Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.104/2006
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1P.104/2006 /gij

Urteil vom 27. April 2006

I.  ffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter F raud, Pr sident,
Bundesrichter Nay, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber St ri.

Daniel Kettiger, Beschwerdef hrer,

gegen

Mario Annoni, Regierungsrat des Kantons Bern,  Beschwerdegegner,
Grosser Rat des Kantons Bern, Postgasse 68,
3000 Bern 8,
Regierungsrat des Kantons Bern, Postgasse 68,
3000 Bern 8.

Stimmrecht; Unvereinbarkeit des Regierungsratsmandates mit einer weiteren
lukrativen Besch ftigung,

Stimmrechtsbeschwerde gegen den Entscheid des Grossen Rats des Kantons Bern
vom 23. Januar 2006.

Sachverhalt:

A.
Mario Annoni ist Regierungsratspr sident des Kantons Bern; seine Amtsperiode
l uft am 31. Mai 2006 ab. Am 19. Oktober 2005 w hlte ihn der Bundesrat per 1.
Januar 2006 zum Pr sidenten des Stiftungsrates der Pro Helvetia. Nach
erkl rter Absicht nimmt Regierungsrat Annoni zwischen dem 1. Januar und dem
31. Mai 2006 beide Mandate wahr.

Am 24. Oktober 2005 reichte Daniel Kettiger beim Regierungsrat des Kantons
Bern eine Abstimmungsbeschwerde ein, mit welcher er beantragte, es sei
festzustellen, dass die gleichzeitige Aus bung dieser beiden  mter durch
Regierungsrat Annoni unvereinbar sei, und der Regierungsrat sei anzuweisen,
Regierungsrat Annoni aufzufordern, innert kurzer Frist mitzuteilen, f r
welches Amt er sich entscheide. Weiter verlangte er dessen Ausstand f r die
Instruktion seiner Beschwerde.

Mit Entscheid vom 23. Januar 2006 wies der Grosse Rat des Kantons Bern die
Wahlbeschwerde ab. Er erwog in der Sache, nach Art. 17 des Gesetzes  ber die
Organisation des Regierungsrates und der Verwaltung vom 20. Juni 1995
(Organisationsgesetz, OrG) sei - von hier nicht zutreffenden Ausnahmen
abgesehen - jede auch nur nebenamtliche T tigkeit, welche mit
wirtschaftlichen Interessen verbunden sein k nne, mit dem Amt eines
Regierungsrates unvereinbar. Das treffe f r das mit j hrlich rund 30'000
Franken entsch digte Amt des Stiftungsratspr sidenten der Pro Helvetia zu.
Entscheidend sei indessen, dass das Doppelmandat nur 5 Monate dauere. Aus der
Auslegung von Art. 17 OrG ergebe sich nichts  ber die Zul ssigkeit der
Aus bung des grunds tzlich unzul ssigen Doppelmandates w hrend einer
 bergangsfrist. Es liege aber auch kein qualifiziertes Schweigen des
Gesetzgebers vor, das dies ausschliesse. Es bestehe eine L cke, welche in
freier Rechtsfindung zu schliessen sei. Art. 17 OrG bezwecke,
Interessenkollisionen zu verhindern, weshalb mittel- und langfristige
Doppelmandate ausgeschlossen werden m ssten. Die Gew hrung einer kurzen,
zeitlich beschr nkten  bergangsfrist stehe dem Normzweck hingegen nicht
entgegen; allf lligen Interessenkollisionen k nne mit Ausstandsvorschriften
begegnet werden. Dies entspreche auch der Praxis: 1994 sei einer
Kammerschreiberin, die in den Grossen Rat gew hlt worden sei, eine
viermonatige  bergangsfrist gew hrt worden, ihre berufliche Situation neu zu
regeln, und dem in den St nderat gew hlten Regierungsrat Hans Lauri sei
ebenfalls eine viermonatige  bergangsfrist einger umt worden, um einen
reibungslosen  bergang der Regierungsgesch fte zu erm glichen. F r die
Gew hrung einer  bergangsfrist spreche zudem, dass bei der Verweigerung einer
solchen damit gerechnet werden m sste, dass sich Mario Annoni f r das
Stiftungsratspr sidium der Pro Helvetia entscheide und sein Amt als
Regierungsrat vorzeitig niederlege, was nicht im Sinne des Kantons sei.
Demzufolge sei es als zul ssig anzusehen, dass Mario Annoni w hrend 5 Monaten
beide Mandate aus be.

B.
Mit Stimmrechtsbeschwerde vom 21. Februar 2006 beantragt Daniel Kettiger,
diesen Entscheid wegen Verletzung des Stimmrechts aufzuheben.

Der Regierungsrat beantragt, die Beschwerde abzuweisen. Erziehungsdirektor
Annoni beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden
k nne; er bestreitet, dass Daniel Kettiger ein Rechtsschutzinteresse habe und
reicht daf r verschiedene Belege ein.

In seiner (unverlangten) Replik beantragt Daniel Kettiger, die Ausf hrungen
von Regierungsrat Annoni zu seinem Rechtsschutzinteresse und die Anh nge dazu
seien aus den Akten zu weisen.

Das Bundesgericht zieht in Erw gung:

1.
Als Stimmb rger des Kantons Bern hat der Beschwerdef hrer ohne weiteres ein
Rechtsschutzinteresse zur Erhebung einer Stimmrechtsbeschwerde gegen den
Entscheid des Grossen Rates (BGE 130 I 290 E. 1.2; 121 I 357 E. 2a). Die
Ausf hrungen von Regierungsrat Annoni zum angeblich fehlenden bzw. nicht
schutzw rdigen Rechtsschutzinteresse des Beschwerdef hrers und damit auch die
von ihm dazu eingereichten Belege sind daher f r die Beurteilung der
vorliegenden Stimmrechtsbeschwerde irrelevant. Sie sind nicht geeignet, die
gerichtliche Entscheidfindung zu beeinflussen, weshalb offen bleiben kann, ob
sie entsprechend dem Antrag des Beschwerdef hrers "aus den Akten zu weisen"
w ren.

2.
Im angefochtenen Entscheid bewilligt der Grosse Rat Regierungsrat Annoni f r
die f nf letzten Monate seiner Amtszeit, neben seinem Exekutivamt eine
weitere berufliche T tigkeit auszu ben, was nach Art. 17 OrG, wie ihn der
Grosse Rat selber versteht, grunds tzlich ausgeschlossen ist, aber im Sinne
einer  bergangsregelung zul ssig sein soll.

2.1 Gem ss Art. 85 lit. a OG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden
betreffend die politische Stimmberechtigung der B rgerinnen und B rger. Die
politische Stimmberechtigung umfasst unter anderem das aktive und passive
Wahlrecht. Mit Stimmrechtsbeschwerde kann die Verletzung s mtlicher im
Zusammenhang mit den politischen Rechten stehenden Vorschriften ger gt werden
(BGE 123 I 97 E. 1b/aa; 120 Ia 194 E. 1b). Ein Anfechtungsobjekt wird in Art.
85 lit. a OG - anders als in Art. 84 Abs. 1 OG f r die staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung verfassungsm ssiger Rechte - nicht genannt. Mit
Stimmrechtsbeschwerde sind kantonale Erlasse anfechtbar, die das Stimm- und
Wahlrecht regeln, ebenso wie Verletzungen von Normen, die den Inhalt des
aktiven Stimm- und Wahlrechts als auch des passiven Wahlrechts umschreiben.
Auch W hlbarkeits- und Unvereinbarkeitsbestimmungen z hlen zum von Art. 85
lit. a OG erfassten Schutzbereich der politischen Rechte (BGE 123 I 97 E. 1;
119 Ia 167 E. 1). Dass auch Unvereinbarkeitsbestimmungen dazu geh ren, ist
darin begr ndet, dass sie die gleichen Wirkungen erzielen k nnen wie
Vorschriften  ber die Unw hlbarkeit. Das Stimmrecht schliesst nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichts den Anspruch ein, dass die durch das Volk
gew hlten Beh rden nicht mit Personen besetzt werden, welche ein bestimmtes
Amt aufgrund einer Unvereinbarkeit nicht  bernehmen d rfen (BGE 116 Ia 242
E.1a, 477 E. 1a; 114 Ia 395 E. 3b). In BGE 128 I 34 E. 1d hat das
Bundesgericht dazu ausgef hrt, eine als W hlbarkeitsvoraussetzung
ausgestaltete Wohnsitzpflicht betreffe ohne weiteres das Stimm- und
Wahlrecht; das Gleiche m sse gelten, wenn sie rechtlich anders ausgestaltet
sei, aber faktisch eine Nichtw hlbarkeit bewirke. Eine gleichermassen
differenzierte Eintretenspraxis verfolgt das Bundesgericht in Bezug auf
Ausstandsregelungen f r Parlamentarier: Solange sie die klassischen
Ausstandsgr nde wie Eigeninteressen, Verwandtschaft etc. regeln, betreffen
sie das Stimmrecht nicht unmittelbar und k nnen dementsprechend nicht mit
Stimmrechtsbeschwerde angefochten werden. Werden die Ausstandsgr nde indessen
dar ber hinaus ausgedehnt und bestimmte Parlamentariergruppen (z.B. kantonale
Beamte) von der Mitbestimmung  ber bestimmte Sachgesch fte (z.B.
personalrechtliche Angelegenheiten) generell ausgeschlossen, liegt eine
partielle Unvereinbarkeit vor, welche den aus dem Stimmrecht fliessenden
Grundsatz des gleichen Wahlrechts tangiert. Der Stimmb rger kann zwar
ungehindert w hlen, doch kommt sein Wahlwille nicht zum Durchbruch, weil der
von ihm gew hlte Parlamentarier an bestimmten Parlamentsabstimmungen nicht
teilnehmen kann, was eine Frage des Stimmrechts ist, die dem Bundesgericht
mit Stimmrechtsbeschwerde unterbreitet werden kann (BGE 123 I 97 E. 1 mit
Hinweisen, 125 Ia 289 nicht ver ff. E. 1a).

Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass die Verletzung von
Unvereinbarkeitsbestimmungen nur dann und soweit mit Stimmrechtsbeschwerde
ger gt werden kann, als sie sich faktisch wie die Verletzung einer
W hlbarkeitsvorschrift auswirkt.

2.2 Art. 17 OrG ist unbestrittenermassen als Unvereinbarkeitsbestimmung
ausgestaltet, es wird von keiner Seite behauptet, Regierungsrat Annoni habe
mit dem Antritt seines Amtes als Stiftungsratspr sident der Pro Helvetia
seine W hlbarkeit verloren. W re das Verbot von lukrativen
Nebenbesch ftigungen als (negative) W hlbarkeitsvoraussetzung ausgestaltet,
so w re das Regierungsratsmandat Annonis wohl ohne weiteres auf den 1. Januar
2006 dahingefallen (so jedenfalls Yvo Hangartner/Andreas Kley, Die
demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen
Eidgenossenschaft, Z rich 2000, Rz. 634, f r den Verlust einer
W hlbarkeitsvoraussetzung eines Nationalrats; das Bundesgericht hat sich
allerdings, soweit ersichtlich, noch nie zu den Rechtsfolgen des Verlustes
einer W hlbarkeitsvoraussetzung ge ussert).

2.3 Zur Diskussion steht somit die Verletzung einer
Unvereinbarkeitsbestimmung, die das Bundesgericht auf Stimmrechtsbeschwerde
hin pr ft, wenn sie sich faktisch wie die Verletzung einer
W hlbarkeitsbestimmung auswirkt. Dies w re nach dem angef hrten BGE 128 I 34
ohne weiteres dann der Fall, wenn ein Regierungsrat gew hlt und ins Amt
eingesetzt w rde, der eine mit wirtschaftlichen Interessen verbundene
Nebenbesch ftigung nicht aufgeben, sondern auf Dauer weiterf hrt. Vorliegend
geht es indessen nicht um eine derartige Konstellation, sondern "nur" darum,
ob einem langj hrigen Regierungsrat gestattet werden kann, im Hinblick auf
das weitere berufliche Fortkommen im Sinne einer  bergangsl sung f r eine
begrenzte Zeit vor seinem Ausscheiden aus dem Amt eine Nebenbesch ftigung von
bescheidenem Umfang auszu ben.  hnlich wie eine klassische Ausstandsfrage -
ob etwa ein Regierungsrat wegen Eigeninteresses oder Vorbefassung in einer
bestimmten Angelegenheit in den Ausstand zu treten habe oder nicht - betrifft
dies in erster Linie die Amtsf hrung des Regierungsrates und w re vom Grossen
Rat allenfalls aufsichtsrechtlich zu kl ren (Art. 78 der Verfassung des
Kantons Bern vom 6. Juni 1993). Das Stimmrecht hingegen ist, wenn  berhaupt,
h chstens am Rand betroffen. Es besteht kein hinreichend enger
Sachzusammenhang zwischen der angefochtenen Regelung und dem Stimmrecht;
dieses ist nicht unmittelbar ber hrt, weshalb es sich nicht rechtfertigt, auf
die Stimmrechtsbeschwerde einzutreten.

3.
Praxisgem ss sind bei einer Stimmrechtsbeschwerde keine Kosten zu erheben.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Auf die Stimmrechtsbeschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Grossen Rat und dem Regierungsrat des
Kantons Bern schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 27. April 2006

Im Namen der I.  ffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Pr sident:  Der Gerichtsschreiber: