Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.232/2006
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{T 0/2}
1P.232/2006/fun

Urteil vom 3. Juli 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Thönen.

X. _________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Roger Gebhard,

gegen

Untersuchungsrichteramt des Kantons Schaffhausen, Beckenstube 7, 8200
Schaffhausen,
Obergericht des Kantons Schaffhausen, Postfach 568, 8201 Schaffhausen.

Wiederherstellung der Einsprachefrist,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid
des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 17. März 2006.

Sachverhalt:

A.
Das Untersuchungsrichteramt des Kantons Schaffhausen verurteilte X.________
(geb. 1970) mit Strafbefehl vom 28. März 2003 wegen mehrfacher Widerhandlung
gegen das Betäubungsmittelgesetz zu sechs Monaten Gefängnis, abzüglich elf
Tage Untersuchungshaft, unter bedingtem Aufschub bei einer Probezeit von zwei
Jahren.

Am 14. Oktober 2005 ersuchte X.________ durch seinen Rechtsanwalt beim
Untersuchungsrichteramt um Wiederherstellung der Einsprachefrist und erhob
Einsprache gegen den Strafbefehl. Am 20. Dezember 2005 wies der zuständige
Einzelrichter in Strafsachen des Kantonsgerichts Schaffhausen das
Wiederherstellungsgesuch ab. Die hiergegen erhobene Beschwerde wies das
Obergericht des Kantons Schaffhausen am 17. März 2006 ab.

B.
X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den
angefochtenen Entscheid des Obergerichts aufzuheben.

C.
Das Obergericht hat auf eine Vernehmlassung verzichtet; das
Untersuchungsrichteramt hat sich nicht vernehmen lassen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Beim angefochtenen Urteil handelt es sich um einen letztinstanzlichen
kantonalen Entscheid. Der Beschwerdeführer ist in seinen rechtlich
geschützten Interessen betroffen (Art. 88 OG) und macht die Verletzung
verfassungsmässiger Rechte geltend (Art. 84 Abs. 1 lit. a OG). Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, weshalb auf die Beschwerde
einzutreten ist.

2.
Die Beschwerde richtet sich gegen die Nichtgewährung einer
Fristwiederherstellung nach kantonalem Recht. Die entsprechende Bestimmung
lautet (Art. 101 Abs. 1 und 2 StPO/SH):
1 Erwächst einer am Verfahren beteiligten Person aus ihrer Säumnis ein
erheblicher und endgültiger Rechtsverlust, so kann sie die Wiederherstellung
der versäumten Frist oder des versäumten Termins verlangen, wenn sie
nachweist, dass ihr oder ihrem Vertreter bezüglich der Säumnis kein grobes
Verschulden zur Last fällt.
2 Das Gesuch um Wiederherstellung ist innert 10 Tagen seit Wegfall des
Hindernisses schriftlich und mit genügender Bescheinigung bei der Behörde zu
stellen, bei welcher die Frist oder der Termin zu wahren gewesen wäre. Ohne
besondere Verfügung dieser Behörde kommt dem Wiederherstellungsgesuch keine
aufschiebende Wirkung zu.

3.
3.1 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Willkürverbots (Art. 9 BV)
und des Anspruchs auf einen Dolmetscher (Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK).

Er sei im März 2001 von Kenia in die Schweiz gekommen und habe nicht genügend
Deutsch gekonnt, um die Rechtsmittelbelehrung des Strafbefehls zu verstehen.
Ihm sei zu Unrecht die amtliche Verteidigung verweigert worden und er habe
die Möglichkeit des Rechtsmittels gegen den Strafbefehl nicht gekannt. Weil
ihn seine schweizerische Ehefrau angezeigt und er sich mit ihr zerstritten
habe, habe er von ihr keine sprachliche Hilfe erwarten können. Heute drohe
ihm der Widerruf des damals bedingt ausgesprochenen Strafvollzuges; sein
Verteidiger im laufenden Strafverfahren habe vom Strafbefehl erstmals beim
Aktenstudium am 7. Oktober 2005 Kenntnis erhalten und darauf das
Wiederherstellungsgesuch und die Einsprache eingereicht.

3.2 Nach den Darlegungen im angefochtenen Urteil lag im Strafbefehlsverfahren
eine mangelnde Rechtsverbeiständung vor, die auf dem Rechtsmittelweg hätte
angefochten werden können. Da dem Beschwerdeführer in der
untersuchungsrichterlichen Einvernahme mit Dolmetscher vom 17. Januar 2003
die Strafe in Aussicht gestellt worden sei, habe er gewusst, worum es bei
diesem Strafbefehl gehe. Zudem sei allgemein bekannt, dass gegen Strafurteile
Rechtsmittel ergriffen werden können. Da der Beschwerdeführer seit März 2001
in der Schweiz lebe, mit einer Schweizerin verheiratet sei und eine
B-Bewilligung besitze, habe er über gewisse Deutschkenntnisse verfügt;
andernfalls hätte er den Strafbefehl von seiner Ehefrau oder einer
Drittperson übersetzen lassen können. Eine Reaktion erst nach zweieinhalb
Jahren, weil der Widerruf der bedingten Freiheitsstrafe drohe, gehe nicht an.
Der Beschwerdeführer wäre nach Treu und Glauben verpflichtet gewesen, sich
innert nützlicher Frist nach zulässigen Rechtsmitteln zu erkundigen.

3.3 Nach der Praxis des Eidg. Versicherungsgerichts entschuldigt
Sprachunkenntnis die Fristversäumnis nicht. Wer einen Entscheid nicht
versteht, hat sich nach dessen Inhalt und Tragweite zu erkundigen (Urteile
vom 27. März 1991, publ. in ZAK 1991 S. 322 und Praxis 1991 Nr. 126 S. 597,
und vom 26. August 1981, publ. in ZAK 1982 S. 38). Nach der Rechtsprechung
des Bundesgerichts wäre es einer sprachunkundigen Frau zuzumuten gewesen,
innert der gesetzlichen Frist von 14 Tagen Einsprache gegen einen Strafbefehl
zu erheben. Da sie um die Bedeutung des Strafbefehls wusste, hätte sie sich
unverzüglich um eine Übersetzung kümmern müssen. Das kantonale Gericht war
auf die um 2 ? Wochen verspätete Einsprache nicht eingetreten (Urteil
1P.162/2005 vom 12. Mai 2005).

3.4 Die Ausführungen des Obergerichts entsprechen der dargestellten
Rechtsprechung. Aus dem angefochtenen Entscheid ergibt sich, dass der
Beschwerdeführer zwar keinen Verteidiger, aber einen Übersetzer hatte. Er
lebte damals seit rund zwei Jahren in der Schweiz, weshalb das Obergericht
von ersten Erfahrungen mit der hiesigen Kultur und Sprache ausgehen durfte.
Der Vorhalt, der Beschwerdeführer hätte sich nach Empfang des Strafbefehls
bei Verständnisschwierigkeiten bei den Behörden oder in seinem persönlichen
Umfeld erkundigen sollen, erscheint nicht übermässig streng. Allein der
Umstand, dass dem Beschwerdeführer nach kantonalem Recht ein amtlicher
Verteidiger zugestanden wäre, reicht für einen Anspruch auf
Fristwiederherstellung wegen Sprachunkenntnis nicht aus.

Das angefochtene Urteil verletzt kein Verfassungsrecht.

3.5 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Anspruchs auf
unentgeltliche Rechtspflege (Art. 29 Abs. 3 BV) hinsichtlich des Verfahrens
vor Obergericht. Die Ansicht des Obergerichts, das Wiederherstellungs- und
Beschwerdeverfahren sei von vornherein aussichtslos gewesen, ist indessen
nicht verfassungswidrig. Die Rüge geht fehl.

4.
Die Beschwerde ist abzuweisen.

Für das Verfahren vor Bundesgericht ersucht der Beschwerdeführer um
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. Dem Gesuch kann mangels
Erfolgsaussichten nicht stattgegeben werden (Art. 152 OG). Aufgrund der
besonderen Umstände des Einzelfalles ist aber auf die Erhebung einer
Gerichtsgebühr zu verzichten (Art. 154 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Es wird keine Gerichtsgebühr erhoben.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Untersuchungsrichteramt und dem
Obergericht des Kantons Schaffhausen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 3. Juli 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: