Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 394/2004
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2004
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2004


U 394/04

Urteil vom 14. April 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiberin
Polla

I.________, 1975, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Werner
Caviezel, Bahnhofstrasse 8, 7000 Chur,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, Chur

(Entscheid vom 19. August 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1975 geborene I.________ war als Chemielaborant bei der Firma X.________
AG tätig, als er am 15. März 1997 bei einem Verkehrsunfall ein
Schädelhirntrauma mit einem Mittelhirnsyndrom, verschiedene Knochenbrüche am
rechten Arm und rechten Bein sowie einen Leberriss erlitt (Bericht der Klinik
für Orthopädische Chirurgie am Spital Y.________, vom 18. April 1997). Die
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) kam für die Unfallfolgen auf
und sprach dem Versicherten - nebst einer Integritätsentschädigung (Verfügung
vom 1. Oktober 2001) - eine Invalidenrente auf der Grundlage einer
Erwerbsunfähigkeit von 10 % zu (Verfügung vom 23. November 2001). Ausgehend
davon, dass I.________ als Gesunder im Jahr 2003 bei der Firma X.________ AG
zum Laborleiter befördert worden wäre, hiess die SUVA die darauf erfolgte
Einsprache teilweise gut und bemass den Invaliditätsgrad, welcher Grundlage
der ab 1. Juli 2001 zugesprochenen Rente bildete, neu auf 13 %
(Einspracheentscheid vom 10. Dezember 2003).

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden mit Entscheid vom 19. August 2004 ab.

C.
I.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit den Rechtsbegehren,
in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids seien ihm befristete und
gestaffelte Invalidenrenten ab 1. Juli 2001 auf der Basis einer Invalidität
von 20 %, ab 1. Juli 2010 auf der Basis einer Invalidität von 25 %, ab 1.
Juli 2020 auf der Basis einer Invalidität von 30 % und ab 1. Juli 2025 auf
der Basis einer Invalidität von 35 % zuzusprechen; eventualiter sei ihm ab 1.
Juli 2001 eine Invalidenrente auf der Grundlage eines, bezogen auf die ganze
Dauer der Erwerbstätigkeit, durchschnittlichen Invaliditätsgrades von 30 %,
zuzusprechen; subeventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die
Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während
das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung verzichtet.

D.
Am 1. April 2005 lässt I.________ zudem ein Gutachten zum Erwerbsschaden
(Ermittlung eines Lohnprofils) der Universität St. Gallen vom März 2005
einreichen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die Prüfung eines allfälligen schon vor dem In-Kraft-Treten des ATSG
entstandenen Anspruchs auf eine Rente der Unfallversicherung hat nach
allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln bei einer Änderung der
gesetzlichen Grundlagen grundsätzlich gemäss denjenigen Rechtssätzen zu
erfolgen, die bei Verwirklichung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts
galten. Demzufolge ist der Rentenanspruch für die Zeit bis 31. Dezember 2002
aufgrund der bisherigen und ab diesem Zeitpunkt nach den neuen Normen zu
prüfen (BGE 130 V 329). Für den Verfahrensausgang ist dies indessen insofern
von untergeordneter Bedeutung, als die im ATSG enthaltenen Umschreibungen
hinsichtlich der UV-rechtlichen Invaliditätsbemessung keine substanziellen
Änderungen gegenüber der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Normenlage
brachten. Denn gemäss Urteil G. vom 22. Juni 2004, U 192/03, RKUV 2004 Nr. U
529 S. 572 entsprechen die im ATSG enthaltenen Definitionen der
Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG), der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) und
der Invalidität (Art. 8 ATSG) ebenso wie die Vorschrift über die Bestimmung
des Invaliditätsgrades (bei erwerbstätigen Versicherten; Art. 16 ATSG) den
bisherigen, in der Unfallversicherung von der Rechtsprechung dazu
entwickelten Begriffen und Grundsätzen. Keine materiellrechtliche Änderung
bringt auch der redaktionell neu gefasste Unfallbegriff des Art. 4 ATSG (RKUV
2004 Nr. U 530 S. 576).

1.2 Das nach Ablauf der Rechtsmittelfrist (Art. 106 Abs. 1 OG) am 1. April
2005 seitens des Beschwerdeführers nachgereichte Dokument muss materiell
unberücksichtigt bleiben, da es nicht im Rahmen eines zweiten
Rechtsschriftenwechsels einging und keine revisionsrechtlich relevanten neuen
Tatsachen enthält (BGE 127 V 353).

2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Anspruch
auf eine Invalidenrente (namentlich Art. 18 Abs. 1 UVG [in der seit 1. Januar
2003 geltenden Fassung] in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 und Art. 16 ATSG;
vgl. auch Art. 18 Abs. 1 und 2 UVG in der bis 31. Dezember 2002 in Kraft
gewesenen Fassung) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
Streitig ist allein die Bemessung des Invaliditätsgrades mit Blick auf die
Höhe des Valideneinkommens. Hierbei interessiert insbesondere die Frage, ob
bei der Ermittlung desselben eine hypothetische Lohnentwicklung während der
gesamten Dauer des Erwerbslebens zu berücksichtigen ist, wie dies der
Beschwerdeführer zur Hauptsache geltend macht.

3.1 Verwaltung und Vorinstanz haben das Valideneinkommen in der Annahme
ermittelt, der Versicherte hätte ohne unfallbedingte Gesundheitschädigung das
Studium zum Chemie-Ingenieur HTL abgeschlossen und würde in der Funktion
eines Kleinlabor-Leiters weiterhin bei der Firma X.________ AG tätig sein.
Gemäss Auskunft der Arbeitgeberin (Bericht der SUVA vom 13. Mai 2003) hätte
der Beschwerdeführer nach Abschluss des Studiums mit einem Anfangsgehalt von
Fr. 5600.- x 13 rechnen können. Die weitere Lohnentwicklung erfolge
individuell und leistungsbezogen. Im Quervergleich mit zwei Arbeitskollegen,
die im gleichen Zeitpunkt dasselbe Studium abschlossen und Fr. 5700.- und Fr.
5800.- erzielten, ging die SUVA im Mai 2001 von einem Verdienst von Fr.
5750.- aus. Des Weiteren erachtete sie in ihrem Einspracheentscheid die seit
dem für die Invaliditätsbemessung massgebenden Zeitpunkt des Rentenbeginns
mutmassliche lohnmässige Veränderung hinsichtlich des Valideneinkommens im
Jahr 2003 als erheblich und setzte dieses auf Fr. 6040.- fest (vgl. BGE 129 V
222, 128 V 174).

3.2
3.2.1Bei der Bestimmung des Valideneinkommens ist grundsätzlich darauf
abzustellen, was der Versicherte aufgrund seiner beruflichen Fähigkeiten und
persönlichen Umstände (im massgebenden Zeitpunkt nach dem Beweisgrad der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit) als Gesunder tatsächlich verdienen würde,
nicht was er als voll Erwerbstätiger bestenfalls verdienen könnte (ZAK 1992
S. 92 Erw. 4a; vgl. auch Urteile R. vom 9. September 2003 [M 2/02] Erw. 3.4,
P. vom 22. August 2003 [I 316/02] Erw. 3.2, M. vom 7. Juli 2003 [I 627/02]
Erw. 2.1.1, S. vom 28. April 2003 [I 297/02] Erw. 3.2.3, W. vom 9. Mai 2001
[I 575/00] Erw. 3a). Theoretisch vorhandene berufliche Entwicklungs- oder
Aufstiegsmöglichkeiten sind nur dann zu beachten, wenn sie mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit eingetreten wären. Für die Annahme einer mutmasslichen
beruflichen Weiterentwicklung ist daher der Nachweis konkreter Anhaltspunkte
dafür verlangt, dass der Versicherte einen beruflichen Aufstieg und ein
entsprechend höheres Einkommen auch tatsächlich realisiert hätte, wenn er
nicht invalid geworden wäre; blosse Absichtserklärungen genügen nicht (BGE 96
V 29; EVGE 1968 S. 93 Erw. 2a; AHI 1998 S. 171 Erw. 5a; RKUV 1993 Nr. U 168
S. 100 Erw. 3b; unveröffentlichte Urteile H. vom 20. Dezember 1996 [M 7/96]
Erw. 3, F. vom 28. August 1996 [U 12/96] und M. vom 13. September 1996 [I
419/95]; jüngst statt vieler Urteile B. vom 9. November 2004 [I 561/03] Erw.
2.1, V. vom 19. Oktober 2004 [I 263/04] Erw. 3.2 und F. vom 6. Juli 2004 [I
2/04] Erw. 3.1).
3.2.2 Im Falle eines jungen Versicherten, der am Anfang seiner beruflichen
Laufbahn von einem versicherten Ereignis betroffen wurde, entzieht sich die
hypothetische Tatsache einer Jahre später ohne Invalidität ausgeübten
bestimmten Tätigkeit naturgemäss einem strikten Beweis, zumal das lebenslange
Ausüben eines einmal erlernten Berufes in den derzeitigen sozialen und
wirtschaftlichen Verhältnissen immer weniger die Regel bildet, die ständige
berufliche Qualifizierung hingegen weit verbreitet ist. Die Anforderungen an
den massgebenden Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit dürfen daher
nicht überspannt werden (SZS 2004 S. 67). Doch muss der hypothetische
berufliche Werdegang dem Gericht wahrscheinlicher erscheinen als die
Weiterausübung der angestammten Arbeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V 195 Erw.
2, je mit Hinweisen; vgl. 130 III 324 f. Erw. 3.2 und 3.3).

Bei der Prüfung der mutmasslichen beruflichen Entwicklung können unter
Umständen aus einer besonderen beruflichen Qualifizierung im Invaliditätsfall
Rückschlüsse auf die hypothetische Entwicklung gezogen werden, zu der es ohne
Eintritt des (unfallbedingten) Gesundheitsschadens gekommen wäre. Nach der
Rechtsprechung ist dies insbesondere dann zulässig, wenn die angestammte
Tätigkeit auch nach dem Unfall weitergeführt werden kann (Urteile S. vom 29.
August 2002 Erw. 1.2 mit Hinweisen, I 97/00). Indessen darf aus einer
erfolgreichen Invalidenkarriere in einem neuen Tätigkeitsbereich nicht ohne
Weiteres abgeleitet werden, die versicherte Person hätte ohne Invalidität
eine vergleichbare Position auch im angestammten Tätigkeitsgebiet erreicht
(Urteil W. vom 26. Mai 2003, U 183/02).

3.3 Hinsichtlich der Weiterbildungsbestrebungen kann zu Recht angenommen
werden, der Versicherte hätte das vor dem Unfall in Angriff genommene Studium
zum Chemie-Ingenieur HTL abgeschlossen und wäre heute in diesem Beruf tätig.
Da die Einkommensermittlung so konkret wie möglich zu erfolgen hat und somit
seine individuellen, persönlichen und beruflichen Verhältnisse massgebend
sind, rechtfertigt es sich anzunehmen, der Beschwerdeführer wäre im Jahr 2003
weiterhin bei der Firma X.________ AG tätig gewesen, zumal sich in den Akten
keinerlei Hinweise auf einen geplanten Stellenwechsel finden und zudem
Aussicht auf die Leitung eines Labors bestand. So verlor der Versicherte die
Stelle im Jahre 2001 denn auch nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern
aufgrund seiner gesundheitsbedingten Leistungseinbusse. Entgegen der
beschwerdeführerischen Ansicht ist somit zur Lohnermittlung nicht auf
statistische Werte abzustellen. Wenn die SUVA des Weiteren zu Gunsten des
Versicherten die Anhaltspunkte für einen beruflichen Aufstieg über die
fachliche Weiterbildung hinaus im Sinne einer Führungsposition als
hinreichend konkret ansah, lässt sich dies nicht beanstanden, zumal der
Versicherte als fachlich ausgezeichneter und ehrgeiziger Mitarbeiter galt.
Ein Einbezug einer weiterführenden berufliche Entwicklung, mithin über die
gesamte Dauer seines verbleibenden Arbeitslebens, wie dies der
Beschwerdeführer verlangt, kommt einer auch im Gebiet der Unfallversicherung
ausserhalb der Praxis zu den Fingerverletzungen (BGE 106 V 48) grundsätzlich
unzulässigen antizipierten Invaliditätsschätzung gleich (BGE 119 V 471, 97 V
59 Erw. 1; AHI 1998 S. 174 Erw. 6a) und wäre zum Zeitpunkt des
Einspracheentscheides im Jahr 2003 rein spekulativ, da nicht mehr mit dem
notwendigen Beweisgrad zu erstellen; denn die berufliche Laufbahn hängt von
persönlichen Qualifikationen und weiteren nicht beeinflussbaren äusseren
Umständen ab, weshalb dem Einwand nicht gefolgt werden kann. Ob sich Validen-
und Invalideneinkommen in unterschiedlichem Ausmass weiterentwickeln werden,
wird sich weisen und gegebenenfalls revisionsweise (Art. 22 UVG, Art. 17
ATSG) zu berücksichtigen sein.

4.
In Gegenüberstellung des hypothetischen Valideneinkommens im Jahre 2003 von
Fr. 6040.- mit dem unbestritten gebliebenen Invalideneinkommen von Fr.
5300.-, welches der Versicherte im Jahr 2003 als Chemielaborant bei der Firma
Q.________ AG verdiente, resultiert ein Invaliditätsgrad von 12 % (zur
Rundung: BGE 130 V 121). Damit hat es beim vorinstanzlichen Entscheid,
welcher die von der SUVA mit Wirkung ab 1. Juli 2001 zugesprochene Rente auf
der Basis einer Erwerbsunfähigkeit von 13 % bestätigt, sein Bewenden.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.

Luzern, 14. April 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: