Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 390/2004
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U 390/04

Urteil vom 14. April 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiberin
Bollinger

Helsana Versicherungen AG, Schadenrecht, Zürichstrasse 130, 8600 Dübendorf,
Beschwerdeführerin,

gegen

B.________, 1967, Beschwerdegegnerin, vertreten durch ihren Ehemann

Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt, Basel

(Entscheid vom 7. September 2004)

Sachverhalt:

A.
Die französische Staatsangehörige B.________, geboren 1967, war seit Februar
1996 als Zeitungsverträgerin für die Firma X.________ tätig und in dieser
Eigenschaft bei der Helsana Unfall AG, Zürich (Helsana), gegen Unfälle
versichert. Am 8. Februar 2003 wurde sie um etwa 4.30 Uhr morgens während der
Arbeit von einem Mann zunächst mit ausländerfeindlichen Parolen verbal und
danach auch tätlich angegriffen. Nachdem sie ihm hatte klar machen können,
dass sie Französin sei und in Basel arbeite, liess der Täter von ihr ab,
worauf B.________ mit dem Zeitungswagen davonrannte. Gleichentags begab sie
sich zu ihrem Hausarzt Dr. med. N.________, allgemeine Medizin und
Psychiatrie, in Behandlung. Dieser stellte ein Ödem am Hals, eine
schmerzhafte Bewegungseinschränkung im Kopf- und Nackenbereich und eine
druckdolente Rückenmuskulatur fest. Überdies habe B.________ gezittert und
verstört gewirkt (Bericht vom 8. Februar 2003). Ebenfalls am 8. Februar 2003
erstattete B.________ Strafanzeige bei der Kantonspolizei Basel-Stadt. Die
Helsana anerkannte das Ereignis als Unfall und erbrachte Krankenpflege- sowie
Taggeldleistungen. Am 8. Oktober 2003 verfügte sie die Einstellung ihrer
Leistungen ab 1. Oktober 2003, da zwischen den weiterhin geklagten
psychischen Beeinträchtigungen und dem Ereignis vom 8. Februar 2003 kein
adäquater Kausalzusammenhang mehr bestehe. Mit Einspracheentscheid vom 5.
Januar 2004 hielt sie an ihrer Verfügung fest. Der Angreifer wurde wegen des
Vorfalls der einfachen Körperverletzung schuldig gesprochen und zu einer
bedingten Gefängnisstrafe von vier Monaten sowie zur Zahlung von Fr. 2200.-
Schadenersatz und Fr. 800.- Genugtuung verurteilt (Entscheid des
Strafgerichts Basel-Stadt vom 14. Januar 2004).

B.
Die gegen den Einspracheentscheid vom 5. Januar 2004 erhobene Beschwerde
hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt am 7. September
2004 gut, indem es diesen aufhob und die Sache zur ergänzenden
psychiatrischen Abklärung durch einen unabhängigen Gutachter und neuen
Verfügung über die Leistungen ab 1. Oktober 2003 an die Helsana zurückwies.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Helsana, das kantonale Urteil
sei aufzuheben und der Einspracheentscheid sei zu bestätigen.

B. ________ lässt, vertreten durch ihren Ehemann, sinngemäss auf Abweisung
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Das Bundesamt für Gesundheit
verzichtet auf eine Stellungnahme.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen, vorliegend anwendbaren Normen
des ATSG brachten gegenüber der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen
Rechtslage keine substanziellen Änderungen. Gemäss Urteil G. vom 22. Juni
2004, U 192/03, zitiert in ZBJV 140/2004 S. 746, entsprechen insbesondere die
im ATSG enthaltenen Definitionen der Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG), der
Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) und der Invalidität (Art. 8 ATSG) den
bisherigen, in der Unfallversicherung von der Rechtsprechung dazu
entwickelten Begriffen und Grundsätzen. Keine materiellrechtliche Änderung
beinhaltet auch der redaktionell neu gefasste Unfallbegriff des Art. 4 ATSG
(RKUV 2004 Nr. U 530 S. 576).

1.2 Das kantonale Gericht legt die Rechtsprechung zu den Voraussetzungen,
unter denen ein Schreckereignis als Unfall gilt (BGE 129 V 179 Erw. 2.1 mit
Hinweisen) und zu dem gemäss Art. 6 Abs. 1 UVG für die Leistungspflicht des
Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhang zwischen
dem Schreckereignis und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität,
Tod; BGE 129 V 181 Erw. 3.1 mit Hinweisen) zutreffend dar.

Richtig ist weiter, dass die Adäquanz zwischen einem Schreckereignis ohne
körperliche Verletzungen und den nachfolgend aufgetretenen psychischen
Störungen nach der allgemeinen Formel (gewöhnlicher Lauf der Dinge und
allgemeine Lebenserfahrung) zu beurteilen ist. Diese Rechtsprechung trägt der
Tatsache Rechnung, dass bei Schreckereignissen - anders als im Rahmen
üblicher Unfälle - die psychische Stresssituation im Vordergrund steht,
wogegen dem somatischen Geschehen keine (entscheidende) Bedeutung beigemessen
werden kann. Aus diesem Grund ist die (analoge) Anwendung der in BGE 115 V
133 entwickelten Adäquanzkriterien ebenso ungeeignet wie diejenige der so
genannten Schleudertraumapraxis (BGE 117 V 359; vgl. BGE 129 V 184 Erw. 4.2).
Nicht anders verhält es sich, wenn die versicherte Person zwar körperlich
verletzt wird, die somatischen Beeinträchtigungen indessen lediglich von
untergeordneter Bedeutung sind und im Vergleich zum erlittenen psychischen
Stress in den Hintergrund treten. Denn auch in solchen Fällen kommt dem
somatischen Geschehen keine wesentliche Bedeutung zu. Mithin hat die
Beurteilung der Adäquanz zwischen Schreckereignissen, bei welchen die
versicherte Person zwar (auch) körperliche Beeinträchtigungen davonträgt,
Letztere indessen nicht entscheidend ins Gewicht fallen, und psychischen
Schäden nach der allgemeinen Adäquanzformel (gewöhnlicher Lauf der Dinge und
allgemeine Lebenserfahrung) zu erfolgen.

2.
2.1 An den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen psychischen Beschwerden und
so genannten Schreckereignissen werden hohe Anforderungen gestellt. So
verneinte das Eidgenössische Versicherungsgericht (allerdings in Anwendung
der Adäquanzkriterien von BGE 115 V 139) im Fall einer Versicherten, die auf
offener Strasse von einem Unbekannten angegriffen, zu Boden gedrückt und in
Tötungsabsicht gewürgt worden war (wobei sie auch körperliche
Beeinträchtigungen - Schrammen am Hals und Schmerzen in der Lendengegend -
erlitt; RKUV 1996 Nr. U 256 S. 215) die Adäquanz ebenso wie bei einem Mann,
der in Zusammenhang mit seinem Geschäft von einem unbekannten Begleiter eines
Kunden mit dem Messer bedroht und erpresst worden war (jedoch keine
somatischen Verletzungen davontrug; Urteil C. vom 19. März 2003, U 15/00) und
im Fall einer Spielsalonaufsicht, die nach Geschäftsschluss überraschend von
einem Vermummten mit der Pistole bedroht und (ohne dass sie körperlich
angegriffen worden wäre) zur Geldherausgabe gezwungen worden war (BGE 129 V
177). Nach der Rechtsprechung besteht die übliche und einigermassen typische
Reaktion auf solche Ereignisse erfahrungsgemäss darin, dass zwar eine
Traumatisierung stattfindet, diese aber vom Opfer in aller Regel innert
einiger Wochen oder Monate überwunden wird.

Nicht anders verhält es sich im vorliegenden Fall. Zwar ist dem nächtlichen
Angriff eines alkoholisierten Mannes auf die Beschwerdegegnerin, wobei dieser
sie beschimpfte und würgte, eine gewisse Eindrücklichkeit nicht abzusprechen
und es ist auch nachvollziehbar, dass die Versicherte das Ereignis subjektiv
als sehr bedrohlich empfand. Dennoch ist ein solches nach der allgemeinen
Lebenserfahrung nicht geeignet, langjährige Angst- und depressive Zustände
auszulösen. Dies gilt umso mehr, als sich in den polizeilichen Akten
keinerlei Hinweise darauf finden, der Täter habe die Beschwerdegegnerin
zusätzlich zu vergewaltigen versucht, wie dies erstmals im letztinstanzlichen
Verfahren vorgebracht wird. Auch heilten die lediglich leichten körperlichen
Beeinträchtigungen (Ödem am Hals, schmerzhafte Bewegungseinschränkung im
Kopf- und Nackenbereich, druckdolente Rückenmuskulatur) folgenlos ab.
Schliesslich war - worauf bereits die Vorinstanz hingewiesen hatte - der
Psychiater Dr. med. D.________, zu welchem die Versicherte durch den
erstbehandelnden Dr. med. N.________ überwiesen worden war, ebenfalls der
Meinung, eine vollständige Genesung sei in einigen Monaten zu erwarten
(Bericht vom 3. April 2004). Helsana und kantonales Gericht haben daher die
Leistungspflicht für den Vorfall vom 15. März 1996 zu Recht verneint.

2.2 Soweit die Versicherte unter Hinweis auf ihre anhaltend schlechte
psychische Verfassung und damit allenfalls zusammenhängende weitere
gesundheitliche Probleme (hoher Blutdruck) eine zusätzliche (psychiatrische)
Begutachtung beantragt, kann ihr nicht gefolgt werden. Nach dem Gesagten ist
für die Beurteilung der Leistungspflicht der Unfallversicherung nicht der
aktuelle Gesundheitszustand massgeblich, sondern die Frage, ob das Ereignis
geeignet war, einen dauernden, erheblichen Schaden mit anhaltender
Erwerbsunfähigkeit zu verursachen. Von weiteren (medizinischen) Abklärungen
sind jedoch bezüglich des Ausmasses des Schreckereignisses keine neuen
Erkenntnisse zu erwarten, weshalb darauf zu verzichten ist (antizipierte
Beweiswürdigung; SVR 2001 IV Nr. 10 S. 28 Erw. 4b mit Hinweisen auf BGE 124 V
94 Erw. 4b und 122 V 162 Erw. 1d).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom 7. September 2004 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt
und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 14. April 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: