Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 222/2004
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2004
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2004


U 222/04

Urteil vom 30. November 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Ursprung und nebenamtlicher Richter Brunner;
Gerichtsschreiber Grünvogel

B.________, 1962, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Martin
Hablützel, Lutherstrasse 4, 8004 Zürich,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 13. Mai 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1962 geborene B.________ war seit 1. Juli 2000 bei der Firma T.________
GmbH als Chauffeur angestellt und in dieser Eigenschaft bei der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von
Berufsunfällen, Nichtbetriebsunfällen und Berufskrankheiten versichert. Der
Versicherte war im Jahre 1967 in seinem Heimatland Irak an Poliomyelitis
erkrankt und leidet seitdem an einer Parese des rechten Beines. Am Morgen des
14. Dezember 2001 stürzte er beim Einsteigen in sein Fahrzeug und zog sich
dabei eine LWS- und Hüftkontusion rechts zu. Wegen der Folgen des
Stolpersturzes stand er in der Klinik X.________ vom 6. März bis zum 24.
April 2002 in stationärer Behandlung. Es wurde u.a. eine Elektrotherapie
durchgeführt. Im Laufe dieses Aufenthaltes kam es zu einer gemischten
dissoziativen Störung im Rahmen einer retraumatischen chronifizierten
posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) nach schweren psychischen
Traumatisierungen im Herkunftsland (ICD-10 F44.7, F43.1). Gleichzeitig
stellten die Ärzte eine sekundäre leichtgradige depressive Episode bei
multiplen psychosozialen Belastungsfaktoren (ICD-10 F32.01) wie auch ein
myotendinotisches Schmerzsyndrom rechts mit reduzierter Gehleistung an zwei
Unterarm-Gehstützen rechts wegen Unsicherheitsgefühl und zur
Schmerzentlastung fest. Am 27. März 2002 wurde B.________ die Arbeitsstelle
per 31. Mai 2002 gekündigt. Zwischen dem 15. Mai und dem 12. Juni 2002 befand
er sich zwecks beruflicher Abklärung erneut in der Klinik X.________.

Mit Verfügung vom 17. Juni 2002 stellte die SUVA die Versicherungsleistungen
per 30. Juni 2002 mit der Begründung ein, die noch geklagten Beschwerden
seien organisch nicht mehr als Folge des am 14. Dezember 2001 erlittenen
Unfalles erklärbar; bezüglich der für die Beschwerden verantwortlichen
psychischen Gründe fehle es an einem rechtserheblichen (adäquaten)
Zusammenhang. Daran hielt die Anstalt auf Einsprache hin mit Entscheid vom
25. Juli 2003 fest.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde, mit welcher B.________ zwei Berichte von Dr.
med. L.________ des Zentrums W.________, später Stützpunkt für
Poliomyelitiker/innen und Atemgelähmte, vom 8. September 2003 und 15. Januar
2004 einreichen liess, wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit
Entscheid vom 13. Mai 2004 ab.

C.
B.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
es sei die SUVA zu verpflichten, ihm die gesetzlichen Leistungen aus der
obligatorischen Unfallversicherung zu gewähren; namentlich seien die
Versicherungsleistungen (Taggeld und Heilungskosten) auch für die Zeit nach
dem 30. Juni 2002 zu erbringen; im Übrigen seien die finanziellen Leistungen
verzinst auszurichten.

Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während
das Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den für
die Leistungspflicht des obligatorischen Unfallversicherers vorausgesetzten
natürlichen Kausalzusammenhang zwischen Unfallereignis und eingetretenem
Schaden (BGE 126 V 361 Erw. 5c, 119 V 337 Erw. 1, 118 V 289 Erw. 1b, je mit
Hinweisen; vgl. auch BGE 129 V 181 Erw. 3.1), zur vorausgesetzten Adäquanz
des Kausalzusammenhangs im Allgemeinen (BGE 126 V 361 Erw. 5c mit Hinweisen;
siehe auch BGE 129 V 181 Erw. 3.2) und bei psychischen Unfallfolgen (BGE 127
V 103 Erw. 5b/bb, 124 V 44 Erw. 5c/bb, 115 V 133 ff.), zu dem im
Sozialversicherungsrecht geltenden Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b mit Hinweisen) sowie zum Grundsatz
der freien Beweiswürdigung und zum Beweiswert eines Arztberichtes (BGE 125 V
352 Erw. 3a mit Hinweis) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

1.2 Gemäss Art. 6 Abs. 3 UVG hat der obligatorische Unfallversicherer seine
Leistungen auch für Schädigungen zu erbringen, die dem Verunfallten bei einer
Heilbehandlung (Art. 10 UVG) zugefügt werden. Ferner bestimmt Art. 10 UVV,
dass der Versicherer seine Leistungen auch für Körperschädigungen erbringt,
welche der Versicherte durch von ihm angeordnete oder sonst wie notwendig
gewordene medizinische Abklärungsuntersuchungen erleidet. Die Haftung
erstreckt sich auf Gesundheitsschädigungen, die auf Behandlungsmassnahmen im
Anschluss an einen Unfall zurückzuführen sind. Es muss weder ein
Behandlungsfehler vorliegen noch der Unfallbegriff erfüllt noch ein
Kunstfehler oder auch nur objektiv eine Verletzung der ärztlichen
Sorgfaltspflicht gegeben sein. Der Unfallversicherer hat aber nur für
Schädigungen aufzukommen, die in einem natürlichen und adäquat kausalen
Zusammenhang mit den durch den versicherten Unfall erfolgten Heilbehandlungen
und medizinischen Abklärungsuntersuchungen stehen (BGE 128 V 172 Erw. 1c mit
Hinweisen).

1.3 Ergänzend ist zu erwähnen, dass die Regel, wonach die Beweislast bei
anspruchsaufhebenden Tatfragen bei der Partei liegt, welche sich auf das
Dahinfallen des Anspruchs beruft, erst Platz greift, wenn es sich als
unmöglich erweist, im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes auf Grund einer
Beweiswürdigung einen Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die
überwiegende Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wahrheit zu entsprechen
(BGE 117 V 264 Erw. 3b mit Hinweisen). Sodann muss der Beweis des Wegfalls
des natürlichen Kausalzusammenhangs nicht durch den Nachweis unfallfremder
Ursachen erbracht werden. Ebenso wenig geht es darum, vom Unfallversicherer
den negativen Beweis zu verlangen, dass kein Gesundheitsschaden mehr vorliege
oder dass die versicherte Person nun bei voller Gesundheit sei. Entscheidend
ist allein, ob unfallbedingte Ursachen eines Gesundheitsschadens ihre kausale
Bedeutung verloren haben, also dahingefallen sind (statt vieler Urteile N.
vom 4. Oktober 2004, U 159/04, Erw. 3.2, und O. vom 31. August 2001, U
285/00, Erw. 5a).

2.
SUVA und Vorinstanz verneinen eine über den 30. Juni 2002 hinausgehende
Leistungspflicht des Unfallversicherers im Wesentlichen mit der Begründung,
es würde nach diesem Zeitpunkt kein Gesundheitsschaden mehr vorliegen,
welcher auf klar fassbare, unfallbedingte organische Ursachen zurückzuführen
sei; soweit die Beschwerden psychosomatischer Natur seien, fehle es an der
erforderlichen Adäquanz des Kausalzusammenhangs zwischen Unfall bzw.
Heilbehandlung und dem Gesundheitsschaden. Der Beschwerdeführer stellt sich
demgegenüber auf den Standpunkt, es sei nicht erstellt, dass er ohne den
Unfall und die Heilbehandlung (Elektrotherapie) im massgeblichen Zeitpunkt in
seiner Arbeitsfähigkeit gleichermassen eingeschränkt gewesen wäre, weshalb
die Leistungspflicht des Unfallversicherers weiter bestehe.

2.1 Es steht mit der Vorinstanz mit überwiegender Wahrscheinlichkeit fest,
dass der Beschwerdeführer an keinen organisch nachweisbaren Folgen des
Unfalls vom 14. Dezember 2001 oder der im Rahmen der Heilbehandlung in der
Klinik X.________ vom 6. März bis 24. April 2002 durchgeführten
Elektrotherapie mehr leidet oder im Zeitpunkt der Leistungseinstellung durch
die Beschwerdegegnerin am 30. Juni 2002 litt. Der ein von Dr. phil.
H.________ am 4. und 5. April 2002 durchgeführtes psychosomatisches Konsilium
einschliessende Austrittsbericht der Klinik X.________ vom 13. Mai 2002 ist
diesbezüglich eindeutig und überzeugend.

Daran vermögen die Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts zu
ändern. Soweit geltend gemacht wird, es sei nicht nachgewiesen, dass die
muskuläre Schwächung am rechten Bein mit vollständiger Parese psychosomatisch
bedingt sei, ist auf die Beurteilung im psychosomatischen Konsilium der
Klinik X.________ vom 22. April 2002 zu verweisen, in welchem Dr. phil.
H.________ einleuchtend und nachvollziehbar die psychosomatische Genese der
Parese des rechten Beines wie aber auch der damit einhergehenden massiven
Schluckbeschwerden, der Hypersomnie sowie der generalisierten Kraftlosigkeit
erklärt. Aus dem vom Beschwerdeführer eingereichten Gutachten von Dr. med.
L.________, Allg. Medizin FMH, vom 8. September 2003 ergeben sich dagegen
keine eindeutigen Hinweise, welche gegen die psychosomatische Genese der
verstärkten Beschwerden des Versicherten sprechen würden. Im Wesentlichen
wird in diesem Gutachten argumentiert, nach einer durchgemachten
Poliomyelitis trete eine Veränderung der Muskelfasern bzw. der
Muskelfaserzellen ein; bei einer andauernden Überforderung derselben -
beispielsweise durch Muskelstimulation im Rahmen einer
Elektromuskelaktivierungstherapie - könne eine Dekompensation oder eine
Schädigung der Muskulatur eintreten; diese Darlegungen erscheinen zwar
plausibel, sie sind aber einerseits nicht durch Hinweise auf einschlägige
medizinische Fachliteratur belegt und stehen anderseits unter der vom
Gutachter gesetzten Prämisse, dass die Behandlung nicht fachgerecht
durchgeführt worden ist: Für eine solche Annahme besteht aber keine
Veranlassung. Allein aus dem unbefriedigenden Resultat der Behandlung darf
nicht auf eine unkorrekte Durchführung derselben geschlossen werden.
Schliesslich ist die Behauptung von Dr. med. L.________ in der Stellungnahme
vom 15. Januar 2004, wonach die Elektrotherapie eine Muskelschädigung
verursacht haben soll, welche objektivierbar gewesen wäre, nicht belegt. Dr.
med. L.________ stellt lediglich die These auf, ein Vergleich der
neurologischen Eintrittsbefunde mit den neurologischen Befunden nach
Durchführung der Elektrotherapie hätte objektive Befunde ergeben können.
Gleichzeitig wird aber zu Recht eingeräumt, dass im jetzigen Zeitpunkt keine
Befunde mehr erhoben werden können. Unbelegt bleibt auch die Behauptung, eine
derartige Muskelschwäche könne nicht allein psychisch bedingt sein. In diesem
Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass wegen der Poliomyelitis ein
belasteter Vorzustand gegeben war. Auch können psychische Störungen durchaus
bewirken, dass davon Betroffene Körperglieder nicht mehr so einsetzen oder
belasten, wie dies objektiv gesehen möglich wäre. Die hypothetischen
Überlegungen des Gutachters genügen deshalb nicht, um die von den
behandelnden Ärzten angenommene, einleuchtende psychosomatische Ursache des
Gesundheitsschadens in Frage zu stellen oder als nicht überwiegend
wahrscheinlich erscheinen zu lassen.

2.2 Somit bleibt zu prüfen, ob das von den Ärzten der Klinik X.________ im
Bericht vom 13. Mai 2002 diagnostizierte multiple psychische Beschwerdebild
in einen rechtsgenüglichen ursächlichen Kontext zu dessen Heilbehandlung
gebracht werden kann.

2.2.1 Mit Blick auf die Arztberichte ist der natürliche Kausalzusammenhang
zwischen dem psychischen Leiden und dem Unfall oder der Heilbehandlung ohne
weiteres ausgewiesen, wie der Beschwerdeführer zu Recht vorbringt.

2.2.2 Dies allein genügt indessen zur Leistungsbegründung nicht. Darüber
hinaus muss der psychische Gesundheitsschaden zum versicherten Ereignis in
einem adäquat kausalen Verhältnis stehen, was für den Stolpersturz vom 14.
Dezember 2001 für sich alleine betrachtet ohne weiteres zu verneinen ist, da
es sich dabei ohne Zweifel um einen leichten oder banalen Unfall handelt ohne
aussergewöhnliche unmittelbare Folgen, die eine psychische Fehlentwicklung
nicht mehr als offensichtlich unfallunabhängig erscheinen lassen (vgl. RKUV
1998 Nr. U 297 S. 243 und 244 Erw. 3b).

2.2.3 Die Adäquanz des Kausalzusammenhangs zwischen der im Rahmen der
Heilbehandlung eingesetzten Elektrotherapie und dem sich daraus ergebenden
psychischen Gesundheitsschaden ist dagegen nicht auch nach den von der
Rechtsprechung mit Bezug auf psychogene Unfallfolgen entwickelten Kriterien
(BGE 115 V 138 Erw. 6), sondern aufgrund der allgemeinen Adäquanzformel zu
beurteilen (Urteil C. vom 10. Mai 2004, U 108/03, Erw. 5.3; vgl. auch BGE 129
V 184 Erw. 4.2 mit Hinweisen). Die Adäquanz wäre somit zu bejahen, wenn die
gewählte Behandlungsart nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der
allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet wäre, einen Erfolg von der Art
des eingetretenen herbeizuführen, der Eintritt dieses Erfolges also durch das
Ereignis allgemein als begünstigt erscheint (BGE 129 V 181 Erw. 3.2 mit
Hinweis).
Auch wenn für die Beurteilung der Adäquanz im Zusammenhang mit psychischen
Schädigungen kein strenger Massstab angelegt werden darf, sondern von einer
weiten Bandbreite von Versicherten auszugehen ist (BGE 125 V 463 Erw. 5c; 115
V 135 Erw. 4b), kann im vorliegenden Fall nicht gesagt werden, die
angewandte, anerkannte Elektrotherapie sei generell geeignet gewesen, zu
einer dissoziativen Dekompensation zu führen. Selbst wenn es noch vorstellbar
erscheinen mag, dass ein Betroffener einen Bezug zwischen einer als Folter
erfahrenen Elektroschockbehandlung einerseits und einer Elektrotherapie
andererseits herstellt, erscheint die massive psychische Reaktion im
vorliegenden Fall dennoch nicht als durch die Anwendung der Elektrotherapie
massgeblich begünstigt. Das Erleben einer Behandlung ist in hohem Masse durch
das Umfeld und die Intentionen des Arztes bestimmt; eine Foltersituation ist
nun aber weit von einer therapeutischen Situation entfernt, so dass auch beim
Einsatz ähnlicher Instrumente in einer Therapie keine einer Foltersituation
vergleichbare Situation geschaffen wird, welche geeignet erscheint, eine
psychische Reaktion hervorzurufen. Diese Überlegungen führen zum Ergebnis,
dass der Heilbehandlung für die Entstehung der Arbeits- bzw.
Erwerbsunfähigkeit keine massgebende Bedeutung zukommt. Dem entspricht, dass
erst nach einigen Elektrotherapiesitzungen eine Reaktion eingetreten ist.
Weiter erlitt der Beschwerdeführer kurze Zeit später eine weitere
dissoziative Episode bei sich zu Hause und somit nicht während oder im
Anschluss an eine Elektrotherapiesitzung.

2.3 Gesamhaft gesehen muss nicht nur das Vorliegen organischer
Unfallrestbeschwerden, sondern auch die Adäquanz des Kausalzusammenhangs
zwischen dem versicherten Ereignis und der psychogenen Störung verneint
werden.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.

Luzern, 30. November 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: