Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 270/2004
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U 270/04

Urteil vom 24. Februar 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber Jancar

M.________, 1951, Deutschland, Beschwerdeführer,

gegen

Winterthur Schweizerische Versicherungs-Gesellschaft, Generaldirektion,
General Guisan-Strasse 40, 8400 Winterthur, Beschwerdegegnerin, vertreten
durch Fürsprecher René W. Schleifer, Stampfenbachstrasse 42, 8006 Zürich

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 26. Mai 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1951 geborene M.________ arbeitete seit 1. März 1997 als technischer
Leiter bei der Firma Q.________ AG in der Schweiz. Am 19. Januar 1998 stürzte
er auf vereister Strasse und zog sich eine Distorsion am linken oberen
Sprunggelenk (OSG) sowie Prellungen an rechter Hand und Schulter zu. Die
Winterthur Schweizerische Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend Winterthur)
als zuständiger Unfallversicherer erbrachte die gesetzlichen Leistungen
(Heilbehandlung und Taggeld). Am 7. Januar 1999 wurde im Spital X.________,
Chirurgische Abteilung, folgende Diagnose gestellt: chronisches unklares
Schmerzsyndrom im Bereich der linken Achillessehne mit Mitbeteiligung des
Fusses; Status nach lateraler Bandplastik links 1995; Status nach
Halswirbelsäulen-Versteifung C5/6 und C6/7 vor ca. 8 Jahren; Status nach
Sudeck-Dystrophie im Bereich des rechten Kniegelenks nach Kniegelenksrevision
in der Klinik Y.________ ca. 1976; Diabetes mellitus; chronisch-venöse
Insuffizienz Stadium II beidseits; Status nach Appendicitis perforata. Da der
Versicherte an einer schmerzhaften isolierten hinteren Arthrose des linken
unteren Sprunggelenks (USG) mit konsekutiver Achillodynie litt, wurde er am
13. April 1999 im Spital Z.________ operiert (isolierte hintere
USG-Arthrodese mit Schraubenfixation). Mit Verfügung vom 24. November 1999
sprach ihm die Winterthur für die aus dem Unfall vom 19. Januar 1998 folgende
Beeinträchtigung des linken Sprunggelenks eine Integritätsentschädigung von
25 % zu, die sie wegen eines krankhaften Vorzustandes um 50 % kürzte. Die
hiegegen erhobene Einsprache wies sie mit unangefochten in Rechtskraft
erwachsenem Entscheid vom 17. März 2000 ab. Im Zusammenhang mit einem
Verkehrsunfall seiner Ehefrau vom 10. November 2000 reichte der Versicherte
der Winterthur als ihrem Haftpflichtversicherer Abrechnungen über seine freie
Mitarbeit für ihre Firma P.________ in Deutschland im Zeitraum vom 11.
November 2000 bis 19. November 2001 ein. Danach stellte die Winterthur ihre
Leistungen an den Versicherten ein, worauf er ihr keine Abrechnungen mehr
einreichte. Mit Verfügung vom 3. Dezember 2001 sprach die IV-Stelle für
Versicherte im Ausland dem Versicherten ab 1. September 2001 bei einem
Invaliditätsgrad von 70 % eine ganze Invalidenrente zu. Am 9. Januar 2002
beantragte der Versicherte bei der Winterthur die Ausrichtung einer
Komplementärrente zur Rente der Invalidenversicherung. Zur Abklärung der
Verhältnisse zog die Winterthur diverse Arztberichte sowie die IV-Akten bei.
Mit Verfügung vom 6. Juni 2002 verneinte sie den Anspruch auf eine
Invalidenrente, da auf Grund der Abrechnungen des Versicherten über seine
Tätigkeit für die Firma P.________ keine Erwerbsunfähigkeit vorliege. Die
dagegen erhobene Einsprache wies sie mit Entscheid vom 2. Dezember 2002 ab.

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau mit Entscheid vom 26. Mai 2004 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt der Versicherte, in Aufhebung des
kantonalen Entscheides sei ihm die Komplementärrente in vollem Umfang zu
gewähren; die Winterthur sei aufzufordern, ihm die ausstehenden Beträge
(Komplementärrente) samt Zinsen zu überweisen.
Die Winterthur schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Am 19. Oktober 2004 kündigte der Versicherte an, er werde zur Vernehmlassung
der Winterthur eine Stellungnahme einreichen, was er jedoch nicht tat.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Vorinstanz hat richtig erwogen, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft
getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 nicht anwendbar ist (BGE
129 V 4 Erw. 1.2, 356 Erw. 1).
Im Weiteren hat das kantonale Gericht die Bestimmungen und Grundsätze über
die Gewährung von Versicherungsleistungen bei Unfällen (Art. 6 Abs. 1 UVG),
den Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 18 Abs. 1 UVG), den für die
Leistungspflicht des Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen und
adäquaten Kausalzusammenhang zwischen Unfall und eingetretenem Schaden
(Krankheit, Invalidität, Tod; BGE 129 V 181 Erw. 3.1 und 3.2 mit Hinweisen;
RKUV 2003 Nr. U 487 S. 347 f. Erw. 5.2.2) sowie den Wegfall dieses
ursächlichen Zusammenhangs und damit des Leistungsanspruchs der versicherten
Person bei Erreichen des status quo sine vel ante sowie die sich dabei
stellenden Beweisfragen (RKUV 2000 Nr. U 363 S. 45, 1994 Nr. U 206 S. 328)
zutreffend dargelegt. Gleiches gilt zu dem im Sozialversicherungsrecht
geltenden Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 129 V 153 Erw.
2.1 mit Hinweisen), zum Grundsatz der freien Beweiswürdigung und zum
Beweiswert eines Arztberichts (BGE 125 V 352 Erw. 3a; RKUV 2003 Nr. U 487 S.
345 Erw. 5.1). Darauf wird verwiesen.

2.
2.1 Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt,
sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen
Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung
des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der
Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG).
Die dem Eidgenössischen Versicherungsgericht in Leistungsstreitigkeiten
zustehende Kognition hat u.a. zur Konsequenz, dass auch neue, erstmals im
letztinstanzlichen Verfahren vorgebrachte Tatsachenbehauptungen und
Beweismittel zu berücksichtigen sind (BGE 109 I b 248 f. Erw. 3b, 103 I b 196
Erw. 4a, 102 I b 127 Erw. 2a; RKUV 1988 Nr. K 769 S. 244 Erw. 5a). Das
(Noven-)Recht, den rechtserheblichen Sachverhalt noch im Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht durch neue Tatsachenbehauptungen und
Beweismittel zu ergänzen, steht allerdings wie jede Rechtsausübung unter dem
Vorbehalt des Rechtsmissbrauchs (Art. 2 Abs. 2 ZGB). Ein solcher liegt
namentlich dann vor, wenn es sich bei den neuen Beweismitteln um so genannte
unechte Noven handelt, die vom Beschwerdeführer ohne weiteres bereits im
vorinstanzlichen Rechtsmittelverfahren hätten eingebracht werden können und
deren verspätete Auflage im letztinstanzlichen Verfahren einzig zum Zweck
hat, Vorinstanz und Gegenpartei zu verunmöglichen, zur Rechtserheblichkeit,
Beweistauglichkeit und Beweiskraft der neuen Beweismittel bereits im Zuge des
erstinstanzlichen Rechtsmittelverfahrens Stellung nehmen zu können (Urteil C.
vom 28. Dezember 2004 Erw. 2.1, B 86/04, mit Hinweis).

2.2
2.2.1Im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall seiner Ehefrau vom 10. November
2000 reichte der Versicherte der Winterthur als Haftpflichtversicherer
Abrechnungen über seine Tätigkeit für ihre Firma P.________ ein. Daraus geht
hervor, dass er für diese Firma in der Zeit vom 11. November 2000 bis 19.
November 2001 als freier Mitarbeiter 4597,5 Arbeitsstunden (inklusive
Zeitaufwand für Auto- und Flugreisen sowie Arztbesuche mit der Ehefrau und
1530,5 Stunden als 100%iger Zuschlag für Überzeitstunden) geleistet hat.

2.2.2 Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde legt der Versicherte einen (nicht
unterzeichneten) Kommentar zu diesen Abrechnungen auf, worin er ausführt,
dass von den darin aufgeführten 4597,5 Stunden lediglich 1340,75 Stunden auf
ihn gefallen seien. Die übrigen Stunden seien von F.________ (ehemaliger
Mitarbeiter der Q.________ AG) und K.________ (Cousin) geleistet worden.
Zudem sei er von einem 8-Stundentag ausgegangen; alles was darüber liege, sei
als 100%iger Zuschlag verrechnet worden. In der Zeitabrechnung seien auch
Stunden enthalten, an denen er seine Frau zum Arzt etc. habe transportieren
müssen.
Diesen letztinstanzlichen Vorbringen ist entgegenzuhalten, dass die
Abrechnungen allesamt unter der Überschrift "M.________, ... Abrechnung als
freier Mitarbeiter für die Firma P.________ ... Arbeitszeiten, Fahrzeiten und
KM Abrechnung" erfolgten. Aus den Abrechnungen geht in keiner Weise hervor,
dass neben dem Versicherten noch weitere Personen die dort aufgeführten
Leistungen erbracht hätten. Im Fax-Schreiben an die Winterthur vom 10. April
2002 legte der Versicherte zwar dar, "dass es meine Firma ist, welche
Tätigkeiten für meine Frau ausgeübt hat, und nicht ich, danke". Er gab jedoch
nicht an, welche anderen Personen die Leistungen erbracht haben sollen. Auch
im vorinstanzlichen Verfahren tat er dies nicht, obwohl er in der dortigen
Beschwerde ausführte, die beschriebene Tätigkeit vom 11. November 2000 bis
19. November 2001 habe nicht so stattgefunden, wie von der Winterthur
dargestellt. In der vorinstanzlichen Replik führte er lediglich aus, er habe
im Betrieb seiner Ehefrau nur in geringem Umfang mitarbeiten können. Nach
ihrem Unfall habe er sie allerdings zu ihren geschäftlichen Terminen
begleitet, solange sie dies wegen ihren unfallbedingten Einschränkungen
benötigt habe. Diese Begleitung könne sicher nicht als eigentliche
Arbeitstätigkeit und -fähigkeit gewertet werden.
Wenn der Versicherte erstmals im letztinstanzlichen Rechtsmittelverfahren
angibt, welche weiteren Personen in welchem Umfang neben ihm an den
Tätigkeiten für die Firma P.________ mitbeteiligt gewesen sein sollen, geht
daraus klar hervor, dass er mit dieser Art der Prozessführung einzig
bezweckte, der Winterthur die Gehörsrechte abzuschneiden oder zu verkürzen
und dem kantonalen Gericht die Beweiswürdigung zu verunmöglichen. Dieses
Vorgehen stellt ein widersprüchliches sowie zweckwidriges und daher
rechtsmissbräuchliches Verhalten dar (vgl. BGE 121 II 103 Erw. 4 und 120 II
108 Erw. 3c, je mit Hinweisen), das verfahrensrechtlich unbeachtlich bleiben
muss (vgl. auch Urteil C. vom 14. Oktober 2004 Erw. 2.2.3, U 66/04).

3.
Das kantonale Gericht hat auf Grund der medizinischen Akten und angesichts
der vom Beschwerdeführer in der Zeit vom 11. November 2000 bis 19. November
2001 für die Firma P.________ ausgeführten Arbeiten zu Recht erkannt, dass
der Zustand vor dem Unfall vom 19. Januar 1998 (Status quo ante) erreicht
war. Denn die vom Versicherten für diese Firma erbrachten, in seinen
Abrechnungen detailliert aufgeführten Leistungen entsprachen der Arbeit eines
technischen Leiters, die er vor dem Unfall für die Q.________ AG ausgeübt
hatte. Gemäss dem von ihm angegebenen zeitlichen Einsatz war er voll
arbeitsfähig. Auf die anderslautenden ärztlichen Angaben kann unter diesen
Umständen nicht abgestellt werden. Denn die Tätigkeit für die Firma
P.________ wird in keinem der Arztberichte, die während ihrer Dauer oder
danach erstellt wurden, erwähnt. Es muss mithin davon ausgegangen werden,
dass die Ärzte ihre Einschätzung in Unkenntnis des Ausmasses der
tatsächlichen Arbeitstätigkeit des Versicherten abgegeben haben. Er macht
auch nicht geltend, dass er sich bei der Arbeit für die Firma P.________
überfordert oder dass sie zu einer Verschlechterung seines
Gesundheitszustandes geführt hätte. Unbehelflich ist sein Einwand, die
Abrechnungen für die Zeit vom 11. November 2000 bis 19. November 2001
beinhalteten auch Stunden, in denen er seine verunfallte Frau zum Arzt etc.
habe transportieren müssen. Denn dieser Zeitaufwand betrug laut den
Abrechnungen lediglich ca. 50 Stunden.
Im Weiteren hat die Vorinstanz zutreffend erwogen, dass das Vorliegen eines
natürlichen Kausalzusammenhangs zwischen dem Unfall und dem Diabetes mellitus
nicht als überwiegend wahrscheinlich nachgewiesen ist.
Die vorinstanzlich bestätigte Verneinung des Anspruchs auf eine
Komplementärrente ist daher rechtens. Weitere Abklärungen in medizinischer
Hinsicht erübrigen sich, da hievon keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind
(antizipierte Beweiswürdigung; BGE 124 V 94 Erw. 4b; RKUV 2003 Nr. U 473 S.
50 Erw. 3.4).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 24. Februar 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: