Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 258/2004
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Prozess {T 7}
U 258/04

Urteil vom 23. November 2006

I. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Ferrari, Ursprung, Schön und Borella;
Gerichtsschreiber Fessler

M.________, 1955, Beschwerdeführer,

gegen

Zürich Versicherungs-Gesellschaft, Recht Prozesse und UVG, 8085 Zürich
Versicherung,

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

(Entscheid vom 12. Juli 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1955 geborene M.________, Dr. med., arbeitet seit 1. Februar 1999 - ab
1. Juli 2000 in der Funktion eines Qualitätsbeauftragten - am Zentrum
X.________. Er ist bei der Zürich Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend:
Zürich) obligatorisch gegen die gesundheitlichen und erwerblichen Folgen von
Berufs- und Nichtberufsunfällen sowie Berufskrankheiten versichert. Gemäss
Bagatellunfall-Meldung UVG vom 3. Januar 2003 verletzte sich M.________ am
25. Dezember 2002 beim Wandern auf der Insel Tasmanien am linken Fuss. Als
Art der Schädigung wurde ein Bruch angegeben. Im «Fragebogen zur
obligatorischen Unfallversicherung» der Zürich vom 10. Januar 2003 schilderte
der Versicherte den Vorfall im Einzelnen wie folgt: «Mehrstündige Wanderung
im Freycinet Park mit Gepäck. Stechender Schmerz beim Bergabgehen, Ferse
links, professionelles Schuhwerk; zunächst Verdacht auf Zerrung, daher
Ruhigstellung ab 26.12.2002 (Fotos vorhanden).» Mit Verfügung vom 19. Februar
2003 verneinte die Zürich eine Leistungspflicht mit der Begründung, der
Vorfall vom 25. Dezember 2002 stelle weder einen Unfall noch eine
unfallähnliche Körperschädigung dar. Dagegen machte M.________
einspracheweise geltend, er habe auf der Wanderung am 25. Dezember 2002 zwei
Traumata erlitten, «als ich mit der linken Ferse aus einer senkrechten
Granitspalte nach unten abrutschte und mit dem linken Absatz auf einem
Felsvorsprung aufschlug» und «als ich beim Abstieg vom Mt. Graham über die
Südflanke (Granitfelsen) erneut einen Höhenunterschied von ca. 1,50 m
überwinden musste, und, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, den
Schwerpunkt reflexartig und unvorhergesehen auf den linken Fuss verlagerte».
Mit Einspracheentscheid vom 14. April 2003 bestätigte die Zürich die
Verfügung vom 19. Februar 2003.

B.
Die Beschwerde des M.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
nach zweifachem Schriftenwechsel mit Entscheid vom 12. Juli 2004 ab.

C.
M.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den Rechtsbegehren, der
kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben, der Vorfall vom 25. Dezember 2002
sei als Unfall, allenfalls als unfallähnliches Ereignis anzuerkennen und die
Zürich sei zu verpflichten, die gesetzlichen Leistungen zu erbringen. Im
Weitern werden verschiedene Beweisanträge gestellt.

Die Zürich beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

D.
In zwei weiteren Eingaben hat sich M.________ zur Sache geäussert.

E.
Am 23. November 2006 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht den Fall
parteiöffentlich beraten.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer am 25. Dezember 2002
einen Unfall im Sinne von alt Art. 9 Abs. 1 UVV (in Kraft gewesen bis
31. Dezember 2002) oder eine unfallähnliche Körperschädigung nach Art. 9
Abs. 2 UVV erlitten hat. Entgegen dem kantonalen Gericht kommt Art. 4 des am
1. Januar 2003 in Kraft getretenen Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über
den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) über den
Unfallbegriff nicht zur Anwendung (BGE 130 V 332 f. Erw. 2.2 und 2.3, 129 V 4
Erw. 1.2, 127 V 467 Erw. 1). Diese Feststellung ist allerdings insofern nicht
von Bedeutung, als Art. 4 ATSG inhaltlich mit alt Art. 9 Abs. 1 UVV
übereinstimmt und die hiezu ergangene Rechtsprechung weiterhin Gültigkeit hat
(RKUV 2004 Nr. U 530 [U 123/04] S. 576 Erw. 1.2 mit Hinweis auf Ueli Kieser,
ATSG-Kommentar, S. 56 ff. Rz 1 und 4 ff.).

Im angefochtenen Entscheid wird die Rechtsprechung zum Begriff der
Ungewöhnlichkeit und der Plötzlichkeit des äusseren Faktors als
begriffsnotwendige Merkmale eines Unfalles resp. einer unfallähnlichen
Körperschädigung zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.
Das kantonale Gericht ist bei der Beurteilung der Frage, ob der
Beschwerdeführer am 25. Dezember 2002 einen Unfall oder eine unfallähnliche
Körperschädigung erlitten hat, von der Schilderung im Fragebogen der Zürich
vom 10. Januar 2003 ausgegangen. Danach hat der Versicherte beim Bergabgehen
anlässlich einer mehrstündigen Wanderung einen stechenden Schmerz im linken
Fuss verspürt. Im Einzelnen hat die Vorinstanz erwogen, in Ziffer 2 des
Fragebogens werde deutlich darauf hingewiesen, der Vorgang, der zur
Körperschädigung geführt habe, müsse im Detail, präzise und vollständig
geschildert werden. Auf spätere Ergänzungen müsse der Versicherer nicht
eintreten. Der Beschwerdeführer habe in seiner Antwort die mehrstündige
Wanderung mit Gepäck, den stechenden Schmerz beim Bergabgehen in der linken
Ferse und das professionelle Schuhwerk genannt. Hätte der Vorfall im
Abrutschen und Aufschlagen bzw. in einer reflexartigen Abwehrbewegung
bestanden, wäre anzunehmen, dass er dies im Formular vermerkt haben würde. Im
E-Mail vom 18. Februar 2003 werde auf die besondere Topografie und Geologie,
die Marschdauer und die gepäckbedingte kinetische Energie hingewiesen. Auch
hier werde ein Aus- oder Abrutschen beim Bergabgehen nicht erwähnt. Die
Angaben in dem zwei Wochen nach dem Ereignis ausgefüllten Fragebogen vom
10. Januar 2003 könnten als «Aussage der ersten Stunde» gewertet werden,
welcher bei der Würdigung des Sachverhaltes besonderes Gewicht zukomme. Zudem
habe der Versicherte in der Beschwerde festgehalten, er habe auf dem Rückweg
am 1. Januar 2003 die Klinik Y.________ aufgesucht, um u.a.
differentialdiagnostisch einen Tumor sichern oder ausschliessen zu können.
Schlug er den Fuss tatsächlich auf, hätte er als Arzt doch wohl kaum einen
Tumor in Betracht gezogen. Überdies stehe die Schilderung vom 10. Januar 2003
mit der Beurteilung der Radiologen des Zentrums X.________ einer
«Ermüdungsfraktur des Calcaneus» in Einklang.

Ausgehend von den Angaben im Fragebogen der Zürich vom 10. Januar 2003 hat
die Vorinstanz mangels Ungewöhnlichkeit und Plötzlichkeit des äusseren
Faktors einen Unfall oder eine unfallähnliche Körperschädigung verneint.
Insbesondere lasse sich weder in der mehrstündigen Wanderung mit Gepäck noch
im Bergabgehen etwas Ungewöhnliches erkennen. Ebenfalls sei aufgrund der
medizinischen Akten davon auszugehen, dass der Versicherte am 25. Dezember
2002 eine Ermüdungsfraktur am Calcaneus links erlitten habe.

3.
3.1 Nach der Rechtsprechung hat die versicherte Person die Umstände des als
Unfall gemeldeten Ereignisses glaubhaft zu machen. Unvollständige, ungenaue
oder widersprüchliche Angaben zum Geschehensablauf können die Verneinung der
Leistungspflicht der Unfallversicherung zur Folge haben. Im Streitfall hat
das Sozialversicherungsgericht zu entscheiden, ob die einzelnen Merkmale des
Unfallbegriffs, insbesondere die Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors,
gegeben sind. Hiezu hat es im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes die
notwendigen Beweise zu erheben. Spricht der rechtserhebliche Sachverhalt
nicht wenigstens mit Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der einzelnen
Begriffsmerkmale - die blosse Möglichkeit genügt nicht -, ist ein Unfall im
Rechtssinne zu verneinen (BGE 116 V 140 Erw. 4b, 103 V 176 Erw. 2a; RKUV 2003
Nr. U 485 [U 307+308/01] S. 259 Erw. 5).

Bei sich widersprechenden Angaben des Versicherten über den Unfallhergang ist
auf die Beweismaxime hinzuweisen, wonach die sogenannten spontanen «Aussagen
der ersten Stunde» in der Regel unbefangener und zuverlässiger sind als
spätere Darstellungen, die bewusst oder unbewusst von nachträglichen
Überlegungen versicherungsrechtlicher oder anderer Art beeinflusst sein
können. Wenn der Versicherte seine Darstellung im Laufe der Zeit wechselt,
kommt den Angaben, die er kurz nach dem Unfall gemacht hat, meistens
grösseres Gewicht zu als jenen nach Kenntnis einer Ablehnungsverfügung des
Versicherers (BGE 121 V 47 Erw. 2a mit Hinweisen; vgl. auch BGE 130 III 328
Erw. 5, 130 V 120 Erw. 2.2.7 sowie RKUV 2004 Nr. U 512 [U 349/02] S. 283
Erw. 4.2).

Der Grundsatz, wonach die ersten Aussagen nach einem schädigenden Ereignis in
der Regel unbefangener und zuverlässiger sind als spätere Darstellungen,
stellt eine im Rahmen freier Beweiswürdigung zu berücksichtigende
Entscheidungshilfe dar. Sie kann nur zur Anwendung gelangen, wenn von
zusätzlichen Abklärungen keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (RKUV 2004
Nr. 524 [U 236/03] S. 546).

3.2 Im Lichte dieser Grundsätze lässt sich die vorinstanzliche
Sachverhaltswürdigung nicht beanstanden. Insbesondere durfte das kantonale
Gericht dem Umstand, dass der Versicherte trotz klarer Fragestellung zum
Vorfall vom 25. Dezember 2002 im Fragebogen der Zürich vom 10. Januar 2003
kein spezielles Ereignis nannte, das den Schmerz unmittelbar auslöste oder
mit zeitlicher Verzögerung im Sinne einer Teilursache ausgelöst haben könnte,
entscheidendes Gewicht beigemessen hat. Daran ändert nichts, dass er in der
Anmeldung Radiologie vom 3. Januar 2003 «Dauerschmerz Fuss links nach
Wanderung mit Aufschlag links» angegeben hatte. Abgesehen davon stellt das
harte Aufschlagen mit der linken Ferse auf dem Boden für sich allein genommen
keinen Vorgang aussergewöhnlicher Art dar. Darin kann keine für den
Unfallbegriff letztlich entscheidende Programmwidrigkeit (BGE 130 V 118
Erw. 2.1) erblickt werden, welche den Rahmen des Normalen und Üblichen beim
Bergabgehen in felsigem Gelände ohne gesicherten Weg mit bis zu 1,5 m hohen
Absätzen sprengte. Es kann sich insoweit nicht anders verhalten als bei jenem
Versicherten, welcher beim Ausstieg aus einem Wagen der S-Bahn bei einer
Tritthöhe von etwa 43 cm mit dem rechten Fuss hart auf dem Perron auftrat und
in der Folge von der Lendengegend ins Bein ausstrahlende Schmerzen verspürte
(nicht veröffentlichtes Urteil N. vom 2. Dezember 1993 [U 82/92]). In diesem
Zusammenhang kann daraus, dass bei oder nach einer Körperbewegung Schmerzen
auftreten, allein nicht auf eine ungewöhnliche Ursache im Sinne eines
programmwidrig gestörten Ablaufs geschlossen werden (Urteil G. vom 17. August
2004 [U 243/03] Erw. 3.2; vgl. auch BGE 129 V 180 Erw. 2.1 in fine und RKUV
2003 Nr. U 492 [U 56/01] S. 372 Erw. 2.2). Ebenfalls vermag die Bestätigung
der Sachverhaltsschilderung in der Einsprache durch die Ehefrau des
Versicherten nichts am vorinstanzlichen Beweisergebnis betreffend den
gemeldeten Vorfall vom 25. Dezember 2002 zu ändern. Aufgrund des Vorstehenden
hat die Vorinstanz zu Recht und insoweit unbestritten einen Unfall im
Rechtssinne verneint.

4.
Im Weitern ist nicht zu beanstanden, dass das kantonale Gericht aufgrund der
medizinischen Unterlagen davon ausgegangen ist, der Versicherte habe
überwiegend wahrscheinlich am 25. Dezember 2002 eine Ermüdungsfraktur am
Calcaneus links - und nicht eine «bone bruise» (Knochenprellung nach
Trauma) - erlitten. Die Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geben
zu keiner anderen Betrachtungsweise Anlass. Von diesbezüglichen Abklärungen
ist daher abzusehen. Der aus der Art der Verletzung gezogene Schluss der
Vorinstanz auf das Fehlen des Begriffsmerkmals der Plötzlichkeit (BGE 116
V 148 oben) ist nicht bestritten. Somit fällt auch eine unfallähnliche
Körperschädigung ausser Betracht.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
zugestellt.

Luzern, 23. November 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der I. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: