Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 346/2004
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U 346/04

Urteil vom 29. Juni 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber
Fessler

V.________, 1983, Beschwerdeführer, vertreten
durch die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung,
Dr. Joseph Hofstetter, Rechtsanwalt, Kantonsstrasse 40, 6207 Nottwil,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, Weinfelden

(Entscheid vom 14. Juli 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1983 geborene V.________ erlitt am 31. Mai 2003 einen Unfall. Auf der
Strasse von X.________ nach Y.________ geriet der von ihm gelenkte
Personenwagen in einer abfallenden Linkskurve auf die Gegenfahrbahn und
prallte schliesslich in einen Baum. V.________ erlitt u.a.
Wirbelsäulenverletzungen, welche zu einer kompletten Paraplegie führten. Mit
Strafverfügung vom 21. August 2003 sprach ihn das Bezirksamt des Führens
eines Personenwagens in angetrunkenem Zustand sowie der Verletzung von
Verkehrsregeln (nicht den Strassenverhältnissen angepasste Geschwindigkeit)
schuldig. Von einer Bestrafung wurde gestützt auf Art. 66bis StGB Umgang
genommen.
Am 24. September 2003 verfügte die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt
(SUVA) die Kürzung sämtlicher Geldleistungen aus dem Unfall vom 31. Mai 2003
um 20 %. Mit Einspracheentscheid vom 19. Dezember 2003 bestätigte sie die
Sanktion.

B.
Die Beschwerde des V.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
als Versicherungsgericht nach zweifachem Schriftenwechsel mit Entscheid vom
14. Juli 2004 ab.

C.
V.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und auf eine Leistungskürzung
sei zu verzichten; eventualiter sei die Kürzung auf maximal 10 % der während
der ersten zwei Jahre ausgerichteten Taggelder zu beschränken.
Die SUVA beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig und zu prüfen ist die vorinstanzlich bestätigte Kürzung um 20 % der
Geldleistungen der Unfallversicherung aus dem Verkehrsunfall vom 31. Mai
2003.

2.
In Abweichung von Artikel 21 Absatz 1 ATSG werden in der Versicherung der
Nichtberufsunfälle die Taggelder, die während der ersten zwei Jahre nach dem
Unfall ausgerichtet werden, gekürzt, wenn der Versicherte den Unfall
grobfahrlässig herbeigeführt hat (Art. 37 Abs. 2 erster Satz UVG). Hat der
Versicherte den Unfall bei nicht vorsätzlicher Ausübung eines Verbrechens
oder Vergehens herbeigeführt, so können ihm in Abweichung von Artikel 21
Absatz 1 ATSG die Geldleistungen gekürzt oder in besonders schweren Fällen
verweigert werden (Art. 37 Abs. 3 erster Satz UVG).
Die seit 1. Januar 2003 in Kraft stehende Verweisung auf Art. 21 Abs. 1 ATSG
hat am materiellen Gehalt von Art. 37 Abs. 2 und 3, je erster Satz UVG nichts
geändert (vgl. Urteil K. vom 2. Februar 2005 [U 233/04] Erw. 1 sowie Ueli
Kieser, ATSG-Kommentar, N 17 und 86 zu Art. 21). Die zu diesen Bestimmungen
ergangene Rechtsprechung hat somit weiterhin Gültigkeit.

2.1 Art. 37 Abs. 3 UVG setzt die Erfüllung eines objektiven Straftatbestandes
voraus. Absicht oder Grobfahrlässigkeit ist nicht verlangt. Der Unfall muss
nicht schuldhaft herbeigeführt worden sein. Es genügt grundsätzlich, dass er
sich bei (anlässlich) der Begehung eines Verbrechens oder Vergehens
ereignete. Wurde der Unfall gleichzeitig grobfahrlässig und bei Ausübung
eines Verbrechens oder Vergehens herbeigeführt, findet Art. 37 Abs. 3 UVG als
lex specialis Anwendung. Ist eine strafbare Handlung lediglich als
Übertretung zu qualifizieren und wurde der Unfall grobfahrlässig mit
verursacht, gelangt Art. 37 Abs. 2 UVG zur Anwendung (BGE 120 V 227 Erw. 2c;
RKUV 2000 Nr. U 375 S. 178).
Ob ein bestimmter (objektiver) Straftatbestand erfüllt und/oder
Grobfahrlässigkeit gegeben ist, prüft das Sozialversicherungsgericht
grundsätzlich frei. Es ist nicht an die Feststellung und Würdigung des
Strafgerichts gebunden, weder in Bezug auf die Angabe der verletzten
Vorschriften noch hinsichtlich der Beurteilung des Verschuldens (BGE 125 V
242 Erw. 6a und RKUV 1996 Nr. U 263 S. 282 Erw. 2a).

2.2
2.2.1Das Führen eines Motorfahrzeuges in angetrunkenem Zustand stellt ein
Vergehen im Sinne von Art. 9 Abs. 2 StGB dar und fällt bei vorsätzlicher und
auch fahrlässiger Begehung unter Art. 37 Abs. 3 UVG (BGE 120 V 227 f. Erw. 2d
und 3a).
Nach der vom Eidgenössischen Versicherungsgericht mehrfach bestätigten und
zur Anwendung gebrachten Praxis der SUVA bestimmt sich bei Unfällen unter
Alkoholeinfluss der Kürzungssatz nach dem Ausmass der Trunkenheit. Bei einer
Alkoholkonzentration von 0,8 bis 1,2 Gewichtspromille (o/oo) beträgt die
Kürzung in der Regel 20 %. Für je 0,4 zusätzliche Promille wird der
Kürzungssatz um jeweils 10 % erhöht (BGE 120 V 231 Erw. 4c; RKUV 1996 Nr. U
263 S. 284 Erw. 4, 1995 Nr. U 229 S. 196 Erw. 3c).
Gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts ist bei der Rückrechnung vom
Zeitpunkt der Blutentnahme (Analyse) bis zum strafrechtlich relevanten
Vorfall von einer längstmöglichen Resorptionszeit von zwei Stunden sowie
einem minimalen Abbauwert von 0,1 o/oo pro Stunde auszugehen (BGE 119 IV 258
Erw. 2b, 116 IV 241 Erw. 2 mit Hinweis auf die einschlägigen Weisungen des
EJPD). Die Angetrunkenheit gilt als erwiesen, wenn die
Blutalkoholkonzentration 0,8 o/oo oder mehr beträgt oder wenn eine
Alkoholmenge im Körper ist, die zu einer solchen Blutalkoholkonzentration
führt (BGE 119 IV 259 Erw. 2c mit Hinweis).

2.2.2 Der Begriff der groben Fahrlässigkeit nach Art. 37 Abs. 2 UVG ist bei
Fehlverhalten im Strassenverkehr weiter zu fassen als derjenige der groben
Verletzung von Verkehrsregeln nach Art. 90 Ziff. 2 SVG, welcher ein
rücksichtsloses oder sonst schwerwiegendes regelwidriges Verhalten
voraussetzt (BGE 102 V 25 Erw. 1). Grobe Fahrlässigkeit ist in der Regel
anzunehmen, wenn in ursächlichem Zusammenhang mit dem Unfall eine elementare
oder mehrere wichtige Verkehrsregeln schwerwiegend verletzt wurden und
subjektiv oder objektiv keine bedeutsamen Entlastungsgründe gegeben sind, die
das Verschulden in einem milderen Licht erscheinen lassen (BGE 118 V 307 Erw.
2b und RKUV 1987 Nr. U 20 S. 324 Erw. 1 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 119 V
246 Erw. 3d/aa).

3.
Das kantonale Gericht hat erwogen, aufgrund der Akten bestehe kein Anlass,
von der Beurteilung des Bezirksamtes gemäss Strafverfügung vom 21. August
2003 abzuweichen. Danach sei der Versicherte wegen Fahrens in angetrunkenem
Zustand und nicht den Strassenverhältnissen angepasster Geschwindigkeit
schuldig gesprochen worden. Im Unfallzeitpunkt (02.10 Uhr) habe die
Blutalkoholkonzentration mindestens 0,81 Gewichtspromille betragen. Die
dagegen vorgebrachten Einwendungen überzeugten nicht. Insbesondere sei der
Zeitpunkt der Blutentnahme (03.45 Uhr) aufgrund der Ausführungen im
Strafbefehl gesichert. Die Annahme des Trinkschlusses (01.30 Uhr) stütze sich
auf die Aussagen des Beifahrers des Versicherten. Der von der SUVA
angewendete Kürzungssatz von 20 % halte sich im Rahmen der Gerichtspraxis.

4.
4.1 Laut Bericht des Instituts für Rechtsmedizin des Spitals Z.________ vom 3.
Juni 2003 betrug die Blutalkoholkonzentration zum Zeitpunkt der Blutentnahme
mindestens 0,79 o/oo. Daraus ergibt sich bei Trinkschluss um 01.30 Uhr und
einer Entnahme um 03.45 Uhr eine Blutalkoholkonzentration von mindestens 0,81
o/oo zur Zeit des Unfalles um ca. 02.10 Uhr (0,79 o/oo + 1/4 x 0,1 o/oo; vgl.
Erw. 2.2.1). Gegen die vorbehaltlose Übernahme dieser Berechnungsweise in der
Strafverfügung vom 21. August 2003 durch die Vorinstanz und den
Unfallversicherer wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu Recht
vorgebracht, dass der Zeitpunkt der Blutentnahme nicht aktenkundig ist. 03.45
Uhr wird im Straferkenntnis, nicht aber im Bericht des Rechtsmedizinischen
Instituts des Spitals Z.________ genannt. Auf den Zeitpunkt der Blutentnahme
beim Mitfahrer (03.54 Uhr) kann nicht abgestellt werden, da diese nicht durch
das Spital Z.________, sondern durch Dr. med. A.________ erfolgte. Eine
möglichst genaue Kenntnis dieses Zeitpunktes ist indessen von entscheidender
Bedeutung, da bereits bei einer Entnahme einige Minuten vor 03.45 Uhr die
massgebliche Blutalkoholkonzentration weniger als 0,8 o/oo betrüge. Dies gilt
umso mehr, als auch der Zeitpunkt des Trinkendes nicht als hinreichend
gesichert gelten kann. Die im Polizeirapport vom 6. Juni 2003 angegebenen
01.30 Uhr stammen vom Beifahrer. Ob sie auch für den Beschwerdeführer
zutrifft, ist unklar.
Aufgrund der Akten kann somit nicht gesagt werden, ob der Straftatbestand des
Führens eines Motorfahrzeuges in angetrunkenem Zustand objektiv erfüllt ist.

4.2 Den zweiten Vorwurf in der Strafverfügung vom 21. August 2003 des Fahrens
mit nicht den Strassenverhältnissen angepasster Geschwindigkeit nach Art. 32
Abs. 1 SVG hat das kantonale Gericht ohne weiteres als zutreffend erachtet.
Ob diese Verkehrsregelverletzung für sich allein genommen eine
Leistungskürzung nach Art. 37 Abs. 2 erster Satz UVG rechtfertigte, hat es
nicht geprüft. Es hat den als gegeben erachteten Regelverstoss lediglich
sinngemäss im Rahmen einer Angemessenheitskontrolle (Art. 132 lit. a OG; BGE
114 V 316 Erw. 5a) als zusätzliches Argument verwendet, um den hauptsächlich
wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand festgesetzten Kürzungssatz von 20 % zu
bestätigen.
Laut Strafverfügung vom 21. August 2003 war der Beschwerdeführer mit
übersetzter Geschwindigkeit unterwegs. Zur Begründung wird auf das Spurenbild
hingewiesen. Dies allein erlaubt nicht den Schluss auf ein grob fahrlässiges
Verhalten. Es kommt massgeblich auf die objektiven und subjektiven
Verumständungen an. Dazu zählen neben dem Ausmass der
Geschwindigkeitsüberschreitung insbesondere die topografischen und die
Witterungsverhältnisse (illustrativ BGE 119 V 247 Erw. 3d/bb sowie die in BGE
114 V 316 Erw. 5b erwähnten Urteile). Gemäss Polizeirapport vom 6. Juni 2003
beschrieb die Strasse an der Unfallstelle eine Linkskurve und sie wies ein
Gefälle auf. Es herrschten trockene Verhältnisse. Die erlaubte
Höchstgeschwindigkeit betrug 80 km/h. Ebenfalls können ein jugendliches Alter
sowie fehlende Fahrpraxis und Unerfahrenheit im Strassenverkehr das
Verschulden in einem milderen Licht erscheinen lassen (vgl. Urteil W. vom 9.
Februar 1989 [U 29/88], auszugsweise wiedergegeben im SUVA-Bericht 1989 Nr. 6
S. 11).
Ob eine Leistungskürzung wegen Fahrens mit nicht den Strassenverhältnissen
angepasster Geschwindigkeit in Betracht fällt, braucht hier nicht
abschliessend geprüft zu werden. Die Sache ist nach dem in Erw. 4.2 Gesagten
ohnehin nicht spruchreif.

4.3 Unter Beachtung des Vorstehenden wird das kantonale Gericht nach Beizug
der Strafakten und allenfalls weiteren Abklärungen über die streitige Kürzung
von Leistungen der Unfallversicherung neu zu entscheiden haben. In diesem
Sinne ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde begründet.

5.
Dem Prozessausgang entsprechend hat der durch die Schweizer
Paraplegiker-Vereinigung vertretene Beschwerdeführer Anspruch auf eine u.a.
nach dem Vertretungsaufwand bemessene Parteientschädigung (Art. 159 OG in
Verbindung mit Art. 135 OG, Art. 2 Abs. 1 des Tarifs über die Entschädigungen
an die Gegenpartei für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht und Art. 160 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid vom 14. Juli 2004 aufgehoben und die Sache an das
Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau zurückgewiesen wird, damit es nach
Abklärungen im Sinne der Erwägungen über die Kürzung der Geldleistungen aus
dem Unfall vom 31. Mai 2003 neu entscheide.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die SUVA hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1200.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 29. Juni 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: