Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 33/2004
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U 33/04

Urteil vom 22. Juni 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiberin Bollinger

M.________, 1952, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Markus
Zimmermann, Dell'Olivo Frey & Pribnow, Stadtturmstrasse 10, 5400 Baden,

gegen

SWICA Versicherungen AG, Römerstrasse 38, 8400 Winterthur, Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 10. Dezember 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1952 geborene M.________ wurde am 24. Juni 2000 auf dem Arbeitsweg in
einen Verkehrsunfall verwickelt, wobei sie sich Prellungen und Schürfungen
zuzog. Am 26. Juni 2000 begab sie sich zu Dr. med. Z.________, Innere Medizin
FMH, in Behandlung. Mit Zeugnis vom 30. Juni 2000 bescheinigte dieser den
Abschluss der Behandlung per 29. Mai (recte: Juni) 2000 und eine vollständige
Arbeitsfähigkeit ab 29. Juni 2000. Die SWICA Versicherungen AG, Winterthur
(SWICA), kam für die Heilbehandlung auf und richtete Taggelder aus. Am 6.
Juli 2000 suchte M.________ Dr. med. S.________, FMH für Neurologie,
Psychiatrie und Psychotherapie, auf, der eine posttraumatische
Belastungsstörung mit leichter Depression und massiven Angstzuständen nach
Unfall (ICD-10 F43.1) diagnostizierte und der Versicherten bis auf Weiteres
eine vollständige Arbeitsunfähigkeit bescheinigte. Am 1. September 2000
verfügte die SWICA den Fallabschluss per 29. Juni 2000. Nachdem M.________
hiegegen interveniert hatte, zog die SWICA mit Schreiben vom 12. September
2000 ihre Verfügung zurück und erbrachte für die somatischen Unfallfolgen
(Beschwerden am linken Arm) weiterhin Leistungen. Mit Verfügung vom 10.
Oktober 2000 lehnte sie nach weiteren medizinischen Abklärungen eine
Leistungspflicht für die psychiatrische Behandlung ab. Auf dagegen erhobene
Einsprache hin und nach erneuten medizinischen Untersuchungen, insbesondere
einer Begutachtung in der Medizinischen Abklärungsstelle der
Invalidenversicherung X.________ (Gutachten vom 11. Dezember 2001), verfügte
die SWICA am 27. Mai 2002, dass der Leistungsanspruch am 9. November 2001
erloschen sei, weshalb M.________ die seither erbrachten Leistungen
zurückzuerstatten habe bzw. diese intern mit den Krankentaggeldleistungen
verrechnet würden. Die dagegen erhobene Einsprache wies die SWICA am 21.
Februar 2003 ab.

B.
M.________ liess Beschwerde führen, welche das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau mit Entscheid vom 10. Dezember 2003 abwies.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt M.________ die Ausrichtung eines
100%-igen UVG-Taggeldes bzw. einer vollen Rente beantragen.

Die SWICA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde; das
Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf Vernehmlassung.

Am 5. Mai 2004 lässt M.________ eine Stellungnahme zur Beschwerdeantwort der
SWICA zu den Akten reichen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Vorinstanz hat die gesetzliche Grundlage zur Leistungspflicht bei
Unfällen (Art. 6 UVG) sowie die Rechtsprechung zur Beurteilung des adäquaten
Kausalzusammenhangs zwischen einem Unfall und der in der Folge eingetretenen
psychischen Fehlentwicklung mit Einschränkung der Arbeits- und
Erwerbsfähigkeit (BGE 115 V 133), zum Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V 195 Erw. 2, je mit
Hinweisen) und zum Beweiswert medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 125 V
352 Erw. 3) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

Das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen
Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 modifiziert die
materielle Rechtslage nicht (vgl. Ueli Kieser, ATSG-Kommentar: Kommentar zum
Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6.
Oktober 2000, Zürich 2003, N 5 zu Art. 4).

2.
2.1 Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe die Adäquanz der
psychischen Fehlentwicklung beurteilt, ohne das Gutachten der Fachärztin Dr.
med. D.________, Psychiatrie und Psychotherapie, vom 1. Mai 2003 in der
Urteilsbegründung zu erwähnen und zu erläutern, weshalb es den darin
enthaltenen Einschätzungen, insbesondere der Auffassung, wonach der Unfall
vom 24. Juni 2000 einzige Ursache der psychischen Beschwerden sei, nicht
folge.

2.2 Gemäss Art. 35 Abs. 1 und Art. 61 Abs. 2 VwVG (anwendbar nach Art. 1 Abs.
3 VwVG; vgl. auch Art. 61 ATSG) sind die kantonalen Gerichte verpflichtet,
ihre Entscheide zu begründen. Das VwVG statuiert damit lediglich den
Grundsatz der Begründungspflicht, regelt aber im Einzelnen nicht, welchen
Anforderungen bezüglich Inhalt und Umfang der Begründung ein kantonaler
Beschwerdeentscheid zu genügen hat. Indes entspricht es allgemeinen
rechtsstaatlichen Prinzipien, insbesondere dem verfassungsrechtlichen
Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV), dass die
Entscheidungsgründe der Betroffenen bekanntgegeben werden (BGE 117 Ia 3 Erw.
3, 116 II 632 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 117 Ib 492 Erw. 6b/bb mit
Hinweisen). Die Begründung muss so abgefasst sein, dass die betroffene Person
den Entscheid gegebenenfalls sachgerecht anfechten kann, weshalb zumindest
kurz die Überlegungen genannt werden müssen, von denen sich die Behörde
leiten liess und auf welche sie ihren Entscheid stützt (BGE 119 I 269 Erw.
4d). Das bedeutet nicht, dass sie sich ausdrücklich mit jeder
tatbeständlichen Behauptung und jedem rechtlichen Einwand auseinandersetzen
muss. Vielmehr kann sie sich auf die für den Entscheid wesentlichen
Gesichtspunkte beschränken (BGE 117 Ib 86, 492 Erw. 6b/bb, je mit Hinweisen;
vgl. ferner BGE 99 V 188; RKUV 1988 Nr. U 36 S. 44 f., 1996 Nr. U 245 S. 156
sowie in BGE 120 V 378 nicht veröffentlichte Erw. 1a).

2.3
2.3.1Es trifft zu, dass das kantonale Gericht das von der Beschwerdeführerin
im vorinstanzlichen Verfahren eingereichte Gutachten der Psychiaterin Dr.
med. D.________ im Sachverhalt nicht anführte, was mangelhaft erscheinen mag.
Die Expertise ist jedoch in Erw. 3c des angefochtenen Entscheides global
erfasst, indem dort von den medizinischen Berichten die Rede ist, welche sich
mit den psychischen Beschwerden befassen.

Die Vorinstanz erwägt, eine Würdigung der ärztlichen Einschätzungen sei
entbehrlich, weil auf die Prüfung des natürlichen Kausalzusammenhangs
verzichtet werden könne, wenn die Adäquanz zu verneinen sei. Dies ist
insoweit nicht zu beanstanden, als es - selbst wenn aufgrund zusätzlicher
Abklärungen der natürliche Kausalzusammenhang zu bejahen wäre - nach den
zutreffenden Erwägungen im angefochtenen Entscheid an der Adäquanz des
Kausalzusammenhangs fehlt (SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67; Erw. 3.2.2 und 3.2.3
hienach).

2.3.2 Die Frage nach der adäquaten Kausalität von Unfallfolgen ist eine
Rechtsfrage (BGE 117 V 382 Erw. 4a mit Hinweis). Es ist deshalb nicht Sache
der Ärzte, das Unfallereignis zu gewichten; dies steht allein dem Gericht zu.
Der mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhobene Einwand, aufgrund der
Einschätzungen der Frau Dr. med. D.________ und des Dr. med. S.________ seien
die psychischen Beschwerden überwiegend wahrscheinlich Folgen des am 24. Juni
2000 erlittenen Unfalles, ist deshalb unbehelflich. Aus demselben Grund geht
auch die Argumentation der SWICA in ihrer Vernehmlassung vom 16. März 2004
fehl, Abklärungsstellen-Arzt Dr. med. W.________ habe nicht nur die
natürliche Kausalität verneint, sondern gleichzeitig auch die Frage nach der
Adäquanz beantwortet.

2.3.3 Ob eine Verletzung der Begründungspflicht vorliegt, kann im Übrigen
letztlich offen bleiben. Selbst wenn ein Begründungsdefizit zu bejahen wäre,
läge jedenfalls kein derart schwerer Mangel vor, dass dieser angesichts der
vollen Kognition des Eidgenössischen Versicherungsgerichts (Art. 132 OG) im
letztinstanzlichen Verfahren keiner Heilung zugänglich wäre. Der Versicherten
war es ohne weiteres möglich, den kantonalen Entscheid sachgerecht
anzufechten, zumal sie sich zu den psychischen Unfallfolgen einlässlich
geäussert hat. Soweit dem rechtlichen Gehör im vorinstanzlichen Verfahren
nicht genügend Rechnung getragen worden wäre, kann diese Verletzung demnach
im letztinstanzlichen Verfahren als geheilt gelten (BGE 127 V 437 Erw. 3d/aa
mit Hinweisen).

3.
3.1 Was die somatischen Unfallfolgen betrifft, ist nicht mehr umstritten, dass
die Leistungspflicht der SWICA am 9. November 2001 geendet hat.

3.2 Streitig und zu prüfen ist, wie es sich mit der Leistungspflicht der
Versicherung für die persistierenden psychischen Beschwerden verhält.

3.2.1 Nach der Rechtsprechung hat die Beurteilung, ob ein Unfall unter
besonders dramatischen Begleitumständen passiert ist oder besonders
eindrücklich war, ausgehend vom objektiven Geschehensablauf zu erfolgen (RKUV
2000 Nr. U 394 S. 313). Nicht was in der einzelnen betroffenen Person beim
Unfall psychisch vorgeht - sofern sich dies überhaupt zuverlässig feststellen
lässt - ist entscheidend, sondern die objektive Eignung solcher
Begleitumstände, psychische Abläufe in Bewegung zu setzen, welche an
nachfolgenden Fehlentwicklungen mitbeteiligt sein können (RKUV 1999 Nr. U 335
S. 207).

Bezüglich des Unfallgeschehens ist davon auszugehen, dass die Versicherte mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V 195 Erw. 2, je
mit Hinweisen) beim Ausweichen eines ausser Kontrolle geratenen Autos eine
Treppe hinabgestürzt ist, wobei sie sich Prellungen und Schürfungen im
Bereich des rechten Unterarmes, der Handfläche palmar links sowie am rechten
Unterschenkel und am Rippenbogen links zuzog. Zwar ist nachvollziehbar, dass
sie, als sie nachts auf einem Trottoir gehend unvermittelt einem auf sie
zufahrenden Auto ausweichen musste und dabei eine Kellertreppe hinabstürzte,
heftig erschrak. Die von der Psychiaterin als "traumatische Zange"
bezeichnete Situation der Beschwerdeführerin beim Unfall, welche ein Gefühl
der Angst und des völligen Ausgeliefertseins verursacht habe, widerspiegelt
jedoch einzig das subjektive Empfinden der Versicherten, während der
objektive Geschehensablauf nach den zutreffenden Erwägungen im angefochtenen
Entscheid das Adäquanzkriterium der besonderen Eindrücklichkeit oder
besonders dramatischen Begleitumstände nicht erfüllt.

3.2.2 Schliesslich ist die Rechtsprechung zur Adäquanz bei psychischen
Störungen nach Schreckereignissen (BGE 129 V 177) nicht anwendbar, da die
Versicherte körperliche Verletzungen davon getragen hat. Die Beurteilung kann
daher nicht nach der gewöhnlichen Adäquanzformel erfolgen (Urteil C. vom 19.
März 2003, U 15/00). Selbst nach der Rechtsprechung zu den
Schreckereignissen, wonach nur aussergewöhnliche Ereignisse (d.h. gewaltsame,
in unmittelbarer Gegenwart der Versicherten sich abspielende Vorfälle, die in
ihrer überraschenden Heftigkeit geeignet sind, bei einer weiten Bandbreite
von Versicherten durch Störung des seelischen Gleichgewichts typische Angst-
und Schreckwirkungen wie Lähmungen, Herzschlag etc. hervorzurufen; RKUV 2000
Nr. U 394 S. 313), verbunden mit einem psychischen Schock, geeignet sind,
eine psychische Fehlentwicklung auszulösen, wäre die Adäquanz eindeutig zu
verneinen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.

Luzern, 22. Juni 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: