Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 407/2004
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U 407/04

Urteil vom 9. Mai 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber
Attinger

B.________, 1951, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Hanspeter
Riedener, Langstrasse 4, 8004 Zürich, dieser substituiert durch lic.iur.
Peter Bolzli, Langstrasse 4, 8004 Zürich,

gegen

Zürich Versicherungs-Gesellschaft, Rechtsdienst, Generaldirektion Schweiz,
8085 Zürich, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Peter Jäger,
c/o Anwaltsbüro Waldvogel, Am Schanzengraben 27, 8039 Zürich

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 30. September 2004)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 27. November 2002 und Einspracheentscheid vom 27. März 2003
stellte die Zürich Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Zürich) ihre
Heilbehandlungsleistungen zugunsten der 1951 geborenen B.________ rückwirkend
auf den 15. Februar 2001 hin ein, weil zwischen den Beschwerden der
Versicherten und der am 22. November 1995 bei einer Auffahrkollision
erlittenen Distorsion der Halswirbelsäule (HWS) kein adäquater
Kausalzusammenhang (mehr) bestehe.

B.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die gegen den
Einspracheentscheid erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 30. September 2004
ab.

C.
B.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag,
"ausgehend von einem 100%igen Invaliditätsgrad (seien ihr) die gesetzlichen
Leistungen gemäss UVG, insbesondere die Heilungskosten, eine Rente und eine
Integritätsentschädigung zuzusprechen"; eventuell sei die Sache "zwecks
Einholung eines neuropsychologischen und eines psychiatrischen Gutachtens und
anschliessender Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen". Überdies
lässt B.________ um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne der
unentgeltlichen Verbeiständung ersuchen.

Während die Zürich auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst,
verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Unter sämtlichen Verfahrensbeteiligten ist unbestritten, dass der für die
Leistungspflicht des Unfallversicherers zunächst vorausgesetzte natürliche
Kausalzusammenhang (BGE 129 V 181 Erw. 3.1, 406 Erw. 4.3.1, je mit Hinweisen)
zwischen dem am 22. November 1995 erlittenen Verkehrsunfall und den über
Mitte Februar 2001 hinaus anhaltenden Beschwerden (Kopf- und Nackenschmerzen,
Schwindel, Konzentrationsstörung, Übelkeit, rasche Ermüdbarkeit,
Sehstörungen) im Sinne einer Teilkausalität gegeben ist.
Die Vorinstanz hat sodann im angefochtenen Entscheid die Rechtsprechung zum
für die Leistungspflicht des Unfallversicherers weiter vorausgesetzten
adäquaten Kausalzusammenhang zwischen einem Unfall mit Schleudertrauma der
HWS ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle und den hernach andauernden
Beschwerden mit allfälliger Einschränkung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit
(BGE 117 V 359) zutreffend wiedergegeben. Hierauf wird verwiesen.

2.
2.1 Auf Grund des augenfälligen Geschehensablaufs und der erlittenen
Verletzungen ist der Autounfall vom 22. November 1995 dem Bereich der
mittelschweren Unfälle und innerhalb dieses Rahmens eher den leichteren
Unfällen zuzuordnen (vgl. RKUV 2003 Nr. U 489 S. 360 Erw. 4.2 am Anfang; SZS
2001 S. 432-434). Entgegen der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
vertretenen Auffassung rechtfertigt der Umstand, dass der Personenwagen der
Beschwerdeführerin durch den Aufprall in das vor ihr stehende Fahrzeug
geschoben wurde, bei objektiver Betrachtungsweise und unter Berücksichtigung
der gesamten Verhältnisse keine andere Beurteilung (vgl. Urteile C. vom 15.
März 2003, U 380/04, und G. vom 6. November 2002, U 99/01). Für die Bejahung
der adäquaten Kausalität wäre daher erforderlich, dass zumindest ein
einzelnes unfallbezogenes Kriterium in besonders ausgeprägter Weise erfüllt
ist oder dass die praxisgemäss zu berücksichtigenden Merkmale in gehäufter
oder auffallender Weise gegeben sind (BGE 117 V 367 Erw. 6b, 384 Erw. 4c, 115
V 140 Erw. 6c/bb, 409 Erw. 5c/bb).

2.2 Der Unfall ereignete sich bei objektiver Betrachtung weder unter
besonders dramatischen Begleitumständen, noch war er durch eine besondere
Eindrücklichkeit gekennzeichnet. Ferner kann schon allein im Hinblick darauf,
dass die Versicherte erst am sechsten Tag nach dem Unfallereignis ihren
Hausarzt Dr. J.________ aufsuchte und in den folgenden Jahren von keinem der
behandelnden oder untersuchenden Ärzte je arbeitsunfähig geschrieben wurde
(vgl. hiezu die nachfolgenden Ausführungen unter Erw. 2.5), weder von einer
schweren noch von einer im Hinblick auf die in Frage stehende
Adäquanzbeurteilung besonders gearteten Verletzung gesprochen werden. Für
eine ärztliche Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen erheblich
verschlimmert hätte, fehlen jegliche Hinweise.

2.3 Des Weitern kann insofern nicht von einer ungewöhnlich langen Dauer einer
ärztlichen Behandlung gesprochen werden, als bereits der Hausarzt "auf
spezielle therapeutische Massnahmen verzichtet(e)", weil "in den (auf die
Erstbehandlung vom 28. November 1995) folgenden Wochen nur geringe
Beschwerden beklagt wurden und die zu Beginn deutliche
Bewegungseinschränkung, insbesondere der kranialen und zervikosakralen
Segmente rückläufig war" (Überweisungsschreiben Dr. J.________s an PD Dr.
L.________, Spezialarzt für Orthopädische Chirurgie, vom 6. Juni 1996). Auch
der ab 18. Juni 1996 behandelnde PD Dr. L.________ führte lediglich (zum Teil
mit erheblichen zeitlichen Unterbrüchen) Verlaufskontrollen durch und
verschrieb gelegentlich ambulante Physiotherapie; im Wesentlichen wurde
indessen die physikalische Therapie durch ein von der Beschwerdeführerin in
einem Fitnesscenter selbstständig durchgeführtes Krafttraining ersetzt. Das
Adäquanzkriterium einer spezifischen, zielgerichteten ärztlichen Behandlung
von ungewöhnlich langer Dauer muss daher verneint werden.

2.4 Auch Dauerbeschwerden können insofern nicht bejaht werden, als die im
Vordergrund stehenden Beeinträchtigungen im Entwicklungsverlauf des
Beschwerdebilds und/oder im gewöhnlichen Tagesablauf nicht durchgehend
vorhanden waren/sind. So treten die Nackenbeschwerden mit zeitweiligem
Einschlafen beider Arme im Liegen und die Kopfschmerzen unterschiedlich oft
(episodenartig) auf (Bericht des Schadensinspektors der Zürich vom 9. Februar
2000 sowie vertrauensärztlicher Bericht des Orthopädischen Chirurgen Dr.
R.________, Klinik H.________, vom 14. Juli 2000). Der in den medizinischen
Akten eineinhalb Jahre nach dem Unfallereignis erstmals verzeichnete, vor
allem bei Wärme auftretende schwer erfassbare Schwindel wurde anlässlich der
Untersuchung durch den Neurologen Prof. Dr. W.________ vom 1. Juli 2002 nicht
mehr erwähnt. Laut den damaligen Angaben der Versicherten gegenüber Prof. Dr.
W.________ tritt ein- bis zweimal pro Monat Übelkeit auf, während Dr.
R.________ im Bericht vom 14. Juli 2000 noch "oftmals Nausea" vermerkt hatte;
vor der letztgenannten Stellungnahme war Übelkeit - mit Ausnahme des
Arztzeugnisses über die Unfallerstversorgung vom 28. November 1995 - in den
medizinischen Unterlagen nie ein Thema. Ebenso erwähnte die
Beschwerdeführerin einzig anlässlich der Untersuchung bei Dr. R.________,
d.h. erst viereinhalb Jahre nach dem versicherten Unfall
Konzentrationsstörungen.

2.5 Zumindest bis zum Einspracheentscheid vom 27. März 2003 bescheinigte
keiner der erwähnten behandelnden oder untersuchenden Ärzte eine auf den
Verkehrsunfall vom 22. November 1995 zurückzuführende Arbeitsunfähigkeit.
Entgegen den Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beschränken sich
die Angaben der Orthopädischen Klinik A.________ im Arztbericht vom 7. März
2000 offensichtlich auf die vor dem Unfallereignis durchgeführte ambulante
Behandlung wegen akuten Lumbalgien; nach dem Unfall hat die Versicherte die
Klinik A.________ nicht mehr aufgesucht. Die im vorinstanzlichen Verfahren
nachgereichte Stellungnahme des Hausarztes Dr. J.________ vom 30. Juni 2003,
wonach vom Unfalldatum an "zumindest bis Ende Mai 1996 (letzte Konsultation
bei mir in dieser Angelegenheit)" eine vollständige Arbeitsunfähigkeit
bestanden habe, steht im Widerspruch zu seinen eigenen Angaben in den
früheren Arztberichten vom 30. November 1995 (in welchem er eine
Arbeitsunfähigkeit ausdrücklich verneinte) und vom 6. Juni 1996. Im
letztgenannten Bericht wies der Hausarzt unter der Rubrik
"Arbeitsunfähigkeit" auf die Arbeitslosigkeit der Beschwerdeführerin und ihre
gegenwärtige "Teilnahme an einem Weiterbildungsprogramm" hin, ohne
diesbezüglich eine Beeinträchtigung der funktionellen Leistungsfähigkeit zu
bescheinigen. Wenn die Versicherte aber damals im Rahmen der im Februar 1996
begonnenen Vollzeitausbildung zur Erlangung des Sekretariatsdiploms nicht
eingeschränkt war, muss dies auch für die Tätigkeit einer Arztsekretärin
gelten, wie sie sie vor Eintritt der Arbeitslosigkeit (ohne entsprechendes
Diplom) ausgeübt hatte. Weil die Finanzierung dieser Ausbildung mittels
Taggelder der Arbeitslosenversicherung ab anfangs Oktober 1996 (Ablauf der
zweijährigen Rahmenfrist) nicht mehr gewährleistet war, brach die
Beschwerdeführerin den einjährigen Handelsschulkurs vorzeitig ab. Im Februar
1997 begann sie dieselbe Ausbildung erneut, welche diesmal im Rahmen
beruflicher Eingliederungsmassnahmen wegen unmittelbar drohender Invalidität
von der Invalidenversicherung übernommen wurde. Nach einem ersten Misserfolg
in der Abschlussprüfung konnte die Versicherte das Sekretariatsdiplom am 9.
Juli 1998 entgegennehmen. Der ab Juni 1996 behandelnde PD Dr. L.________
attestierte während der gesamten Ausbildungszeit (wie auch später) nie eine
Arbeitsunfähigkeit. Daran ändert nichts, dass die Absolvierung des
Sekretariatskurses in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde als "harzig"
bezeichnet wird.

Aus dem mit der vorinstanzlichen Beschwerde eingereichten Schreiben des
Psychiaters und Psychotherapeuten Dr. S.________ an die Sozialbehörde
X.________ vom 30. Mai 2003, wonach "ein gesundheitlich stark reduzierter
Zustand zu einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit für die Tätigkeit als
Sekretärin/Arztsekretärin geführt" habe, kann für das vorliegende Verfahren -
ganz abgesehen von den nicht erfüllten Anforderungen an einen
beweistauglichen Arztbericht - nichts abgeleitet werden. Denn wenn Dr.
S.________, der die Versicherte am 19. und 27. Mai 2003 in seiner
Sprechstunde erstmals gesehen hat, weiter ausführt, "obwohl der
gesundheitlich reduzierte Zustand schon längere Zeit andauert und sich mit
der Zeit eher verschlechtert hat", könne er "aus formellen Gründen höchstens
von einer Arbeitsunfähigkeit seit 4 Wochen ausgehen", bringt er damit
zutreffend zum Ausdruck, dass ärztliche Angaben über eine weit zurückliegende
funktionelle Leistungseinbusse nicht zuverlässig sind. Im Zusammenhang mit
der hier zu beantwortenden Adäquanzfrage sind jedenfalls von der Einholung
eines neuropsychologischen oder eines psychiatrischen Gutachtens über neun
Jahre nach dem Unfallereignis keine relevanten neue Erkenntnisse zu erwarten.
Dieselben Überlegungen gelten auch hinsichtlich des Beizugs der neuen Akten
der Invalidenversicherung (welche der Versicherten im Nachgang zu einer im
April 2003 erfolgten Neuanmeldung mit Verfügung vom 3. November 2004 eine
ganze Rente zugesprochen hat) sowie der übrigen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragten prozessualen Weiterungen
(Nachfristansetzung, Durchführung eines zweiten Schriftenwechsels).
Zusammenfassend ist auch das Adäquanzkriterium Grad und Dauer der
Arbeitsunfähigkeit klar zu verneinen.

2.6 Ob allenfalls das Kriterium des schwierigen Heilungsverlaufs und
erheblicher Komplikationen erfüllt ist, muss nicht weiter geprüft werden, da
es jedenfalls nicht in der ausgeprägten Form vorliegt, die
rechtsprechungsgemäss erforderlich wäre, damit dem Unfall vom 22. November
1995 eine rechtlich massgebende Bedeutung für das ab Mitte Februar 2001
geklagte Beschwerdebild zukäme.

Der vorinstanzlichen Entscheid ist damit rechtens.

3.
Dem Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung kann entsprochen
werden, da die hiefür nach Gesetz (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG)
und Rechtsprechung (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen)
erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Es wird indessen ausdrücklich
auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande
ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt
Hanspeter Riedener, Zürich, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 9. Mai 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
i.V.