Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.19/2006
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1P.19/2006 /ggs

Beschluss vom 30. Mai 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Eusebio,
Gerichtsschreiber Härri.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Beat Gachnang,

gegen

Untersuchungsrichteramt des Kantons Luzern,
a.o. Untersuchungsrichter, Abteilung Organisierte Kriminalität,
Eichwilstrasse 2, Postfach, 6011 Kriens,
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Zentralstrasse 28, 6002 Luzern,
Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, Hirschengraben 16, 6002 Luzern.

Beschlagnahme,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid
des Obergerichts des Kantons Luzern, II. Kammer,
vom 27. Oktober 2005.
Sachverhalt:

A.
Im Zusammenhang mit einer Strafuntersuchung gegen X.________ wegen
Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz verfügte der Amtsstatthalter
von Hochdorf am 4. März und 7. April 2004 unter anderem die Durchsuchung von
verschiedenen Wohn- und Geschäftsräumen des Beschuldigten nach
deliktsrelevanten Beweismitteln (insbesondere Bestandteilen von Hanfpflanzen,
Bargeld, Gegenständen aller Art im Zusammenhang mit dem Anbau und Vertrieb
von Hanfpflanzen und deren Bestandteilen, Geschäfts- und Kontounterlagen,
Computeranlagen, Kommunikationsgeräten, Wertgegenständen und Fahrzeugen) und
die Beschlagnahme von dort gefundenen Gegenständen und Unterlagen, die als
Beweismittel, zur Einziehung oder zur Sicherung von Bussen und Kosten in
Frage kommen. In Ausführung dieser Verfügung versiegelte die Kantonspolizei
Luzern verschiedene Räumlichkeiten.

Mit Beschwerde vom 29. April 2004 betreffend Rechtsverweigerung und
Rechtsverzögerung an die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern beantragte
X.________, die in der gegen ihn geführten Strafsache geschlossenen
Räumlichkeiten, nämlich
A.________strasse ..., Luzern;
B.________strasse ..., Luzern;
C.________strasse ..., Littau;
D.________strasse ..., Reussbühl;
E.________strasse ..., Emmen
seien umgehend wieder freizugeben.

Am 2. Juni 2005 wies die Staatsanwaltschaft die Beschwerde ab, soweit sie
darauf eintrat.

Dagegen führte X.________ Beschwerde beim Obergericht des Kantons Luzern mit
dem Antrag, die Räumlichkeiten in Reussbühl und Emmen umgehend wieder
freizugeben. Mit Entscheid vom 27. Oktober 2005 wies das Obergericht die
Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat. Bereits zum Zeitpunkt des
obergerichtlichen Entscheids waren die Räumlichkeiten in Luzern und Littau
wieder freigegeben worden.

B.
Gegen den Entscheid des Obergerichtes erhob X.________ staatsrechtliche
Beschwerde mit dem Antrag, diesen aufzuheben.

Mit Verfügung vom 27. Februar 2006 wies der Präsident der I.
Öffentlichrechtlichen Abteilung das Gesuch um aufschiebende Wirkung ab.

Wie der zuständige ausserordentliche Untersuchungsbeamte des
Untersuchungsrichteramtes des Kantons Luzern dem Bundesgericht mit Schreiben
vom 25. April 2006 mitteilte, wurden gleichentags auch die Räume in Reussbühl
und Emmen wieder freigegeben.

Am 26. April 2006 teilte das Bundesgericht den Parteien mit, es nehme in
Aussicht, die staatsrechtliche Beschwerde in Anwendung von Art. 40 OG in
Verbindung mit Art. 72 BZP als gegenstandslos geworden am
Geschäftsverzeichnis abzuschreiben. Es gab den Parteien Gelegenheit, dazu
allfällige Bemerkungen einzureichen.

X. ________ und das Obergericht haben eine Stellungnahme eingereicht. Die
Staatsanwaltschaft hat auf Bemerkungen verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Beschwerdeführer anerkennt, dass er mit der Freigabe auch der
Räumlichkeiten in Reussbühl und Emmen kein aktuelles und praktisches
Interesse an der Behandlung der staatsrechtlichen Beschwerde mehr hat. Er
macht jedoch geltend, die Beschwerde sei trotzdem materiell zu behandeln.

Das Bundesgericht prüft Beschwerden materiell trotz Wegfalls des aktuellen
praktischen Interesses, wenn sich die aufgeworfenen Fragen jederzeit unter
gleichen oder ähnlichen Umständen wieder stellen können und an deren
Beantwortung wegen der grundsätzlichen Bedeutung ein hinreichendes
öffentliches Interesse besteht und sofern diese im Einzelfall kaum je
rechtzeitig verfassungsgerichtlich geprüft werden könnten (BGE 127 I 164 E.
1a mit Hinweisen).

Der Beschwerdeführer rügt - wie er in seiner Stellungnahme vom 2. Mai 2006
(act. 21) selber hervorhebt - in der staatsrechtlichen Beschwerde im
Wesentlichen, die Schliessung der Räumlichkeiten sei gesetzwidrig gewesen;
die Strafprozessordnung des Kantons Luzern sehe die Möglichkeit einer solchen
Schliessung nicht vor. Zudem macht er geltend, die von der Luzerner
Strafverfolgungsbehörden gemeinhin verwendeten Herausgabe-, Beschlagnahme-
und Hausdurchsuchungsverfügungen (hier: diejenigen vom 4. März und 7. April
2004) umfassten nicht das Recht zur vollständigen Schliessung von
Räumlichkeiten. Überdies rügt er einen Begründungsmangel der Verfügungen vom
4. März und 7. April 2004, weil darin von einer Schliessung von
Räumlichkeiten keine Rede sei.

Es kann offen bleiben, ob es sich bei den damit aufgeworfenen Fragen um
solche von grundsätzlicher Bedeutung handelt. Jedenfalls sind ohne weiteres
Fälle denkbar, in denen sich die Fragen in gleicher oder ähnlicher Weise
wieder stellen, die Versiegelung der Räumlichkeiten aber noch besteht. Es
kann deshalb nicht gesagt werden, das Bundesgericht könnte dazu kaum je
rechtzeitig Stellung nehmen. Damit sind die Voraussetzungen hier nicht
gegeben, unter denen das Bundesgericht ausnahmsweise trotz Wegfalls des
aktuellen praktischen Interesses eine Beschwerde materiell behandelt.

2.
Liegt das praktische Interesse im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung vor, fällt
es aber nachträglich weg, ist die Beschwerde gemäss Art. 40 OG in Verbindung
mit Art. 72 BZP als erledigt abzuschreiben (BGE 118 Ia 488 E. 1a). Danach
entscheidet das Gericht mit summarischer Begründung über die Prozesskosten
auf Grund der Sachlage vor Eintritt des Erledigungsgrundes. Bei der
Beurteilung der Kosten- und Entschädigungsfolgen ist somit in erster Linie
auf den mutmasslichen Ausgang des Prozesses abzustellen. Diese Regelung
bezweckt, denjenigen, der in guten Treuen Beschwerde erhoben hat, nicht im
Kostenpunkt dafür zu bestrafen, dass die Beschwerde infolge nachträglicher
Änderung der Umstände abzuschreiben ist, ohne dass ihm dies anzulasten wäre.
Bei der Prüfung des mutmasslichen Prozessausgangs ist nicht auf alle Rügen
einzeln und detailliert einzugehen. Vielmehr muss es bei einer knappen
Beurteilung der Aktenlage sein Bewenden haben (BGE 118 Ia 488 E. 4a S. 494 f.
mit Hinweisen).

Das Obergericht verweist im Zusammenhang mit der Versiegelung der
Räumlichkeiten auf § 114 f. StPO/LU, welche die Herausgabe und Beschlagnahme
von Gegenständen regeln. Bei summarischer Prüfung hätten diese Bestimmungen
für die Versiegelung wohl eine ausreichende gesetzliche Grundlage
dargestellt. Denn mit der Versiegelung wird eine Liegenschaft beschlagnahmt
(Gérard Piquerez, La saisie probatoire en procédure pénale, in: Festschrift
für Niklaus Schmid, Zürich 2001, S. 664 f. Fn. 19). Für einen einzelnen Raum
kann nichts anderes gelten.

Das Obergericht geht davon aus, die Verfügungen vom 4. März und 7. April 2004
umfassten nicht nur eine Hausdurchsuchung und Beschlagnahme von einzelnen
spezifizierten Gegenständen aus den Räumlichkeiten, sondern implizit auch
deren komplette Schliessung bzw. Versiegelung, soweit sie in der vorliegenden
Strafuntersuchung als Beweismittel dienen könnten. Diese Auffassung wäre
verfassungsrechtlich ebenfalls kaum zu beanstanden gewesen.

Auf die Rüge der angeblich mangelhaften Begründung der Verfügungen vom 4.
März und 7. April 2004 hätte wohl nicht eingetreten werden können. Wie das
Obergericht erwägt, hat es der Beschwerdeführer unterlassen, gegen die
Anordnung der Beschlagnahme zu rekurrieren. Es ist nicht ersichtlich,
inwiefern diese Ansicht verfassungswidrig sein sollte. Hat der
Beschwerdeführer die Rekursfrist ungenutzt verstreichen lassen, hat er kein
rechtliches Interesse an der Behandlung der Rüge.

Insgesamt enthält die staatsrechtliche Beschwerde - bei summarischer Prüfung
- kaum taugliche Rügen, weshalb sie mutmasslich abgewiesen worden wäre,
soweit darauf überhaupt hätte eingetreten werden können. Ebenso ist
anzunehmen, dass das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung
nach Art. 152 OG wegen Aussichtslosigkeit abgewiesen worden wäre. Von der
Mittellosigkeit des Beschwerdeführers ist allerdings auszugehen. Deshalb
hätte das Bundesgericht von der Auferlegung von Kosten wohl abgesehen.

Bei dieser Sachlage rechtfertigt es sich, die Beschwerde ohne Erhebung von
Kosten, aber auch ohne Ausrichtung einer Entschädigung am
Geschäftsverzeichnis abzuschreiben.

Demnach beschliesst das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird als gegenstandslos geworden am
Geschäftsverzeichnis abgeschrieben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben und es wird keine Entschädigung ausgerichtet.

3.
Dieser Beschluss wird dem Beschwerdeführer, dem a.o. Untersuchungsrichter des
Untersuchungsrichteramtes des Kantons Luzern, Abteilung Organisierte
Kriminalität, sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons
Luzern, II. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 30. Mai 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: