Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 213/2004
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U 213/04

Urteil vom 15. März 2006
III. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Lustenberger und Seiler; Gerichtsschreiberin
Bollinger

B.________, 1952, Beschwerdeführerin, vertreten
durch Rechtsanwalt Erwin Jutzet, St. Petersgasse 10, 1701 Freiburg,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, Beschwerdegegnerin,

Verwaltungsgericht des Kantons Freiburg, Givisiez

(Entscheid vom 22. April 2004)

Sachverhalt:

A.
B. ________, geboren 1952, war als Direktionsassistentin bei der Firma
Q.________ AG tätig und bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt
(SUVA) obligatorisch gegen die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen
versichert. Am 1. März 2000 kollidierte sie als Lenkerin eines Personenwagens
mit einem anderen Auto und zog sich multiple Kontusionen, eine Distorsion der
Halswirbelsäule (HWS) sowie eine Thoraxprellung zu. Am 2. März 2000 begab sie
sich zu ihrer Hausärztin Dr. med. L.________, Allgemeine Medizin FMH, in
Behandlung. In der Folge klagte sie über verschiedene gesundheitliche
Störungen (wie Tinnitus, Schwerhörigkeit [Hypakusis], Schwierigkeiten beim
Atmen, Schmerzen im Schulter-, Nacken- und Thoraxbereich und Sehstörungen).
Sie wurde mehrfach, zunächst hauptsächlich wegen der Schwerhörigkeit,
untersucht und war vom 3. bis 31. Mai 2000 in der Rehaklinik X.________
hospitalisiert. Im Februar 2001 normalisierte sich das Hörvermögen wieder,
die übrigen gesundheitlichen Beschwerden (Schmerzen im Kopf-, Nacken-,
Schulter- und Rückenbereich, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, sehr
rasche Ermüdbarkeit, Schwankschwindel, schmerz- und albtraumbedingte Ein- und
Durchschlafstörungen) persistierten.
Die SUVA holte Berichte der behandelnden Ärzte ein und verfügte am 22. März
2002 die Einstellung ihrer Leistungen per 30. April 2002, da keine
objektivierbaren organischen Unfallfolgen mehr vorlägen, die zumindest
wahrscheinlich auf den Unfall zurückzuführen seien und die psychischen
Beschwerden nicht in einem rechtserheblichen Zusammenhang zur Kollision vom
1. März 2000 stünden. Die dagegen von B.________ erhobene Einsprache wies sie
am 24. Juli 2002 ab.

B.
B.________ liess Beschwerde führen, welche das Verwaltungsgericht des Kantons
Freiburg am 22. April 2004 abwies.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt B.________ die Zusprechung von
Taggeldern und die Übernahme der Heilbehandlungskosten, "nach durchgeführtem
Verfahren" die Zusprechung einer Rente sowie subsidiär die Rückweisung der
Sache zur weiteren Abklärung an die SUVA beantragen. Gleichzeitig ersucht sie
um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung für das
letztinstanzliche Verfahren.
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Gesundheit und die CSS Kranken-Versicherung AG, Luzern,
verzichten auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die Rechtsprechung zu dem für die Leistungspflicht
des Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhang (BGE
119 V 337 Erw. 1; bei Schleudertraumata der HWS oder äquivalenten
Verletzungsmechanismen: BGE 119 V 340 Erw. 2b/aa; RKUV 2000 Nr. U 359 S. 29)
zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die Hinweise auf die von der
Judikatur entwickelten Grundsätze zum Erfordernis des adäquaten
Kausalzusammenhanges im Allgemeinen (BGE 125 V 461 Erw. 5a mit Hinweisen)
sowie bei psychischen Unfallfolgen (BGE 115 V 133) und bei Folgen eines
Unfalles mit Schleudertrauma der HWS oder äquivalenten Verletzungen ohne
organisch nachweisbare Funktionsausfälle im Besonderen (BGE 117 V 359 ff.).
Korrekt ist schliesslich, dass für die Adäquanzbeurteilung auch bei
Schleudertraumata die in BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa entwickelten Grundsätze
massgebend sind, wenn die zum typischen Beschwerdebild eines Schleudertraumas
gehörenden Verletzungen zwar teilweise vorliegen, im Vergleich zur
psychischen Problematik aber ganz in den Hintergrund treten (BGE 123 V 99
Erw. 2a mit Hinweisen; RKUV 2002 Nr. U 465 S. 439 Erw. 3b). Darauf wird
verwiesen.

2.
Ob zwischen dem Unfall vom 1. März 2000 und den seither bestehenden
Gesundheitsstörungen zumindest teilweise eine natürliche Kausalität besteht,
braucht nicht abschliessend geklärt zu werden. Selbst wenn der natürliche
Kausalzusammenhang zu bejahen wäre, fehlt es - wie die nachfolgenden
Erwägungen zeigen - an der Adäquanz.

3.
Die Vorinstanz erwog, die gesundheitlichen Beschwerden seien mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit der "psychischen Verarbeitung des Unfalles"
zuzuordnen und prüfte die Adäquanz nach den für psychische Unfallfolgen
entwickelten Kriterien (BGE 115 V 140; Erw. 1 hievor).

Demgegenüber bringt die Beschwerdeführerin vor, dominierend seien die
ständigen starken Schmerzen; an einer psychischen Krankheit leide sie nicht,
weshalb das kantonale Gericht die Adäquanz fälschlich nach der Rechtsprechung
gemäss BGE 115 V 193 (recte: BGE 115 V 140) geprüft habe. Selbst bei
Anwendung der Adäquanzkriterien für psychische Unfallfolgen sei die
Kausalität aber zu bejahen.

4.
4.1 Unbestritten erlitt die Versicherte beim Verkehrsunfall vom 1. März 2000
ein Schleudertrauma der HWS (Bericht der Frau Dr. med. L.________ vom 7.
April 2000). Sowohl für die während einiger Monate aufgetretene und später
wieder abgeklungene schwere Hörstörung als auch für die geklagten Schmerzen
im Kopf- und Nackenbereich konnte in den zahlreichen Untersuchungen kein
ausreichendes organisches Substrat erhoben werden (Berichte der Spezialärzte
FMH für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, Frau Dr. med. P.________ vom 30.
Mai 2000, und Dr. med. A.________ vom 8. Juli 2000; Röntgenuntersuchung im
Spital Y.________ vom 19. Juli 2000; Hörschwellenermittlung und audiologische
Abklärung im Spital Z.________ vom 5. und 22. September 2000). Hingegen
äusserten die Ärzte schon bald nach dem Unfall den Verdacht auf eine
psychische Komponente (Berichte der Neurologen Dr. med. R.________ vom 14.
März 2000: "Sur le plan psychique la patiente est un peu démonstrative" und
Dr. med. U.________, Spital Y.________, vom 4. April 2000: "La clinique
évoque en premier lieu un syndrome subjectif post-traumatique, avec peut-être
une composante de type hystérique"; Schreiben des Dr. med. A.________, FMH
für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, vom 31. März 2000: "Die Patientin ist
auffällig, jedoch dürfte es schwierig sein, ähnliche Befunde in einem
Intervall von 7 Tagen zu simulieren oder zu aggravieren"). Dass die Ärzte in
den ersten Berichten wenige Wochen nach dem Unfall nicht mit Bestimmtheit
eine psychische Überlagerung feststellten, liegt in der Natur einer solchen
Entwicklung, die - gerade wenn zunächst auch somatische Unfallfolgen
vorliegen (hier: multiple Kontusionen, Thoraxprellung) - erst im weiteren
Verlauf sicher erkannt werden kann. Dies ändert indessen nichts daran, dass
die behandelnden Ärzte schon früh ein von psychischen Beschwerden geprägtes
Krankheitsbild bemerkten (telefonische und schriftliche Angaben der
Neuropsychologin Dr. med. C.________, Spital Y.________, vom 11. und 12.
April 2000, wonach in erster Linie ein neuropsychologisches und
psychiatrisches Problem vorliege bzw. die Versicherte sehr grosse physische
und psychische Beschwerden präsentiere und an einem posttraumatischen
Belastungssyndrom leide; Überweisungsschreiben der Frau Dr. med. L.________
vom 14. April 2000, worin die Hausärztin auf massive psychische
Einschränkungen hinweist). In Anbetracht der fehlenden organischen Befunde
regten die Ärzte mehrfach eine psychiatrische Behandlung an (Schreiben der
Frau Dr. med. P.________ vom 30. Mai 2000; Austrittsbericht der Rehaklinik
X.________ vom 6. Juli 2000; Berichte der Frau Dr. med. C.________ vom 2. Mai
2001 und des Dr. med. O.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 1.
Dezember 2001; vgl. auch kreisärztliche Abschlussuntersuchung vom 13.
Dezember 2001).

4.2 Die untersuchenden Ärzte bemerkten somit bereits kurze Zeit nach dem
Unfall grosse psychische Probleme, während für die geklagten Beschwerden in
den umfangreichen medizinischen Abklärungen keine genügenden organischen
Befunde nachgewiesen werden konnten. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen
sind demzufolge nicht struktureller, sondern funktioneller Natur.
Die Argumentation der Versicherten, ihre Beschwerden seien organisch bedingt,
überzeugt nicht. Zunächst ist unzutreffend, dass sich das kantonale Gericht
einseitig auf Dr. med. R.________ abgestützt - dessen Aussagen im Übrigen
explizit nur als Vermutungen und Indizien gewertet wurden - und aus diesem
Grund ein psychisches Leiden bejaht hat. Im angefochtenen Entscheid werden
die medizinischen Akten einlässlich dargelegt und gewürdigt; die Folgerungen
der Vorinstanz stützen sich auf eine Vielzahl ärztlicher Berichte. Angesichts
der zahlreichen übereinstimmenden und umfassenden ärztlichen Einschätzungen
entbehrt auch der Vorwurf jeglicher Grundlage, die SUVA habe von Beginn weg
einseitig abgeklärt um ihrer Leistungspflicht zu entgehen. Hinweise auf
sprachliche Missverständnisse bei den Untersuchungen durch Dr. med.
R.________ fehlen (die Beschwerdeführerin spricht - zumindest in
eingeschränktem Umfang - auch französisch; vgl. Schreiben der Frau Dr. med.
C.________ vom 12. April 2004). Sodann lässt sich dem Bericht der Rehaklinik
X.________ vom 6. Juli 2000 und den diesem in psychiatrischer Hinsicht zu
Grunde liegenden Einschätzungen des Dr. med. H.________, Psychiatrie und
Psychotherapie FMH, vom 2. Juni 2000 lediglich entnehmen, dass zwar prämorbid
keine Anhaltspunkte für eine psychiatrische Störung vorlagen, zum Zeitpunkt
der fraglichen Untersuchungen im Mai 2000 aber weitere somatische Abklärungen
notwendig waren und eine definitive psychiatrische Beurteilung noch nicht
vorgenommen werden konnte. Wenn Dr. med. H.________ (noch) keine
psychiatrische Diagnose stellte, ändert dies ebenso wenig etwas daran, dass
das Beschwerdebild schon kurze Zeit nach dem Unfall durch die psychischen
Probleme geprägt war, wie der Umstand, dass angesichts des nicht besonders
eindrücklichen Unfallgeschehens (dazu Erw. 5 hienach) kein traumatisierendes
Ereignis von aussergewöhnlicher Schwere vorlag, welches definitionsgemäss für
eine posttraumatische Belastungsstörung erforderlich ist
(Dilling/Mombour/Schmidt [Hrsg.], Internationale Klassifikation psychischer
Störungen, ICD-10 Kapitel V [F], Klinisch diagnostische Leitlinien, 4. Aufl.,
Bern etc. 2000, S. 170). Unabhängig von der exakten diagnostischen Einordnung
(vgl. Urteil P. vom 2. Februar 2006, U 381/04) hat die Vorinstanz angesichts
dessen, dass sich aus den medizinischen Akten gesamthaft ein Beschwerdebild
ergibt, bei dem die psychische Gesundheitsstörung schon bald dominierte, der
Krankheitswert der psychischen Beschwerden von keinem Arzt in Frage gestellt
wird und es an objektiven klinischen Befunden fehlt, welche die massiven
Gesundheitsstörungen hinreichend erklären könnten, die Adäquanz zu Recht nach
den in BGE 115 V 140 entwickelten Kriterien geprüft. Von weiteren
medizinischen Abklärungen sind keine neuen Erkenntnisse zu erwarten, weshalb
darauf zu verzichten ist (antizipierte Beweiswürdigung; SVR 2001 IV Nr. 10 S.
28 Erw. 4b mit Hinweisen auf BGE 124 94 Erw. 4b und 122 V 162 Erw. 1d).

5.
Die Kollision vom 1. März 2000 ist als Unfall im mittleren Bereich
einzustufen (vgl. den ähnlich gelagerten, im Urteil D. vom 4. September 2003,
U 371/02, beurteilten Fall). Die Adäquanz der psychischen Unfallfolgen ist
daher zu bejahen, wenn eines der in BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa erwähnten
Kriterien in besonders ausgeprägter Weise erfüllt ist oder die massgebenden
Kriterien in gehäufter oder auffallender Weise erfüllt sind. Bei der Prüfung
der einzelnen Kriterien sind nur die organisch bedingten Beschwerden zu
berücksichtigen, während die psychisch begründeten Anteile, deren
hinreichender Zusammenhang mit dem Unfall Gegenstand der Prüfung bildet,
ausgeklammert bleiben (Urteil C. vom 14. Oktober 2004, U 66/04).
Der Unfall vom 1. März 2000 hat sich weder unter besonders dramatischen
Begleitumständen ereignet, noch war er besonders eindrücklich. Das erlittene
Schleudertrauma der HWS fällt als besondere Art der erlittenen Verletzung
ausser Betracht (vgl. das bereits angeführte Urteil C. vom 14. Oktober 2004,
U 66/04). Für den erst einige Zeit nach dem Unfall aufgetretenen
Gehörsverlust konnte - wie dargelegt - kein ausreichendes organisches
Korrelat erhoben werden, hingegen äusserten die Ärzte verschiedentlich den
Verdacht auf einen psychischen Ursprung dieses Leidens. Die (zwischenzeitlich
abgeklungenen) Hörprobleme können daher ebenfalls nicht in die Beurteilung
einbezogen werden. Eine ärztliche Fehlbehandlung wird zu Recht nicht
behauptet und eine physisch bedingte Arbeitsunfähigkeit bestand nach Lage der
Akten nur für kurze Zeit; bereits am 6. Juli 2000 attestierten die Ärzte der
Rehaklinik X.________ eine vollständige Arbeitsunfähigkeit nicht wegen
somatischer Beschwerden, sondern weil die "psychophysische Belastbarkeit"
eingeschränkt sei. Weiter liegen weder ein schwieriger Heilungsverlauf mit
erheblichen Komplikationen noch körperliche Dauerbeschwerden vor. So konnten
im Verlauf der Rehabilitation die Schmerzen zum grossen Teil reduziert werden
(Austrittsbericht vom 6. Juli 2000) und traten erst später wieder auf, ohne
dass ein organischer Ursprung gefunden wurde. Schliesslich bedurften die
somatischen Unfallfolgen keiner ungewöhnlich langen ärztlichen Behandlung.
Mangels Adäquanz des Kausalzusammenhanges besteht für die persistierenden
gesundheitlichen Beschwerden keine Leistungspflicht der Unfallversicherung
mehr, weshalb die SUVA den Fall zu Recht per Ende April 2002 abgeschlossen
hat.

6.
Für das Verfahren werden keine Kosten erhoben (Art. 134 OG). Das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten ist
daher gegenstandslos. Der Beschwerdeführerin kann die unentgeltliche
Verbeiständung gewährt werden, da die hiefür nach Gesetz (Art. 152 OG) und
Praxis (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen)
erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Es wird indessen ausdrücklich
auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande
ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird Rechtsanwalt Erwin
Jutzet, Freiburg, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Freiburg,
Sozialversicherungsgerichtshof, dem Bundesamt für Gesundheit und der CSS
Kranken-Versicherung AG zugestellt.
Luzern, 15. März 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: