Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 441/2004
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U 441/04

Urteil vom 13. Juni 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiberin Bollinger

Vaudoise Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft, Place de Milan, 1007
Lausanne, Beschwerdeführerin,

gegen

F.________, 1939, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwältin Marina
Kreutzmann, Bellerivestrasse 59, 8008 Zürich,

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 8. November 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1939 geborene, seit 1986 als Lagerist bei der Firma X.________
angestellte F.________ ist aufgrund seines Arbeitsverhältnisses bei der
Vaudoise Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft, Lausanne (im Folgenden:
Vaudoise), obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen versichert. Am 19.
August 2003 erlitt er bei der Arbeit ein Verhebetrauma. Kurz darauf, am 31.
August 2003, wollte er auf einer Gebirgswanderung ein verletztes Schaf
bergen. Dabei verspürte er plötzlich einen heftigen Schmerz gegen Becken und
Oberschenkel sowie im Bein. Die daraufhin durchgeführten Untersuchungen
ergaben eine grosse luxierte Diskushernie auf der Höhe L4/5.

Mit Verfügung vom 6. Oktober 2003 verneinte die Vaudoise ihre
Leistungspflicht, da das Ereignis vom 31. August 2003 rechtlich nicht als
Unfall zu werten sei. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 3. Februar
2004 fest.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich am 8. November 2004 gut.

C.
Die Vaudoise führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt die Aufhebung
des vorinstanzlichen Entscheides.

F. ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen.
Die Alba Versicherung, Basel, als UVG-Zusatzversicherer beantragt sinngemäss
die Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Mit Eingabe vom 15. März
2005 reicht die Vaudoise ergänzende Bemerkungen zu den Akten.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Vorinstanz legt die massgeblichen Rechtsgrundlagen bezüglich des
Unfallbegriffs (Art. 4 ATSG), insbesondere die Rechtsprechung zur
Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors (vgl. etwa BGE 121 V 38 Erw. 1a, ZBJV
132/1996, S. 489 mit Hinweisen) zutreffend dar. Richtig sind weiter auch die
Ausführungen zum natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem
Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod;
BGE 129 V 181 Erw. 3 mit Hinweisen). Korrekt ist schliesslich, dass es einer
medizinischen Erfahrungstatsache im Bereich des Unfallversicherungsrechts
entspricht, dass praktisch alle Diskushernien bei Vorliegen degenerativer
Bandscheibenveränderungen entstehen und ein Unfallereignis nur ausnahmsweise,
unter besonderen Voraussetzungen, als Unfallursache in Betracht fällt (RKUV
2000 Nr. U 379 S. 192; Erw. 3.1 hienach).

Wie das Eidgenössische Versicherungsgericht in RKUV 2004 Nr. U 530 S. 576
erwog, bringt der redaktionell neu gefasste Unfallbegriff des Art. 4 ATSG
keine materiellrechtliche Änderung, weshalb die zum alten Recht ergangene
Rechtsprechung weiterhin zu berücksichtigen ist.

2.
Streitig ist, ob die Beschwerdeführerin für die Folgen der im Anschluss an
das Geschehen vom 31. August 2003 festgestellten Diskushernie aufzukommen
hat.

2.1
2.1.1Das kantonale Gericht erwog, da die Beschwerden sofort nach der akuten
Belastung der Bandscheiben eingetreten seien und im entsprechenden Segment
der Wirbelsäule keine wesentlichen degenerativen Veränderungen vorbestanden
hätten, seien die in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien zur Annahme
einer traumatisch bedingten Diskushernie erfüllt. Sowohl die Kraftaufwendung
als auch der Umstand, dass das verletzte Schaf die Rettung nicht ruhig und
gelassen über sich habe ergehen lassen, seien ungewöhnlich. Indem der
Versicherte in Sekundenschnelle auf die Bewegungen des Tieres habe reagieren
müssen, liege ein ungewöhnlicher äusserer Faktor, wenigstens im Sinne eines
Grenzfalles vor. Selbst wenn bereits der Vorfall vom 19. August 2003 zu einem
beginnenden Anulusriss geführt hätte, ändere dies nichts daran, dass das
Geschehen vom 31. August 2003 eine wesentliche Teilursache der
gesundheitlichen Beeinträchtigungen sei.

2.1.2 Demgegenüber bringt die Vaudoise vor, nach den zutreffenden Erwägungen
des kantonalen Gerichts sei das Aufheben einer Last von rund 50 kg für einen
Lageristen nicht aussergewöhnlich, auch habe der Versicherte mit einer
Gegenwehr des Schafes rechnen müssen, weshalb diese ebenso wenig als
aussergewöhnlich angesehen werden könne. Damit werde eine der kumulativen
Voraussetzungen des Unfallbegriffs nicht erfüllt, so dass ihrerseits keine
Leistungspflicht bestehe. Daran ändere nichts, dass Ausmass und Zielrichtung
der Bewegungen des Tieres nicht voraussehbar gewesen seien, zumal es sich von
selbst verstehe, dass mit der Gegenwehr des verletzten, sich seit mehreren
Monaten auf einer Alp befindlichen Schafes zu rechnen gewesen sei. Im Übrigen
sei auch die Unfallkausalität der Beschwerden nicht mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit dargelegt und daher zu verneinen.

2.2 Der Beschwerdeführerin ist darin zuzustimmen, dass der Versicherte mit
einer Abwehr des Schafes rechnen musste, umso mehr, als sich das Tier seit
mehreren Monaten auf einer Alp befand und damit naturgemäss wenig Kontakt mit
Menschen hatte. Indessen kann der ungewöhnliche äussere Faktor, welcher dem
Unfallbegriff inhärent ist, auch darin bestehen, dass eine Körperbewegung
"programmwidrig" beeinflusst worden ist. Der auf diese Weise unkoordinierte
Bewegungsablauf stellt dann den ungewöhnlichen äusseren Faktor dar. Genau
dies trifft vorliegend zu: Der Versicherte verletzte sich beim Bergen des
Schafes, als sich dieses heftig wehrte. Durch diese Abwehr wurde der
natürliche Ablauf der Körperbewegung programmwidrig beeinflusst, worin die
Ungewöhnlichkeit des Geschehens liegt. Dass mit einer heftigen Gegenwehr des
Tieres zu rechnen war, ändert nichts daran, dass diese zu einer
unvorhersehbaren Beeinträchtigung des Bewegungsablaufs führte, welcher der
Beschwerdegegner ausgesetzt war und von der er nicht voraussehen konnte, wie
sie sich auf den natürlichen Bewegungsablauf auswirken würde. Es verhält sich
diesbezüglich ähnlich wie bei einem Bandencheck im Eishockeyspiel (Urteil B.
vom 30. Dezember 2003, U 172/03), oder bei einem Fussballspieler, dessen Knie
verdreht wurde, als ihm ein Gegenspieler in die Beine grätschte (RKUV 1993
Nr. U 165 S. 58), oder beim unvermuteten Einsacken eines schwergewichtigen
Patienten, als er von einer Krankenschwester vom Bett auf den Rollstuhl
transferiert wurde (RKUV 1994 Nr. U 185 S. 79). Damit ist der Unfallbegriff
in Übereinstimmung mit der vorinstanzlichen Auffassung erfüllt.

3.
Zu prüfen ist im Weitern die Kausalität zwischen dem Unfall und der
Gesundheitsschädigung.

3.1 Nach der Rechtsprechung kann eine Diskushernie als weitgehend
unfallbedingt betrachtet werden, wenn das Unfallereignis von besonderer
Schwere und geeignet war, eine Schädigung der Bandscheibe herbeizuführen.
Vorausgesetzt wird weiter, dass die Symptome der Diskushernie (vertebrales
oder radikuläres Syndrom) unverzüglich und mit sofortiger Arbeitsunfähigkeit
auftreten (vgl. Urteil K. vom 3. Januar 2005, U 332/03 mit Hinweisen; Erw. 1
hievor). Ein Unfall ist nur in Ausnahmefällen geeignet, eine
Bandscheibenverletzung hervorzurufen, zumal eine gesunde Bandscheibe derart
widerstandsfähig ist, dass unter Gewalteinwirkung eher die Wirbelknochen
brechen, als dass die Bandscheibe verletzt würde (vgl. das bereits zitierte
Urteil K. vom 3. Januar 2005, U 332/03, mit Hinweis auf Günter G. Mollowitz
[Herausgeber], Der Unfallmann, Berlin/Heidelberg 1993, S. 165). Im
medizinischen Versuch konnte die isolierte Verletzung einer Bandscheibe durch
einen Unfall lediglich bei rein axialer Belastung der Wirbelsäule, nicht aber
bei Rotations-, Hyperextensions- oder Hyperflexionsbewegungen herbeigeführt
werden (Mollowitz, a.a.O.).

Bezüglich der Verschlimmerung eines vorbestehenden Gesundheitsschadens gelten
dieselben Kriterien, was dazu führt, dass eine Unfallkausalität nur
ausnahmsweise und insbesondere nur dann in Frage kommt, wenn der Unfall auch
geeignet gewesen wäre, eine gesunde Bandscheibe zu verletzen.

3.2 Aus den Akten ergibt sich, dass der Versicherte bis zum ersten
Verhebetrauma vom 19. August 2003 völlig beschwerdefrei war. Der behandelnde
Dr. med. R.________, Orthopädische Chirurgie FMH, führte mit Scheiben vom 16.
Oktober 2003 aus, der "anfangs August" (d.h. am 19. August 2003) bei der
Arbeit verspürte Stich im Bein könne möglicherweise als beginnender
Anulusriss interpretiert werden. In einer gebückten Haltung mit Torsions- und
Rotationsbewegungen, wie sie der Versicherte beim Bergen des Schafes wohl
ausgeführt habe, sei es durchaus möglich, einen vielleicht asymptomatischen,
aber leicht vorgeschädigten Anulus fibrosus vollständig zu ruptieren und eine
grössere Diskushernie zu produzieren.

Selbst wenn die röntgenologische Untersuchung "eigentlich keine wesentlichen
degenerativen Veränderungen" im betreffenden Segment ergeben hatte (Schreiben
des Dr. med. R.________ vom 16. Oktober 2003) und die Schmerzen nach dem 19.
August 2003 wieder soweit zurückgingen, dass der Versicherte sich - als
erfahrener Berggänger - die Gebirgstour vom 31. August 2003 und insbesondere
auch die Bergung des verletzten Schafes zutraute, ist das Bestehen eines
pathologischen Vorzustandes infolge des (den Unfallbegriff
unbestrittenermassen nicht erfüllenden) Ereignisses vom 19. August 2003
anzunehmen, wie dies im Übrigen auch aus dem Schreiben des Dr. med.
R.________ vom 16. Oktober 2003 hervorgeht. Zwar kann davon ausgegangen
werden, dass der Unfall vom 31. August 2003 die behandlungsbedürftige
Diskushernie ausgelöst hat und insoweit die natürliche Kausalität gegeben
ist. Jedoch war der - nach den zutreffenden Ausführungen der
Beschwerdeführerin als nicht besonders schwer einzustufende - Vorfall vom 31.
August 2003 nicht geeignet, eine gesunde Bandscheibe zu schädigen, umso
weniger, als die Wirbelsäule des Versicherten nach Lage der Akten nicht einer
rein axialen Belastung, sondern Torsions- und Rotationsbewegungen ausgesetzt
war (Schreiben des Dr. med. R.________ vom 16. Oktober 2003). Damit aber
fehlt es an der erforderlichen Kausalität zwischen dem Unfall vom 31. August
2003 und der in der Folge festgestellten Diskushernie, weshalb die
Beschwerdeführerin ihre Leistungspflicht im Ergebnis zu Recht verneinte.
Soweit Dr. med. R.________ von einer traumatisch bedingten Diskushernie
ausgeht und damit die (natürliche) Kausalität bejaht, kann aus seinen
Ausführungen schon deshalb keine Leistungspflicht der Beschwerdeführerin
abgeleitet werden, weil er nicht klar zwischen den Auswirkungen des
Ereignisses vom 19. August 2003 und desjenigen vom 31. August 2003
unterscheidet, stattdessen aber wiederholt auf die Beschwerdefreiheit vor dem
ersten Ereignis vom 19. August 2003 hinweist. Im Übrigen erklärt der Arzt
lediglich, es sei durchaus möglich, dass der Unfall vom 31. August 2003 einen
vorgeschädigten Anulus fibrosus vollständig ruptiert und eine grössere
Diskushernie herbeigeführt habe. Dass der Unfall auch eine gesunde
Bandscheibe geschädigt hätte - was zur Bejahung der Kausalität erforderlich
wäre (Erw. 3.1 hievor) - lässt sich seinem Schreiben vom 16. Oktober 2003
aber nicht entnehmen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich vom 8. November 2004
aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) und der Alba Versicherung
zugestellt.

Luzern, 13. Juni 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: