Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 336/2004
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U 336/04

Urteil vom 9. Februar 2005
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiber Hochuli

H.________, 1974, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecherin Daniela
Mathys, Schwarztorstrasse 7, 3007 Bern,

gegen

Winterthur Versicherungen, General Guisan-Strasse 40, 8400 Winterthur,
Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 23. August 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1974 geborene H.________ war als Teilzeit-Angestellter der Firma
X.________ bei den Winterthur Versicherungen (nachfolgend: Winterthur oder
Beschwerdegegnerin) obligatorisch gegen Berufs- und Nichtberufsunfälle
versichert, als er sich anlässlich der Teilnahme an einem Thaibox-Wettkampf
am 24. Mai 2002 ein Schädelhirntrauma zuzog. Die Winterthur kürzte die im
Zusammenhang mit diesem Unfall zu erbringenden Geldleistungen um 50 %, weil
die Teilnahme an einem solchen Fullcontact-Wettkampf ein absolutes Wagnis
darstelle (Verfügung vom 16. August 2002) und hielt daran mit
Einspracheentscheid vom 23. Dezember 2003 fest.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde des H.________ wies das Verwaltungsgericht
des Kantons Bern mit Entscheid vom 23. August 2004 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt H.________ die ungekürzte Ausrichtung
der Geldleistungen beantragen. Eventuell sei die Sache zu weiteren
Abklärungen des Sachverhalts an die Winterthur zurückzuweisen. Auf den
nachzuzahlenden Geldleistungen sei ein Verzugszins von 5 % zuzusprechen.
Zudem sei die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.

Während die Winterthur auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen zum Begriff des Wagnisses
(Art. 39 UVG in Verbindung mit Art. 50 Abs. 2 UVV), welcher mit jenem
identisch ist, der unter der Herrschaft des bis 31. Dezember 1983 in Kraft
gestandenen KUVG gültig war, sowie die dazu entwickelte Rechtsprechung,
welche zwischen absoluten und relativen Wagnissen unterscheidet (BGE 125 V
313 Erw. 1, 112 V 47 Erw. 2a und 300 Erw. 1b, je mit Hinweisen; siehe auch
BGE 113 V 223 Erw. 3c und SVR 1997 UV Nr. 81 S. 294 Erw. 3a), zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

1.2 Ergänzend ist auf RKUV 2001 Nr. U 424 S. 205 Erw. 2a hinzuweisen, wonach
unter anderem die aktive Teilnahme an Boxwettkämpfen als absolutes Wagnis
gilt. Ein solches liegt bei Handlungen vor, welche - unabhängig von der
Ausbildung, der Vorbereitung, der Ausrüstung und den Fähigkeiten der
versicherten Person - objektiv mit so grossen Gefahren verbunden sind, dass
diese auch unter günstigsten Bedingungen nicht auf ein vernünftiges Mass
reduziert werden können (BGE 112 V 47 Erw. 2a [= Pra 1987 Nr. 223 S. 761],
RKUV 1996 Nr. U 250 S. 186; vgl. auch Morger, Wagnis im Rahmen neuer
Freizeitbetätigungen und Sportarten, in: Collezione Assista, Festschrift aus
Anlass des 30-jährigen Bestehens der Assista TCS SA, Genf 1998, S. 396 ff.,
insbesondere S. 403 mit Hinweisen).

2.
Fest steht, dass der Versicherte die Kopfverletzung am 24. Mai 2002 während
einem Thaibox-Wettkampf erlitt. Unbestritten ist sodann, dass bei diesem
Fullcontact-Wettkampf Schläge mit Fäusten und Beinen, nicht aber Ellbogen
erlaubt waren, dass der Beschwerdeführer diesen Wettkampf gewann und die
Teilnehmer bei diesem Wettkampf Boxhandschuhe sowie einen Mund- und einen
Tiefschutz, jedoch keinen Kopfschutz trugen. Schliesslich wird zu Recht von
keiner Seite bestritten, dass es sich bei der aktiven Teilnahme an einem
Thaibox-Wettkampf um ein absolutes Wagnis handelt.

3.
Streitig ist die Kürzung der Geldleistungen um 50 % gestützt Art. 39 UVG in
Verbindung mit Art. 50 Abs. 2 UVV. Dabei ist zu prüfen, ob die Winterthur zu
Recht auf die exakte Ermittlung des konkret schädigenden Schlages
verzichtete.

3.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, die ausgeübte Kampfsportart beinhalte
harte Körperangriffe. Trete bei Einhaltung der Wettkampfregeln eine
Verletzung ein, gehöre sie zu dem dieser Sportart inhärenten Risiko.
Vorliegend habe der Versicherte jedoch durch den unerlaubten Einsatz des
Ellbogens seines Wettkampfgegners eine schwere Körperverletzung im Sinne des
Strafgesetzbuches erlitten. Diese sei eine adäquat kausale Folge der
Regelverstösse des Wettkampfgegners, nicht aber des dieser Sportart
innewohnenden Risikos. Die Beschwerdegegnerin habe es deshalb in Verletzung
der ihr obliegenden Untersuchungspflicht unterlassen, rechtsgenüglich
abzuklären, ob der Versicherte die Kopfverletzung bei regelkonformer Ausübung
des Wettkampfes oder anlässlich einer schwerwiegenden Missachtung der
Spielregeln erlitten habe. Die mit angefochtenem Entscheid geschützte
Rechtsauffassung der Winterthur bedeute unter anderem einen Freipass des
Schädigers für Körperverletzungen im Rahmen von (absoluten) Wagnissen und
führe auch zu einem Ausschluss allfälliger Regressansprüche des
Sozialversicherungsträgers gegenüber dem Schädiger.

3.2 Mit Verwaltung und Vorinstanz ist festzuhalten, dass in Bezug auf die
Kürzung der Geldleistungen im Sinne von Art. 39 UVG in Verbindung mit Art. 50
Abs. 2 UVV wegen aktiver Teilnahme an einem Thaibox-Wettkampf hier die Frage,
ob die konkrete Kopfverletzung auf einen Regelverstoss zurückzuführen ist,
offen bleiben kann. Steht nämlich fest, dass ein Thaibox-Wettkampf als
absolutes Wagnis gilt und der Gesundheitsschaden während der laufenden
Wettkampfaustragung zugefügt wurde (Erw. 2 hievor), ist unerheblich, ob das
erlittene Schädelhirntrauma durch einen regelkonformen Faustschlag ins nicht
abgedeckte Gesicht oder durch einen regelwidrigen Ellbogenschlag an den
ungeschützten Kopf eintrat. Denn wie beim Boxwettkampf (vgl. EVGE 1962 S. 282
Erw. 2) besteht auch beim Thaibox-Wettkampf das Hauptziel im Knock-out des
Gegners. Dabei muss ein Wettkampf-Boxer das Risiko von regelwidrigen
Angriffen seines Gegners in Kauf nehmen, im Wissen darum, dass es der
Funktion des anwesenden Kampfrichters entspricht, gegen erfolgte
Regelverstösse einzuschreiten und gegebenenfalls Sanktionen auszusprechen. Da
die Teilnahme an einem Thaibox-Wettkampf objektiv mit so grossen Gefahren
verbunden ist, welche auch unter günstigsten Bedingungen nicht auf ein
vernünftiges Mass reduziert werden können (Erw. 1.2 hievor), ist hier für die
Leistungskürzung nach Art. 39 UVG in Verbindung mit Art. 50 Abs. 2 UVV einzig
vorauszusetzen, dass die schädigende Einwirkung während einer laufenden
Kampfrunde erfolgte, unabhängig davon, ob der konkret verletzende Schlag
regelkonform oder regelwidrig ausgeführt wurde. Dies gilt um so mehr als im
Gegensatz zum normalen Boxwettkampf beim Thaibox-Wettkampf nicht nur
Box-Schläge, sondern auch Tritttechniken mit den Füssen auf die Beine, zum
Kopf und Körper sowie zum Rücken des Gegners hin zulässig sind und folglich
das Verletzungsrisiko dementsprechend grösser ist.

3.3 Was der Beschwerdeführer im Übrigen gegen den vorinstanzlichen Entscheid
vorbringt, ist nicht stichhaltig. Insbesondere gehört es nicht in den
Zuständigkeitsbereich des Sozialversicherungsprozesses, die Frage nach der
allfälligen strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Wettkampfgegners des
Versicherten zu beantworten. Sodann ist aus dem Umstand, dass die konkrete
Ermittlung der zur Verletzungsfolge führenden Ursache (regelkonformer
Box-Schlag oder regelwidriger Stoss mit dem Ellbogen) hier nicht von
Bedeutung ist, nicht die Schlussfolgerung zu ziehen, Teilnehmer eines
Thaibox-Wettkampfes könnten, ohne strafrechtliche und/oder zivilrechtliche
Konsequenzen befürchten zu müssen, ihren Gegnern unter Missachtung der
Spielregeln Körperverletzungen zufügen. Die hier zur Diskussion stehende
Leistungskürzung bei Wagnissen basiert denn auch nicht auf pönalen
Überlegungen (vgl. Morger, a.a.O., S. 402), sondern bezweckt lediglich, dass
der Gesamtheit der Versicherten nicht die Übernahme der Schadensfolgen einer
solchen, als absolutes Wagnis zu qualifizierenden Handlung zugemutet werden
soll (BGE 112 V 47 Erw. 2a).

3.4 Steht nach dem Gesagten fest, dass die Beschwerdegegnerin im vorliegenden
Fall zu Recht auf weitere Abklärungen in Bezug auf die genaue Ermittlung des
für den Gesundheitsschaden ursächlichen Schlages verzichtete, ist der
angefochtene Entscheid, womit die Vorinstanz die von der Winterthur verfügte
Leistungskürzung infolge eines Wagnisses schützte, nicht zu beanstanden.

4.
4.1 Da es im vorliegenden Verfahren um Versicherungsleistungen geht, sind
gemäss Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben. Das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten
erweist sich daher als gegenstandslos.

4.2 Die unentgeltliche Verbeiständung kann gewährt werden (Art. 152 OG in
Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die
Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung geboten
war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Es wird
indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die
begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie
später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Fürsprecherin
Daniela Mathys, Bern, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
(BAG) zugestellt.

Luzern, 9. Februar 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: