Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 361/2004
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U 361/04

Urteil vom 20. September 2005
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Seiler;
Gerichtsschreiber Ackermann

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

Q.________, 1978, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bernhard
J. Burkart, Webernstrasse 5, 8610 Uster

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 11. August 2004)

Sachverhalt:

A.
Q. ________, geboren 1978, reiste am 13. Juli 2001 in die Schweiz ein und
stellte am gleichen Tag ein Asylgesuch. Er arbeitete ab dem 6. November 2001
für die Firma C.________ AG und war bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) unfallversichert. Am 13. November 2001
erlitt er einen Autounfall, worauf die SUVA die gesetzlichen Leistungen
erbrachte. Mit Verfügung vom 24. März 2003 setzte sie das Taggeld auf Fr.
2.20 fest, wobei sie davon ausging, es müsse aufgrund der Aussagen des
Arbeitgebers und des Vorarbeiters von einem auf sechs Arbeitstage befristeten
Arbeitsverhältnis ausgegangen werden, weshalb der während dieser Zeit
vereinbarte Lohn Basis der Taggeldberechnung sei. Die dagegen erhobene
Einsprache hiess die SUVA mit Einspracheentscheid vom 7. Juli 2003 teilweise
gut und überwies die Sache an die zuständige Agentur, damit sie die Taggelder
neu berechne, wobei sie den massgebenden Durchschnittslohn aufgrund einer
Zeitdauer von drei Monaten festzulegen habe. Nachdem die SUVA mit Schreiben
vom 18. Juli 2003 das Taggeld zunächst auf Fr. 93.25 angesetzt hatte, ging
sie mit Brief vom 24. Juli 2003 von einem offensichtlichen Irrtum aus und
korrigierte den Betrag auf Fr. 8.80.

B.
Die gegen den Einsprachentscheid von Juli 2003 erhobene Beschwerde hiess das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 11. August 2004 gut
und sprach Q.________ mit Wirkung ab dem 16. November 2001 ein Taggeld von
Fr. 88.85 zu.

C.
Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, den
vorinstanzlichen Entscheid aufzuheben.

Q. ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
sowie die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung
beantragen, während das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt,
sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen
Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung
des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der
Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG).

2.
Zutreffend sind die Erwägungen des kantonalen Gerichts über den Anspruch auf
Taggelder (Art. 16 UVG in den vor und nach dem 1. Januar 2003 geltenden
Fassungen) sowie deren Bemessung im Allgemeinen (Art. 15 UVG in den vor und
nach dem 1. Januar 2003 geltenden Fassungen), ebenso wie die Darstellung der
Sonderfälle des massgebenden Lohnes bei Fehlen einer regelmässigen
Erwerbstätigkeit oder bei stark schwankendem Lohn (Art. 23 Abs. 3 UVV) sowie
bei Praktikanten, Volontären und zur Abklärung der Berufswahl tätigen
Personen (Art. 23 Abs. 6 UVV). Darauf wird verwiesen.

3.
Streitig ist der Anspruch auf Taggelder resp. deren Höhe; zu Recht nicht
umstritten ist dabei der Anspruchsbeginn am 16. November 2001.

3.1 Die Vorinstanz geht davon aus, dass der Beschwerdegegner mit seinem
Arbeitgeber ein befristetes "Schnupperarbeitsverhältnis" vereinbart habe,
damit abgeklärt werden könne, ob eine unbefristete Einstellung als Eisenleger
in Frage komme. In der Folge erachtet sie den Versicherten als eine zur
Abklärung der Berufswahl tätige Person und geht von einem Anwendungsfall des
Art. 23 Abs. 6 UVV aus. Da diese Norm einen Mindesttagesverdienst vorsehe,
hier jedoch ein höherer Lohn vereinbart worden sei und deshalb ein höheres
Taggeld resultiere, müsse auf Letzteres abgestellt werden. Das kantonale
Gericht geht dabei von einem Bruttostundenlohn von Fr. 19.25, einer
wöchentlichen Arbeitszeit von 40.5 Stunden und 52 Wochen pro Jahr aus; das
Resultat dieser Multiplikation dividiert es durch 365 Tage, was bei einem
Taggeld von 80 % des versicherten Verdienstes zu einem Betrag von Fr. 88.85
führe.
Die SUVA ist demgegenüber der Auffassung, es sei von einem auf wenige Tage
befristeten Arbeitsverhältnis auszugehen und im Zeitpunkt des Unfalles noch
nicht entschieden gewesen, ob dieses weitergeführt worden wäre. Ein solcher
Sachverhalt lasse sich "zwanglos" unter Art. 23 Abs. 3 UVV subsumieren, da
bei jemandem, der freiwillig oder aus äusserem Anlass nur befristete
Tätigkeiten ausüben könne, letztlich unregelmässige Erwerbstätigkeiten oder
starke Lohnschwankungen vorlägen. So sähe denn auch die Ad-hoc-Empfehlung
aller Unfallversicherer Nr. 6/85 vom 19. Februar 1985 vor, dass bei weniger
als vierzehn Tagen dauernden befristeten Arbeitsverhältnissen der versicherte
Verdienst gemäss Art. 23 Abs. 3 UVV festzusetzen sei, während gemäss
Empfehlung Nr. 3/84 vom 18. Juli 1984 bei unregelmässig beschäftigten
Personen für die Bemessung der Taggelder in der Regel der Durchschnittslohn
der letzten drei Monate berücksichtigt werde (wobei in casu auf den Verdienst
der letzten sechs Tage abzustellen sei).
Der Beschwerdegegner schliesslich ist der Auffassung, nach Ablauf der
"Schnupperwoche" - was fünf Arbeitstagen entspreche - sei das vorerst
befristete Arbeitsverhältnis als unbefristetes weitergeführt worden. Deshalb
bemesse sich der versicherte Verdienst anhand der Grundregel des Art. 15 Abs.
2 UVG, d.h. aufgrund des zuletzt erzielten Lohnes.

3.2 Bereits kurz nach Ablauf des dreimonatigen Arbeitsverbots für
Asylbewerber (Art. 43 Abs. 1 AsylG) hat sich der Versicherte um Arbeit
bemüht, indem er von sich aus mit seinem späteren Arbeitgeber (resp. dessen
Vorarbeiter) mehrmals Kontakt aufnahm. In der Folge wurde (mündlich) ein
Arbeitsvertrag geschlossen, wobei gemäss den Aussagen des Arbeitgebers
zunächst eine "Schnupperwoche" vereinbart worden sei, nach deren Ablauf
definitiv über die Einstellung entschieden worden wäre, während nach
Auffassung des Versicherten nur ein einziger "Schnuppertag" verabredet
gewesen sei.
Wegen der kurz nach Ende des Arbeitsverbots erfolgten Stellensuche und
Arbeitsaufnahme ist davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner eine
Erwerbstätigkeit aufnehmen und diese auch längere Zeit ausüben wollte. Weil
dabei offensichtlich die Tatsache des Geldverdienens im Vordergrund stand und
weder der Versicherte eine Lehre als Eisenleger aufnehmen wollte noch der
Arbeitgeber eine solche anzubieten beabsichtigte, war der Beschwerdegegner in
dieser Hinsicht weder eine zur Abklärung der Berufswahl tätige Person (les
personnes exerçant une activité aux fins de se préparer au choix d'une
profession; le persone che si preparano alla scelta di una professione) noch
Volontär oder Praktikant im Sinne des Art. 23 Abs. 6 UVV. Die "Schnupperzeit"
(deren Dauer allerdings umstritten ist) stellt vielmehr eine Probezeit dar,
während deren sich die Vertragsparteien näher kennen lernen und die
Fähigkeiten und Eignungen abklären wollten. Da die Voraussetzungen des Art.
23 Abs. 6 UVV nicht vorliegen, ist - entgegen dem Vorgehen des kantonalen
Gerichts - der massgebende Lohn nicht anhand dieser Norm zu bestimmen (vgl.
auch Urteil C. vom 15. Januar 2002, U 403/00, Erw. 2c/aa, in welchem Fall
eine Schnupperlehre ebenfalls verneint wurde, als sich ein 17 Jahre alter
Jüngling verpflichtete, drei Monate auf einem Bauernhof zu arbeiten, weil
seine Mutter während dieser Zeit im Spital war). In dieser Hinsicht erweist
sich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde der SUVA als begründet.

3.3 Anhand der Akten ist erstellt und denn auch nicht bestritten, dass ein
Arbeitsvertrag verabredet war und der Beschwerdegegner für den Arbeitgeber
als Eisenleger tätig gewesen ist. Umstritten ist jedoch die Dauer des
Vertragsverhältnisses. Der Arbeitgeber hat in seiner ersten Befragung durch
den SUVA-Inspektor am 4. April 2002 ausgeführt, es habe sich um die
"Schnupperwoche des Asylanten zum Prüfen, ob er die Fähigkeiten für diesen
Beruf hat", gehandelt und es sei ein befristeter Arbeitsvertrag "auf 6 Tage"
vorgelegen. Allein aus dieser Aussage kann eine befristete Einstellung für
die Dauer eines einzigen Projektes (z.B. einer bestimmten Baustelle)
ausgeschlossen werden, obwohl solches durchaus branchenüblich ist. Jedoch
kann aus den Ausführungen des Arbeitgebers nicht auf die vereinbarte Dauer
des Vertrages geschlossen werden, denn der Versicherte seinerseits ist beim
Vertragsabschluss davon ausgegangen, es sei ein einziger "Schnuppertag"
verabredet gewesen, sodass sich die Aussagen der Beteiligten widersprechen,
wobei hier keiner Darlegung erhöhte Glaubwürdigkeit zukommt. Die Aussage des
Arbeitgebers wird zwar durch die Äusserungen des Vorarbeiters gegenüber dem
SUVA-Inspektor vom 26. September 2002 im Wesentlichen bestätigt, jedoch kommt
letzterer Aussage keine grosse Beweiskraft zu, da sie in Anwesenheit des
Arbeitgebers stattgefunden hat und damit allenfalls von Gründen der Loyalität
gegenüber dem Arbeitgeber beeinflusst gewesen sein kann.
Dennoch ist anhand der übereinstimmenden Äusserungen von Beschwerdegegner und
Arbeitgeber davon auszugehen, dass zunächst eine Probezeit vereinbart worden
ist (vgl. auch Erw. 3.2 hievor). Es ist jedoch entgegen der Aussage des
Arbeitgebers gegenüber der SUVA vom 4. April 2002 nicht von einer Probezeit
von sechs Tagen auszugehen, da kein Grund ersichtlich ist, weshalb gerade
diese ungewöhnliche Dauer hätte vereinbart werden sollen und nicht eine
Probezeit von fünf Tagen, was einer Arbeitswoche entspricht (so hat denn auch
der Arbeitgeber gegenüber der SUVA von einer "Schnupperwoche" gesprochen). Da
der Versicherte am Dienstag, dem 6. November 2001, die Arbeit aufgenommen hat
und sich der Unfall am sechsten Arbeitstag (d.h. am Dienstag, dem 13.
November 2001) ereignet hat, ist auch nicht erstellt, dass die Parteien eine
Probezeit von einer Kalenderwoche seit Arbeitsbeginn abgemacht hätten, da
diese bereits am Tag vor dem Unfall abgelaufen gewesen wäre und der
Beschwerdegegner deshalb gar nicht mehr gearbeitet hätte. Weiter haben
Arbeitgeber und Vorarbeiter am 26. September 2002 übereinstimmend ausgesagt,
sie hätten den Versicherten nach der ersten Arbeitswoche (die von Dienstag
bis Freitag dauerte) für die Arbeit als Eisenleger als nicht geeignet
erachtet, ihm aber bei einem anderen Vorarbeiter noch eine Chance geben
wollen. Allerdings arbeitete der Beschwerdegegner gemäss Eintrag in der
Wochenkarte "Eisenleger" am nächsten Montag immer noch unter dem gleichen
Vorarbeiter, was ebenfalls gegen eine Probezeit von sechs Tagen spricht.
Schliesslich steht auch die fehlende fremdenpolizeiliche Arbeitsbewilligung
einem längerfristigen Engagement nicht entgegen, hat doch der Arbeitgeber
nicht ausgeführt, er hätte eine solche nicht beantragt und das
Arbeitsverhältnis aus diesem Grund scheitern lassen.
Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ist deshalb erstellt, dass die Parteien
eine Probezeit von einer Arbeitswoche vereinbart haben, welche am Tag vor dem
Unfall abgelaufen ist. Es kann offen bleiben, ob diese Probezeit als
befristeter Vertrag abgeschlossen oder als Probezeit im Sinne des Art. 335b
OR vereinbart gewesen ist. In der Folge stand der Versicherte am Unfalltag in
einem ungekündigten unbefristeten Arbeitsverhältnis, sei es wegen einer
stillschweigenden Verlängerung des befristeten Arbeitsvertrages (Art. 334
Abs. 2 OR), sei es wegen fehlender Kündigung eines von Anfang an
unbefristeten Vertrages. Von weiteren Abklärungen wie den in der
vorinstanzlichen Beschwerde erwähnten Zeugenbefragungen sind keine
zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten, sodass darauf zu verzichten ist
(antizipierte Beweiswürdigung; SVR 2001 IV Nr. 10 S. 28 Erw. 4b). Damit ist
im Unfallzeitpunkt von einem unbefristeten Arbeitsverhältnis auszugehen und
das Taggeld im Sinne der Grundregel des Art. 15 Abs. 2 UVG  festzulegen. Dies
hat das kantonale Gericht letztlich denn auch gemacht. Dass der Vorinstanz
dabei ein Fehler unterlaufen wäre, wird nicht geltend gemacht und ist auch
sonst nicht ersichtlich. Damit erweist sich der vorinstanzliche Entscheid im
Ergebnis als rechtens.

4.
Da es um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss Art. 134 OG keine
Gerichtskosten zu erheben. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne
der Befreiung von den Gerichtskosten ist daher gegenstandslos.
Infolge Obsiegens hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine
Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 2 OG in Verbindung mit Art. 135 OG). Das
Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung ist deshalb ebenfalls gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die SUVA hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 20. September 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: