich dazu gar nicht hätten
äussern können.

Mit Urteil V 05 8 vom 17. März 2006 wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden die Beschwerde ab.

Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 3. Mai 2006 wegen Verletzung von
politischen Rechten beantragt Mario Pfiffner, das verwaltungsgerichtliche
Urteil aufzuheben.

Die Gemeinde Silvaplana und das Verwaltungsgericht beantragen in ihren
Vernehmlassungen, die Beschwerde abzuweisen.

C.  1P.250/2006
Am 19. Dezember 2005 erhoben Daniel Pensa und Fabrizio Visinoni
Abstimmungsbeschwerde mit dem Antrag, diese Beschlüsse aufzuheben. Botschaft
und Antrag seien unklar gewesen, sodass die Stimmberechtigten nicht genau
gewusst hätten, worüber sie abgestimmt hätten. Zudem sei der Ablauf der
Abstimmung nicht korrekt gewesen: Nach der Abstimmung über die
Rückweisungsanträge hätte man entgegen dem Vorgehen des Gemeinderats zunächst
über die Abänderungsanträge und dann erst über den Hauptantrag abstimmen
müssen.

Mit Urteil V 05 9 vom 17. März 2006 wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden die Beschwerde ab.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 28. April 2006 wegen Verletzung von
politischen Rechten beantragen Daniel Pensa und Fabrizio Visinoni, das
verwaltungsgerichtliche Urteil aufzuheben.

Die Gemeinde Silvaplana und das Verwaltungsgericht beantragen in ihren
Vernehmlassungen, die Beschwerde abzuweisen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die beiden Verfahren stehen in einem engen sachlichen Zusammenhang, was sich
schon daraus ergibt, dass sowohl die beiden angefochtenen Urteile als auch
die Rechtsschriften aller Beteiligten über weite Strecken identisch sind. Es
rechtfertigt sich daher, die Verfahren zu vereinigen.

2.
Auf Stimmrechtsbeschwerde im Sinne von Art. 85 lit. a OG hin beurteilt das
Bundesgericht Beschwerden betreffend die politische Stimmberechtigung der
Bürger in kantonalen Angelegenheiten. Als kantonal gelten auch Wahlen und
Abstimmungen in Gemeinden (BGE 119 Ia 167 E. 1a). Die Beschwerdeführer sind
in Silvaplana stimmberechtigt und daher befugt, die Durchführung der
Gemeindeversammlung vom 30. November 2005 anzufechten (BGE 121 I 357 E. 2a;
120 Ia 194 E. 1c). Die angefochtenen Entscheide des Verwaltungsgerichts
unterliegt keinem kantonalen Rechtsmittel und sind damit taugliche
Anfechtungsobjekte (Art. 86 Abs. 1 OG). Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die
Beschwerde einzutreten ist.

3.
Das in Art. 34 Abs. 2 BV als Grundrecht verankerte Stimmrecht gibt dem Bürger
allgemein den Anspruch darauf, dass kein Abstimmungsergebnis anerkannt wird,
das nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum
Ausdruck bringt (BGE 125 I 441 E. 2a; 124 I 55 E. 2a; 121 I 138 E. 3).

Auf Stimmrechtsbeschwerde hin prüft das Bundesgericht die Auslegung von
Bundesrecht und kantonalem Recht aller Stufen, das den Inhalt des Stimmrechts
umschreibt oder mit diesem in engem Zusammenhang steht, mit freier Kognition.
In ausgesprochenen Zweifelsfällen schliesst es sich allerdings der von der
obersten kantonalen Behörde vertretenen Auffassung an, sofern es sich dabei
um das Parlament oder das Volk handelt (BGE 129 I 185 E. 2; 118 Ia 422 E. 1e;
113 Ia 390 E. 3 mit Hinweisen).

4.
4.1 Die Gemeindeversammlung vom 30. November 2005 erhöhte den vom Gemeinderat
aus dem Erstwohnungsfonds für ein Projekt der katholischen Kirche beantragten
Beitrag von 1,2 Mio. auf 2 Mio. Franken. Die Beschwerdeführer machen geltend,
dieser Beschluss verstosse sowohl gegen die Traktandierungspflicht von Art.
12 des kantonalen Gemeindegesetzes vom 28. April 1974 (GG) als auch gegen den
in Art. 9 BV verankerten Grundsatz von Treu und Glauben und habe damit ihr
Stimmrecht verletzt. Die Traktandierungspflicht beeinhalte, den
Abstimmungsgegenstand so präzise festzulegen, dass sich die Stimmberechtigten
ein Bild von der Bedeutung der Vorlage machen könnten. Zu den wesentlichen
Punkten einer Vorlage, die in den Abstimmungsunterlagen enthalten sein
müssten, gehöre auch die Kredithöhe: Die Gemeindeversammlung sei nur befugt,
einen beantragten Kredit zu kürzen, nicht aber, ihn zu erhöhen. Ein solches
Vorgehen widerspreche auch dem Grundsatz von Treu und Glauben: So habe der
Beschwerdeführer des Verfahrens 1P.264/2006 an der Gemeindeversammlung vom
30. November 2005 nicht teilgenommen, weil er mit dem gemeinderätlichen
Antrag habe leben können. Hätte er damit rechnen müssen, dass die
Gemeindeversammlung den beantragten Kredit massiv aufstocken würde, hätte er
diese besucht und sich diesem Abänderungsantrag widersetzt. Indem die
Gemeindeversammlung über etwas anderes - nämlich über einen Beitrag von 2
Mio. Franken anstatt über einen solchen von 1,2 Mio. Franken - abgestimmt
habe, als traktandiert und in den Abstimmungsunterlagen veröffentlicht worden
sei, habe sie im Ergebnis das Stimmrecht der Beschwerdeführer verletzt.

4.2 Nach Art. 12 Abs. 2 GG darf die Gemeindeversammlung nur über
Verhandlungsgegenstände abstimmen, die in der mindestens 5 Tage zuvor bekannt
gegebenen Traktandenliste verzeichnet sind. Das Verwaltungsgericht hat dazu
in den angefochtenen Entscheiden ausgeführt (E. 3 S. 6), dies bedeute
keineswegs, dass die Stimmberechtigten zu traktandierten Geschäften keine
Abänderungsanträge stellen dürften. Weder sei eine solche Einschränkung im
Gemeindegesetz vorgesehen, noch liesse sich dies mit dem hohen Stellenwert
vereinbaren, den die Versammlungsdemokratie in Graubünden geniesse. Mit Blick
auf die Traktandierungspflicht sei lediglich erforderlich, dass
Abänderungsanträge in einem hinreichend engen Sachzusammenhang zum
traktandierten Geschäft stünden, sodass nicht faktisch über eine neue, nicht
traktandierte Vorlage abgestimmt werde.

4.3 Die Beschwerdeführer bringen nichts vor, was diese zutreffenden
Ausführungen des Verwaltungsgerichts in Frage stellen würde. In der Befugnis
der Stimmberechtigten, gemeinderätliche Vorlagen zu diskutieren und
abzuändern, liegt ja gerade der Sinn der Versammlungsdemokratie, ihr
"demokratischer Mehrwert" gegenüber der Urnendemokratie, bei welcher der
Stimmbürger eine Vorlage bloss annehmen oder verwerfen kann. Schranke bildet
selbstverständlich die Identität der Vorlage, d.h. dass Abänderungsanträge
nicht dazu missbraucht werden dürfen, Ziele zu verwirklichen, die mit der
urspünglichen Vorlage nicht in einem engen Sachzusammenhang stehen und mit
denen die Stimmberechtigten daher anhand der Traktandenliste nicht rechnen
mussten. Es lässt sich indessen nicht im Ernst behaupten, die Aufstockung
eines Kredites zur Wohnbauförderung von 1,2 auf 2 Mio. Franken sprenge die
Identität der gemeinderätlichen Vorlage; dies ist eine Abänderung derselben,
mit denen die Stimmberechtigten auf Grund der publizierten Traktandenliste
rechnen mussten. Es kann daher keine Rede davon sein, dass die
Stimmberechtigten, die nach Lektüre der Traktandenliste auf eine Teilnahme an
der Gemeindeversammlung verzichteten, durch die Annahme dieses
Abänderungsantrages treuwidrig an der Ausübung ihrer politischen Rechte
gehindert worden sind. Das von den Beschwerdeführern vorgebrachte Argument,
wenn man derartige Abänderungsanträge auf eine Erhöhung von Beiträgen
zuliesse, hätte die Gemeindeversammlung vom 30. November 2005 auch die
gesamten Mittel des Fonds zur Förderung des Erstwohnungsbaus von über 7 Mio.
Franken für diese Vorlage ausgeben dürfen, geht offensichtlich fehl: Ein
derartiger Abänderungsantrag auf eine faktische Auflösung dieses Fonds könnte
den Rahmen des traktandierten Antrages, für ein konkretes Projekt einen
bestimmten Beitrag zu sprechen, sprengen und wäre damit unzulässig; was hier
nicht zu entscheiden ist. Der umstrittene Gemeindeversammlungsbeschluss
verstösst weder gegen Art. 12 Abs. 2 GG noch gegen Treu und Glauben (Art. 9
BV) und verletzt damit auch nicht das Stimmrecht der Beschwerdeführer. Die
Rüge ist offensichtlich unbegründet.

5.
Die Beschwerden sind somit abzuweisen. Praxisgemäss sind bei
Stimmrechtsbeschwerde keine Kosten zu erheben. Hingegen haben die
unterliegenden Beschwerdeführer der Gemeinde Silvaplana eine angemessene
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht

im Verfahren nach Art. 36a OG:

1.
Die Verfahren 1P.250/2006 und 1P.264/2006 werden vereinigt.

2.
Die Beschwerden werden abgewiesen.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Die drei Beschwerdeführer haben die Gemeinde Silvaplana für das
bundesgerichtliche Verfahren je mit Fr. 500.-- zu entschädigen, unter
solidarischer Haftung eines jeden für den ganzen Betrag von Fr. 1'500.--.

5.
Dieses Urteil wird den Beschwerdeführern, der Gemeinde Silvaplana und dem
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 31. August 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: