Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.181/2006
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{T 0/2}
1P.181/2006 /ggs

Urteil vom 22. Juni 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Störi.

XA.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Stefan Galligani,

gegen

Y.________, Polizeibeamter, Beschwerdegegner,
Bezirksamt Aarau, Laurenzenvorstadt 12, 5000 Aarau,
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen,
Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.

Strafverfahren; Einstellungverfügung,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 20. Februar 2006.
Sachverhalt:

A.
Am 17. Oktober 2003 nach 10 Uhr abends ging bei der Stadtpolizei Aarau die
Meldung ein, in der Wohnung von XA.________ und XB.________ sei seit Stunden
ein massiver, im ganzen Haus hörbarer Streit zwischen den Eheleuten im Gange.
Als die Polizeibeamten Z.________ und Y.________ an deren Wohnort eintrafen,
war kein Lärm mehr zu hören. Nach mehrmaligen Klingeln und Klopfen öffnete
XA.________ die Wohnungstüre. Die Beamten verlangten Zutritt zur Wohnung, um
sich zu vergewissern, ob XB.________ wohlauf sei. XA.________ verweigerte
dies, worauf sich der Gefreite Y.________ an ihm vorbeidrängte, um die
Wohnung nach der Ehefrau abzusuchen. In der Folge kam es zu einem Gerangel
zwischen dem erregten XA.________ und dem Polizeibeamten Z.________, in
welches der zurückkehrende Y.________ eingriff. Den beiden Beamten gelang es
schliesslich, den um sich schlagenden und spuckenden XA.________ zu
überwältigen; dabei wurde ihm - offenbar von Y.________ - der kleine Finger
der linken Hand gebrochen.

Am 17. bzw. am 28. Oktober 2003 beantragten Y.________ bzw. die Stadtpolizei
die Bestrafung von XA.________ wegen Beschimpfung und Sachbeschädigung.

Am 15. Dezember 2003 reichte XA.________ eine Strafanzeige wegen einfacher,
eventuell fahrlässiger Körperverletzung gegen Y.________ ein.

Mit Verfügung vom 9. Februar 2004 wurde das Verfahren gegen Y.________
eingestellt. Dieser Entscheid wurde am 9. Juni 2004 vom Obergericht
aufgehoben. Am 22. November 2005 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren
gegen Y.________ erneut ein.

Mit Strafbefehl vom 5. Dezember 2005 bestrafte das Bezirksamt Baden
XA.________ wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, Beschimpfung
und geringfügiger Sachbeschädigung mit einer Busse von 400 Franken.

Die Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts des Kantons Aargau wies
am 20. Februar 2006 die Beschwerde von XA.________ gegen die
Einstellungsverfügung vom 22. November 2005 ab.

B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 27. März 2006 beantragt XA.________, den
obergerichtlichen Entscheid aufzuheben und das Strafverfahren gegen
Y.________ fortzusetzen.

Bezirksamt, Obergericht und Staatsanwaltschaft verzichten auf Vernehmlassung.
Y.________ hat sich innert Frist nicht vernehmen lassen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Nach ständiger Praxis des Bundesgerichts ist der durch eine angeblich
strafbare Handlung Geschädigte grundsätzlich nicht legitimiert, gegen die
Einstellung des Strafverfahrens oder gegen ein den Angeschuldigten
freisprechendes Urteil staatsrechtliche Beschwerde zu erheben. Der
Geschädigte hat an der Verfolgung und Bestrafung des Angeschuldigten nur ein
tatsächliches oder mittelbares Interesse im Sinne der Rechtsprechung zu Art.
88 OG. Der Strafanspruch, um den es im Strafverfahren geht, steht
ausschliesslich dem Staat zu, und zwar unabhängig davon, ob der Geschädigte
als Privatstrafkläger auftritt oder die eingeklagte Handlung auf seinen
Antrag hin verfolgt wird (BGE 128 I 218 E. 1.1 mit Hinweisen). Unbekümmert um
die fehlende Legitimation in der Sache selbst ist der Geschädigte aber
befugt, mit staatsrechtlicher Beschwerde die Verletzung von Verfahrensrechten
geltend zu machen, deren Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung
darstellt. Das nach Art. 88 OG erforderliche rechtlich geschützte Interesse
ergibt sich diesfalls nicht aus einer Berechtigung in der Sache, sondern aus
der Berechtigung, am Verfahren teilzunehmen. Ist der Beschwerdeführer in
diesem Sinne nach kantonalem Recht Partei, kann er die Verletzung jener
Parteirechte rügen, die ihm nach dem kantonalen Verfahrensrecht oder
unmittelbar aufgrund der Bundesverfassung zustehen. Der in der Sache selbst
nicht Legitimierte, dem im kantonalen Verfahren jedoch Parteistellung zukam,
kann beispielsweise geltend machen, er sei nicht angehört worden (BGE 128 I
218 E. 1.1; 120 Ia 157 E. 2a/aa und bb). Soweit der Geschädigte indes Opfer
im Sinne von Art. 2 Abs. 1 OHG ist, steht ihm eine auf materiellrechtliche
Fragen erweiterte Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde zu, wenn er
sich bereits vorher am Verfahren beteiligt hat und soweit der Entscheid seine
Zivilansprüche betrifft oder sich auf deren Beurteilung auswirken kann (Art.
8 Abs. 1 lit. c OHG; BGE ; 128 I 218 E. 1.1; 120 Ia 101 E. 2a, 157 E. 2c).

1.2 Opfer i.S.v. Art. 2 Abs. 1 OHG ist jede Person, die durch eine Straftat
in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar
beeinträchtigt worden ist, unabhängig davon, ob der Täter ermittelt worden
ist und ob er sich schuldhaft verhalten hat.

Die Beeinträchtigung muss von einem gewissen Gewicht sein: Bagatelldelikte
wie zum Beispiel Tätlichkeiten, die nur unerhebliche Beeinträchtigungen
bewirken, sind daher vom Anwendungsbereich des OHG grundsätzlich ausgenommen
(BGE 120 Ia 157 E. 2d/aa und bb). Abzustellen ist dabei allerdings nicht auf
die strafrechtliche Qualifikation des Delikts. So kann etwa eine Tätlichkeit
die Opferstellung begründen, wenn sie zu einer nicht unerheblichen
psychischen Beeinträchtigung führt. Umgekehrt ist es denkbar, dass eine i.S.
des Opferhilfegesetzes unerhebliche Beeinträchtigung der körperlichen und
psychischen Integrität angenommen wird, obwohl der Eingriff strafrechtlich
als leichte Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 1 Abs. 2 StGB) zu qualifizieren
ist. Entscheidend ist, ob die Beeinträchtigung des Geschädigten in seiner
körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität das legitime Bedürfnis
begründet, die Hilfsangebote und die Schutzrechte des Opferhilfegesetzes -
ganz oder zumindest teilweise - in Anspruch zu nehmen (BGE 125 II 265 E.
2a/aa mit Hinweisen).

1.3 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung der von Art. 10 Abs. 2 BV
geschützten körperlichen Unversehrtheit, der von Art. 13 Abs. 1 BV, Art. 8
EMRK und Art. 17 UNO-Pakt II geschützten Achtung seiner Wohnung und des
Willkürverbotes von Art. 9 BV.

Zu derartigen Rügen in der Sache wäre der Beschwerdeführer als Geschädigter
nur dann ausnahmsweise befugt, wenn er Opfer im Sinne von Art. 2 OHG wäre.
Dies behauptet er indessen nicht einmal, geschweige denn, dass er es im
Einzelnen darlegen würde. Das genügt den Anforderungen an die Begründung
einer staatsrechtlichen Beschwerde von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG (BGE 127 I 38
E. 3c; 125 I 492 E. 1b; 122 I 70 E. 1c) nicht. Ist somit eine allfällige
Opfereigenschaft des Beschwerdeführers nicht dargetan, ist auf diese Rügen
mangels Legitimation nicht einzutreten.

Der Beschwerdeführer wäre im Übrigen ohnehin nicht als Opfer zu betrachten,
obwohl ihm bei der Auseinandersetzung der kleine Finger gebrochen wurde, was
als einfache Körperverletzung zu qualifizieren wäre. Nach seiner eigenen
Darstellung hat er mit seiner Ehefrau eine lautstarke, heftige
Auseinandersetzung geführt, wobei er auch Mobiliar zertrümmerte. Mit diesem
aggressiven, bis in die Nachbarwohnungen hörbarem Verhalten gab er den
ausrückenden Polizeibeamten Anlass, sich vom Wohlbefinden seiner Ehefrau zu
überzeugen. Indem er unter diesen Umständen zunächst versuchte, den
Polizeibeamten Y.________ am Betreten der Wohnung zu hindern und
anschliessend den zweiten Beamten am Kragen packte (Beschwerde S. 6 f), hat
er in zumindest höchst leichtfertiger Weise ein Handgemenge mit den beiden
Beamten provoziert. Dabei hat er sich mit Schlagen, Spucken, Reissen und
Beschimpfen zur Wehr gesetzt und dabei eine Verletzung in der Art und Schwere
erlitten, wie sie solche Auseinandersetzungen fast zwangsläufig mit sich
ziehen. Unter diesen Umständen vermag die relativ geringfügige Verletzung,
die der Beschwerdeführer erlitt, keineswegs ein legitimes Bedürfnis zu
begründen, die Hilfsangebote und die Schutzrechte des Opferhilfegesetzes in
Anspruch zu nehmen.

1.4 Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 29 Abs. 2 BV, wozu er
auch als Geschädigter an sich befugt ist.

Er führt aus (Beschwerde S. 17 f.), er sei nur nach seiner Festnahme von den
Polizeibeamten zur Sache einvernommen worden, auf eine weitere Befragung sei
verzichtet worden, obwohl das Obergericht zwischenzeitlich die Sache zur
Neubeurteilung ans Bezirksamt zurückgewiesen habe. Auch sei die einzige
Einvernahme ohne Dolmetscher erfolgt; da er die deutsche Sprache nur mit
grosser Mühe verstehen und sprechen könne, habe er das von ihm unterzeichnete
Einvernahmeprotokoll nicht verstanden. Ausserdem sei ihm eine ärztliche
Untersuchung seines gebrochenen Fingers erst nach der Einvernahme erlaubt
worden. Es sei daher davon auszugehen, dass sein rechtliches Gehör verletzt
worden sei.

Abgesehen davon, dass auch diese Rüge den Begründungsanforderungen von Art.
90 Abs. 1 lit. b OG kaum genügt, ist sie neu und damit unzulässig (Art. 86
Abs. 1 OG). In seiner Beschwerde ans Obergericht vom 22. Dezember 2005 machte
der Beschwerdeführer nicht geltend, seine aus Art. 29 Abs. 2 BV fliessenden
Verfahrensrechte seien in irgendeiner Weise verletzt worden. Auf die
Gehörsverweigerungsrüge ist nicht einzutreten.

2.
Auf die Beschwerde ist somit nicht einzutreten. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 156 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht

im Verfahren nach Art. 36a OG:

1.
Auf die staatsrechtliche Beschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bezirksamt Aarau sowie der
Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer
in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 22. Juni 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: