Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 120/2004
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U 120/04

Urteil vom 12. Juli 2004
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Rüedi und Schön; Gerichtsschreiberin
Bollinger

P.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno
Häfliger, Schwanenplatz 7, 6004 Luzern,

gegen

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Hirschengraben 19, 6003 Luzern

(Verfügung vom 26. März 2004)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 29. April 2003 sprach die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) P.________ für die Folgen eines am 17.
Oktober 1988 erlittenen Unfalles eine Invalidenrente ausgehend von einer
Erwerbsunfähigkeit von 25 % und eine Intigritätsentschädigung bei einer
Integritätseinbusse von 10 % zu. Auf Einsprache hin bestätigte sie ihre
Verfügung (Entscheid vom 1. September 2003).

B.
Gegen diesen Einspracheentscheid liess P.________ Beschwerde erheben mit den
Anträgen, es sei ihm eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von
mindestens 60 % und eine Integritätsentschädigung bei einem
Integritätsschaden von mindestens 25 % zuzusprechen; gleichzeitig stellte er
das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung. Die SUVA liess auf Abweisung der
Beschwerde schliessen mit der Begründung, die beklagten Ellbogen- und
Schulterbeschwerden seien abgeklärt worden, wobei sich ergeben habe, dass
diese nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall zurückgeführt
werden könnten. Im Übrigen sei die Invaliditätsbemessung korrekt vorgenommen
worden.

Nach Abschluss des Schriftenwechsels verfügte das Verwaltungsgericht des
Kantons Luzern am 26. März 2004 die Abweisung des Gesuchs um unentgeltliche
Verbeiständung wegen Aussichtslosigkeit der Beschwerde.

C.
P.________ lässt hiegegen Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem
Antrag, der Entscheid des kantonalen Gerichts sei aufzuheben und die Sache
zur Prüfung der weiteren Voraussetzungen für die Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Das Verwaltungsgericht schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Der kantonale Entscheid über die Verweigerung der unentgeltlichen
Rechtspflege gehört zu den Zwischenverfügungen, die einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil bewirken können. Er kann daher selbstständig mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Eidgenössischen Versicherungsgericht
angefochten werden (Art. 5 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 45 Abs. 1 und 2 lit.
h VwVG sowie Art. 97 Abs. 1 und 128 OG; BGE 100 V 62 Erw. 1).

1.2 Im Beschwerdeverfahren über die Verweigerung der unentgeltlichen
Rechtspflege durch das kantonale Gericht sind keine Versicherungsleistungen
streitig, weshalb das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen hat,
ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung
oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt
offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher
Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit
Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG; BGE 100 V 62 Erw. 2).

2.
2.1 Das Verfahren vor den kantonalen Versicherungsgerichten wird in Art. 61
ATSG geregelt. Nach dessen lit. f muss das Recht, sich verbeiständen zu
lassen, gewährleistet sein, wobei der Beschwerde führenden Person ein
unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt wird, wo die Verhältnisse es
rechtfertigen.

2.2 Nach der Rechtsprechung sind neue Verfahrensvorschriften grundsätzlich
mit dem Tag des Inkrafttretens sofort und in vollem Umfange anwendbar, es sei
denn, das neue Recht kenne anders lautende Übergangsbestimmungen. Dieser
intertemporalrechtliche Grundsatz kommt dort nicht zur Anwendung, wo
hinsichtlich des verfahrensrechtlichen Systems zwischen altem und neuem Recht
keine Kontinuität besteht und mit dem neuen Recht eine grundlegend neue
Verfahrensordnung geschaffen worden ist (BGE 129 V 115 Erw. 2.2 mit
Hinweisen).

Anders lautende Übergangsbestimmungen bestehen nicht. Sodann ist der Anspruch
auf unentgeltliche Rechtspflege bereits in der am 1. Januar 2000 in Kraft
getretenen neuen Bundesverfassung vom 18. April 1999 verankert (Art. 29 Abs.
3 Satz 2), weshalb die kantonalen Prozessrechte dem zu entsprechen hatten.
Mit Art. 61 lit. f ATSG wird keine darüber hinausgehende Regelung getroffen,
womit zwischen altem und neuem Recht Kontinuität besteht (vgl. Ueli Kieser,
ATSG-Kommentar: Kommentar zum Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000, Zürich 2003, N 86 zu Art. 61).
Der vorinstanzliche Entscheid wurde nach dem 1. Januar 2003 gefällt; Art. 61
lit. f ATSG ist anwendbar.

2.3 Das kantonale Gericht hat die massgeblichen Rechtsgrundlagen über die
Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung,
insbesondere auch die in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien zur
Aussichtslosigkeit von Prozessbegehren (BGE 129 I 135 Erw. 2.3.1 mit
Hinweisen), zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
3.1 Der Versicherte rügt, die SUVA habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör
verletzt, indem sie bei der Festsetzung des Invalideneinkommens gestützt auf
ihre Dokumentation von Arbeitsplätzen (DAP) die aktuelle bundesgerichtliche
Rechtsprechung nicht berücksichtigt habe. Der Entscheid sei deshalb schon aus
formellen Gründen aufzuheben.

3.2 Mit BGE 129 V 472 entschied das Eidgenössische Versicherungsgericht, ein
Abstellen auf DAP-Löhne setze voraus, dass die SUVA zusätzlich zur Auflage
von mindestens fünf DAP-Blättern Angaben mache über die Gesamtzahl der auf
Grund der gegebenen Behinderung in Frage kommenden dokumentierten
Arbeitsplätze, über den Höchst- und den Tiefstlohn sowie über den
Durchschnittslohn der entsprechenden Gruppe. Sodann seien allfällige
Einwendungen der versicherten Person bezüglich des Auswahlermessens und der
Repräsentativität der DAP-Blätter im Einzelfall grundsätzlich im
Einspracheverfahren zu erheben (Erw. 4.2.1 u. 4.2.2).

Aus den Akten geht hervor, dass sich die SUVA bei der Festsetzung des
Invalideneinkommens auf fünf zumutbare Arbeitsplätze stützte, wobei aus den
entsprechenden DAP-Blättern jeweils auch das Lohnminimum und -maximum
ersichtlich ist. Hingegen machte sie keine Angaben bezüglich des
Durchschnittslohnes und der Gesamtzahl der in Frage kommenden Arbeitsplätze.
Nachdem der zitierte BGE 129 V 472 jedoch erst am 28. August 2003, somit nach
Erlass der Verfügung vom 29. April 2003, ergangen ist und eine Änderung oder
Präzisierung der Rechtsprechung eine bereits erlassene Verfügung
grundsätzlich unberührt lässt (BGE 115 V 314 Erw. 4a/dd mit Hinweisen), ist
die Rüge des verletzten Gehörsanspruchs unbegründet. Im Übrigen unterliess es
der Versicherte, im Einspracheverfahren Einwendungen gegen die verwendeten
DAP-Blätter zu erheben. Soweit er bemängelt, die Vorinstanz habe ihre
Begründungspflicht verletzt, indem sie ohne nachvollziehbare Berechnung auf
die Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik abgestellt habe,
betreffen diese Einwände nicht die Aussichtslosigkeit der im vorinstanzlichen
Verfahren erhobenen Beschwerde, weshalb darauf nicht näher einzugehen ist.

4.
In materieller Hinsicht streitig sind vor dem kantonalen Gericht Ansprüche
des Beschwerdeführers auf Leistungen (Invalidenrente,
Integritätsentschädigung) der SUVA. Zu prüfen ist dort, ob die geltend
gemachten Ellbogen- und Schulterbeschwerden rechts auf den am 17. Oktober
1988 erlittenen Unfall zurückzuführen sind.

4.1 Die Vorinstanz erwog, nach den im Recht liegenden medizinischen
Einschätzungen sei klar, dass die Beschwerden im rechten Ellbogen und im
rechten Schulterbereich nicht kausal auf den Unfall vom 17. August 1988
zurückzuführen seien; die gegenteilige Auffassung des Hausarztes Dr. med.
I.________, FMH für Innere Medizin,  vermöge daran nichts zu ändern.

Der Beschwerdeführer lässt demgegenüber vorbringen, im angefochtenen
Entscheid werde eine antizipierte Beweiswürdigung vorgenommen, indem trotz
medizinischer Meinungsdifferenzen das beantragte neutrale polydisziplinäre
Gutachten zum Vornherein als obsolet qualifiziert werde. Dies gehe umso
weniger an, als die Berichte des Kantonsspitals Luzern, welche das kantonale
Gericht als massgeblich erachte, veraltet seien und für den massgebenden
Zeitpunkt des Einspracheentscheides keine Beurteilung zuliessen.

4.2  Aus den Akten ergibt sich, dass der Versicherte am 17. Oktober 1988 beim
Obstpflücken von einem Baum gefallen war und sich dabei u.a. eine
Navicularefraktur mit Lunatumluxation rechts zugezogen hatte. In der Folge
wurden mehrere operative Eingriffe und diverse Therapien durchgeführt. Ob die
ab etwa August 2000 aufgetretenen Schmerzen in Ellbogen und Schulter, die
auch nach der im November 2001 durchgeführten Handgelenksversteifung
(Panarthrodese) persistierten, unfallkausal sind, blieb unter den beteiligten
Ärzten umstritten. Hausarzt Dr. med. I.________ ging stets von der
Unfallkausalität dieser Beschwerden aus und führte diese auf Fehlhaltungen,
verursacht durch die Schmerzen im rechten Handgelenk, zurück, da der
Versicherte bei der Arbeit zur Schonung des Handgelenks vermehrt das
Ellbogengelenk und die rechte Schulter eingesetzt habe, mit zum Teil
unphysiologischen Haltungen. Demgegenüber vertraten die SUVA-Ärzte die
Ansicht, Ellbogen und Schulter seien beim Unfall vom 17. Oktober 1988
unverletzt geblieben; Fehlhaltungen, welche eine Dysfunktion der rechten
oberen Extremität erklären könnten, hätten nicht festgestellt werden können,
weshalb es an einem natürlichen Kausalzusammenhang fehle. In der wegen diesen
Meinungsdifferenzen von Dr. med. I.________ in Auftrag gegebenen Untersuchung
im Spital Y.________ kam Dr. med. von W.________, leitender Arzt
Handchirurgie, zum Schluss, es könne nicht abschliessend beurteilt, werden,
ob die Schulter- und Ellbogenbeschwerden "knöchern" bedingt oder auf das
diagnostizierte Carpaltunnelsyndrom (CTS) zurückzuführen seien. Anlässlich
einer weiteren Untersuchung im Spital Y.________ bestätigte sich am 17. Mai
2001 die Diagnose eines beidseitigen leichten Carpaltunnelsyndroms. Denselben
Befund erhob auch Dr. med. A.________, wobei er ausführte, das
Carpaltunnelsyndrom sei links ausgeprägter als rechts (Bericht vom 29. Juli
2002).

4.3  Angesichts der uneinheitlichen medizinischen Aktenlage kann die vom
Beschwerdeführer behauptete Unfallkausalität der Beschwerden in Ellbogen und
Schulter nicht zum Vornherein als unwahrscheinlich bezeichnet werden. Auch
wenn die umfassenden kreisärztlichen Untersuchungen und die
Erfahrungstatsache, dass Hausärzte im Zweifel eher zugunsten ihrer Patienten
aussagen (BGE 125 V 353 Erw. 3b/cc mit Hinweisen), sowie der Umstand, dass
das Carpaltunnelsyndrom beidseitig (links sogar ausgeprägter als rechts)
aufgetreten ist, der Darstellung des Beschwerdeführers eher entgegen stehen,
erlauben die komplexen medizinischen Fragen nicht, die Behauptung der
Unfallkausalität ohne weiteres als haltlos und das daraus abgeleitete
Begehren als aussichtslos zu qualifizieren. Dies gilt umso weniger, als ein
Carpaltunnelsyndrom grundsätzlich auch traumatisch bedingt sein kann und etwa
nach Handgelenksfrakturen auftritt (vgl. Leitlinien der Deutschen
Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie und des
Berufsverbandes der Ärzte für Orthopädie [BVO] zum Karpaltunnelsyndrom,
letztmals überarbeitet am 1. April 2002 [abrufbar unter
www.uni-duesseldorf.de]; Vischer, Schmerzen in der Hand, Documenta
Geigy/Folia rheumatologica, Basel 1985, S. 12). Selbst wenn die Ellbogen- und
Schulterbeschwerden allein auf das Carpaltunnelsyndrom zurückzuführen wären,
ist somit ein Zusammenhang mit dem Unfall vom 17. Oktober 1988 nicht
auszuschliessen. Wie es sich diesbezüglich verhält, wurde im bisherigen
Verfahren nicht geklärt.

Indem die Vorinstanz gleichwohl Aussichtslosigkeit der Beschwerde angenommen
und die Voraussetzungen für die Bewilligung der unentgeltlichen
Verbeiständung verneint hatte, verletzte sie Art. 61 lit. f ATSG und damit
Bundesrecht. Die Sache geht daher an das kantonale Gericht zurück, damit es
die übrigen Voraussetzungen für die Gewährung der unentgeltlichen
Verbeiständung prüfe und hernach erneut entscheide.

5.
Verwaltungsgerichtsbeschwerden wegen Verweigerung der unentgeltlichen
Rechtspflege unterliegen grundsätzlich nicht der Kostenpflicht (SVR 1994 IV
Nr. 29 S. 76 Erw. 4).

Dem obsiegenden Beschwerdeführer steht für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung zu (Art. 159
Abs. 1 OG in Verbindung mit Art. 135 OG). Diese geht zu Lasten des Kantons
Luzern, da der Gegenpartei des Hauptprozesses im Verfahren um die Bewilligung
der unentgeltlichen Rechtspflege keine Parteistellung zukommt (BGE 109 Ia 11
Erw. 5; RKUV 1994 Nr. U 184 S. 77 f.).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird die Verfügung des
Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 26. März 2004 aufgehoben und es
wird die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit diese über den
Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung neu befinde.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Luzern hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) und der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt zugestellt.

Luzern, 12. Juli 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin:
i.V.