Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 450/2004
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U 450/04

Urteil vom 9. Juni 2005
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Kernen;
Gerichtsschreiber Fessler

H.________, 1956, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Christoph
Frey, Genferstrasse 24, 8027 Zürich,

gegen

Zürich Versicherungs-Gesellschaft, Rechtsdienst, Generaldirektion Schweiz,
8085 Zürich, Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 28. Oktober 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1956 geborene H.________ arbeitete seit 9. Juni 1980 als kaufmännischer
Angestellter in der Firma G.________ AG. Er war bei der Zürich
Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Zürich) gegen die gesundheitlichen
und erwerblichen Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen sowie
Berufskrankheiten obligatorisch versichert. Am 18. August 2000 liess sich
H.________ zahnärztlich behandeln. U.a. wurde am Zahn 24 eine grössere
Compositfüllung im Sinne eines Aufbaues gemacht. Dazu wurde eine Matrize
verwendet. Ebenfalls wurde eine Anästhesie gelegt. Beim Entfernen der Matrize
war das Zahnfleisch um den gefüllten Zahn weiss. Trotz sofortiger Spülung mit
einer Kochsalzlösung schwand in der Folge das Zahnfleisch im Bereich um den
Zahn 24 um rund 3-4 mm.

Am 24. Juli 2001 meldete die Firma die Zahnbehandlung vom 18. August 2000 als
Unfall. Zur Abklärung ihrer Leistungspflicht holte die Zürich bei med. dent.
O.________ Auskunft über den Ablauf der Behandlung und die verwendeten
Materialien ein (Bericht vom 15. November 2001). Hiezu nahm der vom
Unfallversicherer beigezogene Dr. med. dent. I.________ Stellung (Bericht vom
24. Januar 2002). Auf Ersuchen des Rechtsvertreters von H.________ liess die
Zürich den Versicherten durch Prof. Dr. med. dent. S.________, Leiter der
Klinik P.________, begutachten (Expertise vom 7. Oktober 2002).

Mit Verfügung vom 10. Februar 2003 verneinte die Zürich eine Leistungspflicht
für die Schädigung des Zahnfleisches. Zur Begründung führte sie aus, aus den
Erläuterungen des Prof. Dr. med. dent. S.________ im Gutachten vom 7. Oktober
2002 sei zu schliessen, dass der zahnärztliche Eingriff am Zahn 24 vom 18.
August 2000 nicht vom medizinisch Üblichen abgewichen sei. Es fehle somit das
für einen Unfall im Rechtssinne erforderliche Merkmal der Ungewöhnlichkeit
des äusseren Faktors. Ebenfalls sei keine unfallähnliche Körperschädigung
gegeben. Mit Einspracheentscheid vom 27. August 2003 hielt die Zürich an
ihrem Standpunkt fest.

B.
Die Beschwerde des H.________ wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich mit Entscheid vom 28. Oktober 2004 ab.

C.
H.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und es seien ihm die
gesetzlichen Leistungen zu gewähren.

Die Zürich beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig und zu prüfen ist, ob der zahnärztliche Eingriff am Zahn 24 (Legen
einer Compositfüllung im Sinne eines Aufbaus) vom 18. August 2000 einen
Unfall im Sinne von alt Art. 9 Abs. 1 UVV (in Kraft gewesen bis 31. Dezember
2002) darstellt. Ausser Frage steht, dass die Schädigung des Zahnfleisches
(Schwund von 3-4 mm im Bereich um den Zahn 24) keine unfallähnliche
Körperschädigung nach Art. 9 Abs. 2 UVV darstellt.

2.
Im angefochtenen Entscheid werden die Grundsätze, wann ein ärztlicher
Eingriff einen Unfall im Rechtssinne darstellt, insbesondere das
Begriffsmerkmal der Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors gegeben ist,
zutreffend dargelegt (vgl. BGE 121 V 38 Erw. 1b und RKUV 2003 Nr. U 492 S.
372 Erw. 2.3, 1988 Nr. U 36 S. 45 ff. Erw. 3a und b). Darauf wird verwiesen.

Art. 4 des am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Bundesgesetzes vom 6.
Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
zum Unfallbegriff kommt entgegen dem kantonalen Gericht vorliegend nicht zur
Anwendung (BGE 130 V 332 f. Erw. 2.2 und 2.3, 129 V 4 Erw. 1.2, 127 V 467
Erw. 1). Diese Feststellung ist allerdings insofern nicht von Bedeutung, als
Art. 4 ATSG inhaltlich mit alt Art. 9 Abs. 1 UVV übereinstimmt und die hiezu
ergangene Rechtsprechung weiterhin Gültigkeit hat (SVR 2005 UV Nr. 2 S. 4
Erw. 1.2; Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, S. 56 ff. Rz 1 und 4 ff.).

3.
Das kantonale Gericht hat das Merkmal der Ungewöhnlichkeit des äusseren
Faktors bei dem am 18. August 2000 durchgeführten zahnärztlichen Eingriff am
Zahn 24 (Legen einer Compositfüllung im Sinne eines Aufbaus) verneint. Zur
Begründung führt die Vorinstanz aus, die Ursache der Gewebeschädigung
(Zahnfleischschwund von 3-4 mm zirkulär im Bereich um den Zahn 24) sei nicht
mehr mit Sicherheit bestimmbar. Med. dent. O.________ und Dr. med. dent.
I.________ gingen von einer Durchblutungsstörung im Rahmen einer lege artis
erfolgten Behandlung aus. Laut Prof. S.________ sei eine starke Verätzung
wahrscheinlich; da die Füllung ohne Schutz durch einen Kofferdamm (über die
zu behandelnden Zähne gebrachtes Gummitüchlein) gelegt worden sei, sei eine
Verätzung durch Säure oder Primer vorstellbar. Sinngemäss erwägt die
Vorinstanz weiter, zwar sei nach den Qualitätsrichtlinien der Schweizerischen
Zahnärzte-Gesellschaft (SSO) und den Empfehlungen aller Universitätsinstitute
der Schweiz beim Legen von Compositfüllungen ein Kofferdamm zu verwenden.
Insofern entspreche diese Vorkehr dem medizinisch Üblichen. Das gelte laut
Gutachter indessen nur, wenn die Verwendung eines Kofferdamms überhaupt
möglich sei. Prof. S.________ äussere sich nicht dazu, wie es sich
diesbezüglich im konkreten Fall verhalte. Dieser Punkt könne aber offen
bleiben. So oder anders könne das Gutachten vom 7. Oktober 2002 nicht
dahingehend gewürdigt werden, die Nichtverwendung eines Kofferdamms weiche
unter den gegebenen Umständen vom medizinisch Üblichen ganz erheblich ab. Der
Experte spreche denn auch von einer «nicht 100%ig lege artis» erfolgten
Behandlung sowie davon, dass das Risiko durch das Legen des Kofferdamms hätte
vermindert werden können. Daraus ergebe sich zwar eine Abweichung vom
medizinisch Üblichen, welche jedoch nicht die geforderte Erheblichkeit
aufweise. Nachdem Prof. S.________ in seiner Gesamtbeurteilung festhalte, es
sei ein Ereignis eingetreten, welches in diesem Ausmass nicht vorhersehbar
gewesen sei, könne auch nicht gesagt werden, die Zahnbehandlung ohne
Verwendung des Kofferdamms habe, objektiv betrachtet, entsprechend grosse
Risiken in sich geschlossen. Sodann könnten eine grobe und ausserordentliche
Verwechslung und Ungeschicklichkeit oder eine absichtliche Schädigung ohne
weiteres ausgeschlossen werden. Der Eingriff am Zahn 24 im Rahmen der
zahnmedizinischen Behandlung vom 18. August 2000 enthalte somit keine
Verhaltensweisen, die als ungewöhnlicher äusserer Faktor gelten könnten.
Somit sei kein Unfall im Rechtssinne gegeben.

4.
4.1 Entgegen dem kantonalen Gericht erlaubt das Gutachten des Prof. S.________
vom 7. Oktober 2002 nicht die abschliessende Beurteilung der Rechtsfrage, ob
in der Vorgehensweise des med. dent. O.________ beim Aufbau des Zahns 24 mit
einer Compositfüllung eine unfallversicherungsrechtlich bedeutsame, ganz
erhebliche Abweichung vom medizinisch Üblichen zu erblicken und in Bezug auf
diesen Eingriff daher die Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors zu bejahen
ist. Insbesondere kann aus der für die Vorinstanz entscheidenden Aussage des
Experten, es sei ein Ereignis eingetreten, welches in diesem Ausmass nicht
vorhersehbar gewesen sei, nicht gefolgert werden, die Zahnbehandlung ohne
Verwendung des Kofferdamms habe, objektiv betrachtet, nicht entsprechend
grosse Risiken in sich geschlossen. Die Nichtvorhersehbarkeit bezieht sich
auf das Ausmass und die Irreversibilität der Verletzung und nicht bloss auf
den Zahnfleischschwund als solchen. Dass die Gewebeschädigung offenbar auch
für den Gutachter sehr stark war, ist nicht von Belang. Das Begriffsmerkmal
der Ungewöhnlichkeit bezieht sich definitionsgemäss nicht auf die Wirkung des
äusseren Faktors, sondern nur auf diesen selber (BGE 129 V 180 Erw. 2.1 in
fine, 121 V 38 Erw. 2b; RKUV 2003 Nr. U 492 S. 372 Erw. 2.2). Ob das
Nichtanlegen eines Kofferdamms notwendigerweise zu einer Schädigung des
Zahnfleisches der vorliegenden Art führt, ist im Übrigen nicht entscheidend
dafür, dass im Einzelfall die Unterlassung dieser Vorkehr einen
ungewöhnlichen äusseren Faktor darstellt oder nicht.

4.2 Es stellen sich u.a. etwa folgende Fragen:
- Entspricht die Verwendung eines Kofferdamms beim Legen einer
Compositfüllung im Sinne des Aufbaues eines Zahnes allgemein anerkannter und
auch angewendeter Praxis? Welche Bedeutung kommt den von Prof. S.________
erwähnten SSO-Qualitätsrichtlinien und Empfehlungen der Universitätsinstitute
der Schweiz zu? Stellt die Nichtverwendung eines Kofferdamms im Allgemeinen
eine erhebliche Abweichung vom medizinisch Üblichen dar?
Besteht erfahrungsgemäss ein Risiko des irreversiblen Zahnfleischschwundes
ohne das Anlegen eines Kofferdammes beim Legen einer Compositfüllung im Sinne
des Zahnaufbaus?

- War im konkreten Fall die Verwendung eines Kofferdamms beim Legen der
Compositfüllung für den Aufbau von Zahn 24 möglich gewesen? Wenn ja, wäre bei
Anlegen eines Kofferdamms sicher, wahrscheinlich oder möglicherweise das
Zahnfleisch nicht verletzt oder zumindest nicht irreversibel geschädigt
worden?
Sind Umstände gegeben, welche die Gefahr einer solchen Gewebeschädigung
erhöhten?

- Inwiefern begünstigte oder ermöglichte die von Prof. S.________ als
unüblich bezeichnete Anästhesie eine irreversible Schädigung des
Zahnfleisches der eingetretenen Art? Wozu genau diente die Anästhesie? Stellt
eine Anästhesie beim Legen einer Compositfüllung im Sinne des Aufbaues eines
Zahnes eine erhebliche Abweichung vom medizinisch Üblichen dar?
- Was war die Ursache dafür, dass das Zahnfleisch sich weiss verfärbte?
Stellte die sofortige Spülung mit einer Kochsalzlösung die üblicherweise
angewendete Methode zur Verhinderung eines allfälligen Zahnfleischschwundes
dar oder wich diese Massnahme erheblich von der medizinischen Praxis ab?

- Weicht die Vorgehensweise des med. dent. O.________ beim Legen der
Compositfüllung für den Aufbau von Zahn 24 unter den gegebenen Umständen
erheblich vom medizinisch Üblichen ab?
4.3 Der Unfallversicherer wird einem anerkannten Zahnmediziner, allenfalls
Prof. Dr. med. dent. S.________, die vorstehenden Fragen zur gutachterlichen
Klärung vorzulegen haben und danach erneut darüber verfügen, ob in Bezug auf
den am 18. August 2000 durchgeführten Eingriff am Zahn 24 das Merkmal der
Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors gegeben ist. In diesem Sinne ist die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde begründet und verletzt der angefochtene
Entscheid Bundesrecht.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer Anspruch auf
Parteientschädigung (Art. 159 OG in Verbindung mit Art. 132 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 28. Oktober
2004 und der Einspracheentscheid vom 27. August 2003 aufgehoben und die Sache
an die Zürich Versicherungs-Gesellschaft zurückgewiesen, damit sie im Sinne
der Erwägungen verfahre.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Zürich Versicherungs-Gesellschaft hat dem Beschwerdeführer für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung (einschliesslich Mehrwertsteuer) von Fr. 2500.- zu
bezahlen.

4.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hat über die
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 9. Juni 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: