Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 410/2004
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Prozess {T 7}
U 410/04

Urteil vom 3. November 2006

I. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Ferrari, Ursprung, Bundesrichterin
Widmer und Bundesrichter Frésard; Gerichtsschreiberin Hofer

B.________, 1955, Ulmenstrasse 11, 4563 Gerlafingen, Beschwerdeführer,
vertreten durch Fürsprecher Dr. Charles Wick, Schwanengasse 8, 3011 Bern,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Beschluss vom 12. Oktober 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1955 geborene B.________ war seit Juni 1992 in der J.________ AG als
Dachdecker angestellt und damit bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Berufs- und
Nichtberufsunfällen versichert. Am 5. September 2001 verletzte er sich bei
einem Sturz von der Leiter an der linken Schulter. Die SUVA kam für die
Folgen dieses Unfalles auf und erbrachte die gesetzlichen Leistungen. Mit
Schreiben vom 13. Oktober 2003 ersuchte der Versi-cherte um Durchführung
einer orthopädischen Begutachtung, mit welcher vorzugsweise eine
Universitätsklinik zu beauftragen sei. Die SUVA lehnte dies am 27. Oktober
2003 ab mit der Begründung, im Bürgerspital X.________, der Rehaklinik
Y.________, dem Universitätsspital Z.________ und durch verschiedene
Kreisärzte seien orthopädische Untersuchungen vorgenommen worden, welche
übereinstimmend zum Ergebnis geführt hätten, dass die geklagten Beschwerden
nicht nachvollziehbar seien. Am 12. November 2003 verlangte B.________ erneut
eine medizinische Begutachtung und im ablehnenden Fall eine anfechtbare
Verfügung. Mit Verfügung vom 26. November 2003 eröffnete ihm die SUVA, dass
eine weitere Begutachtung nicht notwendig sei. Entsprechend der
Rechtsmittelbelehrung liess der Versicherte am 17. Dezember 2003 dagegen
Einsprache erheben. Mit Einspracheentscheid vom 1. März 2004 trat die SUVA
auf die Einsprache nicht ein mit der Begründung, es bestehe kein
schutzwürdiges Interesse an der Überprüfung der angefochtenen Verfügung.

B.
Beschwerdeweise liess B.________ geltend machen, die SUVA sei anzuweisen, das
beantragte Gutachten einzuholen. Mit Entscheid vom 12. Oktober 2004 wies das
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn die Beschwerde ab, soweit es
darauf eintrat.

C.
B.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, der
vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und die SUVA sei anzuweisen, die
Einsprache materiell zu behandeln.

Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde richtet sich gegen den Entscheid des
kantonalen Versicherungsgerichts, welches den Nichteintretensentscheid der
SUVA vom 1. März 2004 schützte.

1.1 Das kantonale Gericht hat erwogen, die Versicherungsträger seien nicht
verpflichtet, die gegen die Verweigerung einer beantragten medizinischen
Begutachtung erhobenen Einwendungen der versicherten Person in Verfügungsform
zurückzuweisen. Vor Erlass der Leistungsverfügung mangle es am
Rechtsschutzinteresse hinsichtlich der Beurteilung der Frage, ob eine weitere
medizinische Begutachtung notwendig sei. Die Rüge der ungenügenden Abklärung
des medizinischen Sachverhalts könne erst nach Erlass der Leistungsverfügung
einsprache- oder beschwerdeweise vorgebracht werden. Die SUVA sei daher zu
Recht auf die Einsprache nicht eingetreten.

1.2 Dem hält der Beschwerdeführer entgegen, die Verweigerung der Durchführung
eines Gutachtens habe stets in Verfügungsform zu ergehen. Dies entspreche
auch der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts, wie sie
insbesondere in SVR 2002 UV Nr. 10 S. 29 (Urteil S. vom 30. November 2001, U
338/99) zum Ausdruck komme.

2.
Am 1. Januar 2003 sind das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 und die dazugehörige
Verordnung vom 11. September 2002 in Kraft getreten. Dieses Gesetz
koordiniert das Sozialversicherungsrecht des Bundes, indem es u.a. ein
einheitliches Sozialversicherungsverfahren festlegt und die Rechtspflege
regelt (Art. 1 Ingress und lit. b ATSG). Seine Bestimmungen sind auf die
bundesrechtlich geregelten Sozialversicherungen anwendbar, wenn und soweit
die einzelnen Sozialversicherungsgesetze es vorsehen (Art. 2 ATSG). Nach Art.
1 Abs. 1 Abs. 1 UVG sind die Bestimmungen des ATSG anwendbar, soweit das
Unfallversicherungsgesetz nicht ausdrücklich eine Abweichung vorsieht.

3.
Gemäss Art. 43 Abs. 1 Satz 1 ATSG prüft der Versicherungsträger die Begehren,
nimmt die notwendigen Abklärungen von Amtes wegen vor und holt die
erforderlichen Auskünfte ein. Laut Satz 1 derselben Bestimmung sind mündlich
erteilte Auskünfte schriftlich festzuhalten. Im Rahmen der Beweiswürdigung
ist das Beweismaterial zu gewichten und sodann zu entscheiden, welche
medizinischen Unterlagen allenfalls noch beizuziehen und welche Abklärungen
noch zu treffen sind. Beweise sind indessen nur über jene Tatsachen
abzunehmen, die für die Entscheidung der Streitsache erheblich sind. Auf
weitere Beweisvorkehren kann auch dann verzichtet werden, wenn der
Sachverhalt, den eine Partei beweisen will, nicht rechtserheblich ist, wenn
bereits Feststehendes bewiesen werden soll, wenn von vornherein gewiss ist,
dass der angebotene Beweis keine Abklärungen herbeizuführen vermag, oder wenn
die Behörde den Sachverhalt gestützt auf ihre eigene Sachkenntnis oder jene
ihrer fachkundigen Beamten zu würdigen vermag. Die versicherte Person hat von
Bundesrechts wegen keinen formellen Anspruch auf Beizug eines
versicherungsexternen Gutachtens, wenn Leistungsansprüche streitig sind.
Erachtet der Sozialversicherer die rechtserheblichen tatsächlichen
Entscheidungsgrundlagen bei pflichtgemässer Beweiswürdigung als schlüssig,
darf er das Abklärungsverfahren ohne Weiterungen, insbesondere ohne Beizug
eines medizinischen Gutachtens, abschliessen (BGE 122 V 162 Erw. 1d).

4.
4.1 Laut Art. 49 Abs. 1 ATSG hat der Versicherungsträger über Leistungen,
Forderungen und Anordnungen, die erheblich sind oder mit denen die betroffene
Person nicht einverstanden ist, schriftlich Verfügungen zu erlassen. Gegen
Verfügungen kann nach Art. 52 Abs. 1 ATSG innerhalb von 30 Tagen bei der
verfügenden Stelle Einsprache erhoben werden; davon ausgenommen sind prozess-
und verfahrensleitende Verfügungen. Gegen Einspracheentscheide oder
Verfügungen, gegen welche eine Einsprache ausgeschlossen ist, kann gemäss
Art. 56 Abs. 1 ATSG Beschwerde erhoben werden.

4.2 Auch unter der Herrschaft des ATSG bildet im System der nachträglichen
Verwaltungsrechtspflege der Erlass einer Verfügung unabdingbare
Sachurteilsvoraussetzung im nachfolgenden Verwaltungs- und
Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren, ohne die auf ein Rechtsmittel nicht
eingetreten werden darf. Der Begriff der Verfügung bestimmt sich dabei
mangels näherer Konkretisierung in Art. 49 Abs. 1 ATSG nach Massgabe von Art.
5 Abs. 1 VwVG (vgl. Art. 55 ATSG; BGE 132 V 98 Erw. 3.2 mit Hinweisen). Bei
den in Art. 52 Abs. 1 2. Satzteil ATSG erwähnten prozess- und
verfahrensleitenden Verfügungen handelt es sich um Zwischenverfügungen (BGE
131 V 46 Erw. 2.4). Wann Zwischenverfügungen zu erlassen sind, wird im ATSG
nicht geregelt. Da sich der Verfügungsbegriff unter der Herrschaft des ATSG
nach Massgabe von Art. 5 Abs. 1 VwVG definiert und Art. 55 Abs. 1 ATSG auf
das Verwaltungsverfahrensgesetz verweist, soweit die in den Art. 27 bis 54
ATSG oder in den Einzelgesetzen enthaltenen Verfahrensbereiche nicht
abschliessend geregelt sind, ist bezüglich dieser Frage auf das VwVG
zurückzugreifen (BGE 132 V 106 Erw. 6.1).
4.3 Zu den Verfügungen gemäss Art. 5 Abs. 2 VwVG gehören Zwischenverfügungen
im Sinne von Art. 45 VwVG, insbesondere über die Ablehnung von
Beweisanerbieten (Art. 45 Abs. 2 lit. f VwVG). Weder das ATSG noch das
gestützt auf Art. 55 Abs. 1 ATSG anwendbare VwVG schreiben jedoch den Erlass
einer Zwischenverfügung zwingend vor, wenn einem Antrag auf Einholung eines
medizinischen Gutachtens nicht entsprochen wird. Aus Art. 45 Abs. 1 und Abs.
2 lit. f VwVG ergibt sich lediglich, dass Zwischenverfügungen über die
Ablehnung von Beweisanerbieten selbstständig anfechtbar sind, wenn sie einen
nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können.  Dies schliesst
indessen nicht aus, dass der Versicherungsträger zusammen mit der
Endverfügung über das Leistungsbegehren darüber befindet, ob die beantragte
Expertise erforderlich und voraussichtlich geeignet ist, etwas zur Abklärung
des medizinischen Sachverhalts beizutragen. Ein solches Vorgehen dürfte in
der Praxis aufgrund des im Hinblick auf eine beförderliche Behandlung der
Leistungsgesuche im Abklärungsverfahren geltende Beschleunigungsgebot in im
Zeitpunkt des Beweisantrages bereits liquiden Fällen die Regel sein.

5.
5.1 Erlässt der Sozialversicherer jedoch wie hier die SUVA mit der Verfügung
vom 26. November 2003 in einem der Endverfügung vorangehenden Verfahren eine
Zwischenverfügung zur Frage, ob der beantragten medizinischen Begutachtung
stattzugeben sei, ist diese selbstständig anfechtbar, wenn sie einen nicht
wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 55 Abs. 1 ATSG in
Verbindung mit Art. 45 Abs. 1 und Abs. 2 lit. f VwVG).

5.2 Die Voraussetzung des nicht wieder gutzumachenden Nachteils muss auch
erfüllt sein für die Anfechtung von Zwischenverfügungen über die Ablehnung
von Beweisanerbieten, woran nichts ändert, dass diese in Art. 45 Abs. 2 lit.
f OG ausdrücklich erwähnt sind (grundlegend BGE 98 Ib 283 Erw. 3; vgl. auch
BGE 127 II 136 Erw. 2a, 122 II 213 Erw. 1c, je mit Hinweisen). Mit der
Beschränkung der Anfechtbarkeit von Zwischenverfügungen soll verhindert
werden, dass die Gerichte Anordnungen überprüfen müssen, die durch einen
günstigen Endentscheid für die betroffene Person jeden Nachteil verlieren;
die Gerichte sollen sich in der Regel nur einmal mit einer bestimmten
Streitsache befassen müssen (BGE 116 Ib 344 347 Erw. 2c). Dafür, ob ein
Gericht schon vor Abschluss des Verfahrens soll angerufen werden können, sind
insbesondere auch Überlegungen der Prozessökonomie und der Zweckmässigkeit
von Bedeutung. Dabei ist eine separate Anfechtung nicht für jede Art von
Zwischenverfügungen gerechtfertigt. Zwischenverfügungen über die
(umstrittene) Zuständigkeit einer Instanz oder über Ausstandsbegehren sollen
grundsätzlich selbstständig angefochten werden können (Urteil X. vom 17. März
2005, 2A. 149/2005, mit Hinweis auf Art. 87 Abs. 1 OG für das Verfahren der
staatsrechtlichen Beschwerde, wo ansonsten die Anfechtung von
Zwischenverfügungen nur mit grosser Zurückhaltung zugelassen wird). Anders
verhält es sich bei Zwischenverfügungen über die Ablehnung von
Beweisanträgen. Ob mit einem solchen Entscheid das rechtliche Gehör verletzt
wird, hängt im Wesentlichen von einer antizipierten Beweiswürdigung ab, was
letztlich bereits eine recht weitgehende Auseinandersetzung mit den im
Hinblick auf den Endentscheid massgebenden Fragen erfordert (vgl. BGE 98 Ib
286 Erw. 3). Mit einer Anfechtung soll darum regelmässig bis zum Vorliegen
des Endentscheids zugewartet werden. Dies ist der betroffenen Person umso
mehr zumutbar, als es auch ihr leichter fällt, bei Kenntnis der vollständigen
Erwägungen des Endentscheids wirksam die zur Ablehnung des Beweisantrages
führende antizipierende Beweiswürdigung zu beanstanden. Nach der
Rechtsprechung ist daher die Beschwerde gegen Beweisanträge ablehnende
Zwischenverfügungen unabhängig von der Endverfügung nur zulässig, wenn die
Beweise gefährdet erscheinen und sie erhebliche, bisher noch nicht geklärte
Umstände betreffen (ZAK 1988 S. 524; Urteil S. vom 29. November 2005,
I 757/05).

6.
6.1 Es besteht kein Grund zur Annahme, die vom Beschwerdeführer
vorgeschlagenen Beweiserhebungen seien gefährdet, etwa durch eine wesentliche
Änderung des Gesundheitszustandes. Der Versicherte macht keine Gründe
geltend, noch sind solche aufgrund der Akten ersichtlich, die eine sofortige
Ergänzung der verschiedenen von der SUVA eingeholten medizinischen Unterlagen
nahe legen würde. Zudem kann die Weigerung, ein medizinisches Gutachten
anzuordnen, auch noch in einem gegen die Verfügung über das Leistungsbegehren
gerichteten Rechtsmittel geltend gemacht werden. Somit fehlt es an einem
nicht wieder gutzumachenden Nachteil an der Anfechtbarkeit der
Zwischenverfügung vom 26. November 2003.

6.2 Da gegen prozess- und verfahrensleitende Verfügungen keine
Einsprachemöglichkeit gegeben ist (Art. 52 Abs. 1 Satz 2 ATSG), hätte darüber
nicht die SUVA, sondern gestützt auf Art. 56 Abs. 1 ATSG das kantonale
Sozialversicherungsgericht befinden müssen. Daran ändert die auf Einsprache
lautende Rechtsmittelbelehrung in der Verfügung vom 26. November 2003 nichts.
Eine falsche Rechtsmittelbelehrung vermag eine nicht vorgesehene
Rechtsmittelzuständigkeit nicht zu begründen (BGE 92 I 77 Erw. 2a; 129 III 89
Erw. 2.1; 129 IV 200 Erw. 1.5; ZAK 1985 S. 234 Erw. 2). Zur Beurteilung der
Frage, ob ein nicht wieder gutzumachender Nachteil gegen sei, war die SUVA
somit nicht zuständig. Sie hätte daher die Eingabe vom 17. Dezember 2003 als
Beschwerde an das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn überweisen und
das Nichteintreten damit begründen müssen, dass gar keine
Einsprachemöglichkeit gegeben sei. Das kantonale Gericht seinerseits hätte
die Eingabe vom 17. Dezember 2003 in der Folge als Beschwerde behandeln
müssen und darauf mangels eines nicht wieder gutzumachenden Nachteils nicht
eintreten dürfen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. Dispositiv-Ziffer 1 des
Entscheids des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 12. Oktober
2004 wird aufgehoben mit der Feststellung, dass auf die Beschwerde vom 17.
Dezember 2003 nicht einzutreten und der Einspracheentscheid vom 1. März 2004
aufzuheben ist.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 3. November 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der I. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: