Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.151/2006
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1P.151/2006 /ggs

Urteil vom 31. März 2006

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Reeb,
Gerichtsschreiber Thönen.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Dieter Aebi,

gegen

Präsident der Strafkammer des Kantonsgerichts des Kantons St. Gallen,
Klosterhof 1, 9001 St. Gallen.

Frist zur Bezahlung der Einschreibgebühr,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid
des Präsidenten der Strafkammer des Kantonsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 13. Februar 2006.
Sachverhalt:

A.
Gegen X.________ (geb. 1964) wurde ein Verfahren wegen Widerhandlungen gegen
das Bundesgesetz über Glücksspiele und Spielbanken geführt. Der Einzelrichter
des Kreisgerichts Gaster-See sprach ihn am 14. September 2005 von diesem
Vorwurf frei. Er verurteilte den Bund zur Zahlung der Kosten des Verfahrens
sowie einer Parteientschädigung für die private Verteidigung von X.________,
letztere im Betrag von Fr. 4'000.--.

B.
X.________ beantragte mit Berufung an das Kantonsgericht St. Gallen die
Ausrichtung einer vollen Parteientschädigung. Mit Verfügung vom 5. Januar
2006 setzte ihm das Kantonsgericht St. Gallen eine Notfrist von 10 Tagen an,
um die Einschreibgebühr von Fr. 800.-- zu bezahlen. Die Frist endete am 16.
Januar 2006. Mit Gesuch vom 17. Januar 2006 beantragte X.________ die
Wiederherstellung bzw. nachträgliche Erstreckung der Zahlungsfrist, da er die
rechtzeitige Zahlung wegen Ferienabwesenheit versäumt habe. Das
Kantonsgericht wies am 13. Februar 2006 das Wiederherstellungsgesuch ab und
schrieb das Berufungsverfahren formlos ab.

C.
X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den Entscheid
des Kantonsgerichts aufzuheben und die Sache zur materiellen Behandlung
zurückzuweisen. Das Bundesgericht hat auf die Einholung von Vernehmlassungen
verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Beim angefochtenen Urteil handelt es sich um einen letztinstanzlichen
kantonalen Entscheid. Der Beschwerdeführer ist in seinen rechtlich
geschützten Interessen betroffen (Art. 88 OG) und macht die Verletzung
verfassungsmässiger Rechte geltend (Art. 84 Abs. 1 lit. a OG). Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, weshalb auf die Beschwerde - unter
Vorbehalt der folgenden Erwägungen - einzutreten ist.

2.
Die staatsrechtliche Beschwerde ist wegen Verletzung verfassungsmässiger
Rechte der Bürger zulässig (Art. 84 Abs. 1 lit. a OG). Der Beschwerdeführer
muss darlegen, welche verfassungsmässigen Rechte bzw. welche Rechtssätze und
inwiefern sie durch den angefochtenen Entscheid verletzt worden sind (Art. 90
Abs. 1 lit. b OG). Im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren prüft das
Bundesgericht nur klar und detailliert erhobene und, soweit möglich, belegte
Rügen. Auf ungenügend begründete Rügen und appellatorische Kritik am
angefochtenen Entscheid tritt es nicht ein (BGE 130 I 258 E. 1.3).

Der Beschwerdeführer kritisiert, die Frist zur Bezahlung der Einschreibgebühr
sei zu kurz; es sei verwirrend, dass das Kantonsgericht für die
Berufungsbegründung in einer separaten Verfügung eine andere Frist erlassen
habe; die Verfügungen seien von der Kanzleimitarbeiterin statt vom
Gerichtspräsidenten unterzeichnet worden; es sei dem Rechtsanwalt nicht
zuzumuten, die Berufungsbegründung auszuarbeiten, solange unklar sei, ob der
Klient die Einschreibgebühr bezahle; das kantonale Untersuchungsverfahren und
die Festsetzung der Parteientschädigung seien willkürlich gewesen. Da der
Beschwerdeführer im Zusammenhang mit diesen Vorbringen nicht aufzeigt, welche
verfassungsmässigen Rechte bzw. inwiefern sie durch den Entscheid des
Kantonsgerichts verletzt worden sein sollen, liegt appellatorische Kritik
vor, auf die nicht einzutreten ist.

3.
Die im angefochtenen Urteil zitierten Bestimmungen des kantonalen Rechts
lauten:
Art. 225 Abs. 1 und 2 Strafprozessgesetz des Kantons St. Gallen:
Wer ein Rechtsmittel einlegt, bezahlt die durch Verordnung bestimmte
Einschreibgebühr.
Wird die Einschreibgebühr trotz Ansetzung einer angemessenen Notfrist nicht
bezahlt, gilt das Rechtsmittel als nicht eingelegt.

Art. 85 Abs. 1 Gerichtsgesetz des Kantons St. Gallen:
Ein Vorladungstermin oder eine Frist wird wiederhergestellt, wenn der Säumige
ein unverschuldetes Hindernis als Ursache der Säumnis glaubhaft macht.

4.
Der Beschwerdeführer rügt, der angefochtene Entscheid verletze das Verbot des
überspitzten Formalismus. Das Kantonsgericht hätte ihm keine Notfrist
ansetzen dürfen, sondern zunächst eine ordentliche Zahlungsfrist für die
Einschreibgebühr gewähren müssen.

4.1 Das Kantonsgericht hat dem Beschwerdeführer nach Eingang der
Berufungserklärung eine Verfügung zugestellt, wonach die Einschreibgebühr von
Fr. 800.-- innert zehn Tagen zu überweisen ist, und ausgeführt: "Wir machen
Sie darauf aufmerksam, dass die Berufung als nicht eingelegt gilt, wenn die
Frist unbenützt abläuft. Diese Notfrist kann nur aus zwingenden Gründen
erstreckt werden." Der Sendung lag nach Angaben des Beschwerdeführers eine
Rechnung und ein Einzahlungsschein bei.

4.2 Das aus Art. 29 Abs. 1 BV (früher aus Art. 4 aBV) fliessende Verbot des
überspitzten Formalismus wendet sich gegen prozessuale Formenstrenge, die als
exzessiv erscheint, durch kein schutzwürdiges Interesse gerechtfertigt ist,
zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in
unhaltbarer Weise erschwert oder gar verhindert. Das Bundesgericht prüft
frei, ob eine solche Rechtsverweigerung vorliegt (BGE 130 V 177 E. 5.4.1 mit
Hinweisen).

Nach der Rechtsprechung sind prozessuale Formen unerlässlich, um die
ordnungsgemässe und rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die
Durchsetzung des materiellen Rechts zu gewährleisten; wird die Gültigkeit
eines Rechtsmittels kraft ausdrücklicher Vorschrift von der rechtzeitigen
Leistung eines Kostenvorschusses abhängig gemacht, so kann darin
grundsätzlich weder ein überspitzter Formalismus noch eine Verweigerung des
rechtlichen Gehörs erblickt werden. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die
Parteien über die Höhe des Vorschusses, die Zahlungsfrist und die Folgen der
Nichtleistung in angemessener Weise aufmerksam gemacht werden (BGE 96 I 521
E. 4).

4.3 Die Notfristverfügung vom 5. Januar 2006 erfüllt diese Erfordernisse: Sie
nennt den Betrag der Einschreibgebühr, die Zehntagesfrist und die Folge einer
Säumnis. Diese Fristansetzung genügt den verfassungsrechtlichen
Mindestanforderungen.

Aus den vom Beschwerdeführer zitierten Urteilen ergeben sich keine
weitergehenden Ansprüche: Sie betreffen Fälle, in denen die Fristansetzung
als solche nicht bewiesen war (BGE 129 I 8 E. 2.2, deutsch in Praxis 2003,
Seite 289) oder eine ungenügende Rechtsmittelbelehrung vorlag, so dass die
Partei die Kostenvorschusspflicht nicht kannte (BGE 95 I 1 Sachverhalt, lit.
B) oder nicht in angemessener Weise auf die Höhe des Vorschusses, die
Zahlungsfrist und die Folgen der Nichtleistung hingewiesen wurde (BGE 96 I
521 E. 4). Der vorliegende Fall liegt anders: Spätestens mit Empfang der
Notfristverfügung kannte der Beschwerdeführer die Pflicht zur Leistung der
Einschreibgebühr mitsamt allen Einzelheiten. Unter diesen Umständen ist es
nicht überspitzt formalistisch, dass das Kantonsgericht die Berufung wegen
unbenutzten Ablaufs der Zahlungsfrist formlos abgeschrieben hat.

Die Rüge ist unbegründet.

5.
Der Beschwerdeführer macht geltend, das Kantonsgericht habe ohne Kenntnis der
Sachlage und klar zu Unrecht dem - auch im Verfahren vor Bundesgericht
auftretenden - Anwalt unterstellt, er habe sich beim Beschwerdeführer nicht
über die Einhaltung der Frist versichert.

Soweit der Beschwerdeführer damit rügen will, die Abweisung des
Fristwiederherstellungsgesuchs verletze das Willkürverbot (Art. 9 BV), ist
Folgendes auszuführen:
5.1 Beruht der angefochtene Entscheid auf zwei voneinander unabhängigen
Begründungen, muss sich der Beschwerdeführer mit jeder von ihnen
auseinandersetzen und bezüglich jeder hinreichend dartun, dass der Entscheid
verfassungswidrig ist. Eine Beschwerdeschrift, die diese Voraussetzungen
nicht erfüllt, genügt den Begründungsanforderungen von Art. 90 Abs. 1 lit. b
OG nicht. Das Bundesgericht tritt in einem solchen Fall auf die Beschwerde
nicht ein (BGE 121 IV 94 E. 1a; Urteil 5P.64/2002 vom 13. März 2002 E. 2b,
publiziert in Praxis 2002, Seite 647).

5.2 Das Kantonsgericht führt im angefochtenen Urteil aus, die Frist könne
nicht wiederhergestellt werden, weil kein unverschuldetes Hindernis im Sinne
von Art. 85 Abs. 1 des kantonalen Gerichtsgesetzes vorliege. Schuldhaft habe
sich nicht nur der Anwalt, sondern auch der Beschwerdeführer selbst
verhalten, da dieser jenen nicht über die bevorstehende Ferienabwesenheit
orientiert habe, obwohl er mit einer Zahlungsaufforderung habe rechnen
müssen, nachdem er die Berufung erklärt hatte.

Auf die Rüge kann nicht eingetreten werden, weil der Beschwerdeführer nur das
Verschulden des Anwalts, nicht aber sein eigenes Verschulden bestreitet.
Damit bleiben die Ausführungen des Kantonsgerichts zum Verschulden des
Beschwerdeführers bestehen. Selbst wenn also der Einwand zuträfe, der Anwalt
sei schuldlos, bliebe die Abweisung des Fristwiederherstellungsgesuchs damit
begründet, dass der Beschwerdeführer selber kein unverschuldetes Hindernis
glaubhaft gemacht habe.

6.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.

Der Beschwerdeführer ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung. Dem Antrag kann nicht stattgegeben werden, da seine
Rechtsbegehren aussichtslos sind (Art. 152 Abs. 1 OG). Daher hat er die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht

im Verfahren nach Art. 36a OG:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Präsident der Strafkammer des
Kantonsgerichts des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 31. März 2006

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: