Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 836/2004
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I 836/04

Urteil vom 19. August 2005
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Kernen;
Gerichtsschreiber Traub

S.________, 1954, Beschwerdeführerin, vertreten
durch den Rechtsdienst für Behinderte, Schützenweg 10, 3014 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 15. November 2004)

Sachverhalt:

A.
Die 1954 geborene S.________, Mutter zweier 1982 und 1983 geborener Kinder
und seit September 2002 von ihrem Ehemann getrennt lebend, leidet an
Depressionen und den Folgen einer Ende 1999 erlittenen vaskulären
Enzephalopathie ("Hirninfarkt"). Am 17. Juli 2002 meldete sie sich bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Bern tätigte
medizinische, hauswirtschaftliche und erwerbliche Abklärungen und stellte mit
Verfügung vom 1. April 2004 fest, der Invaliditätsgrad betrage 33 Prozent,
weshalb kein Anspruch auf eine Invalidenrente bestehe. Auf Einsprache hin
bestätigte die Verwaltung diese Festlegung mit Entscheid vom 23. Juli 2004.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die dagegen erhobene Beschwerde,
nunmehr unter Zugrundelegung eines Invaliditätsgrades von 38 Prozent, ab
(Entscheid vom 15. November 2004).

C.
S.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, die
IV-Stelle sei, unter Aufhebung von vorinstanzlichem und Einspracheentscheid,
zu verpflichten, ihr mit Wirkung ab dem 1. Juli 2001 eine halbe
Invalidenrente auszurichten.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das kantonale Gericht errechnete einen Invaliditätsgrad von 38 Prozent,
indem es die für den erwerblichen Bereich ermittelte Invalidität von 44
Prozent und die Einschränkung im Haushalt von 16 Prozent im Verhältnis 80 zu
20 Prozent gewichtete. Strittig ist allein, ob die Beschwerdeführerin im
Gesundheitsfall mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vollumfänglich
erwerbstätig wäre, wie sie selber geltend macht, oder ob mit den Vorinstanzen
anzunehmen ist, sie würde ohne den versicherten Gesundheitsschaden ein
Teilzeitpensum von 80 Prozent wahrnehmen und sich zu 20 Prozent der
verfügbaren Zeit ihrem Haushalt widmen.

1.2 Wie das kantonale Gericht zutreffend vorausgeschickt hat, sind bei der
Prüfung eines allfälligen schon vor Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003
entstandenen Anspruchs auf eine Rente der Invalidenversicherung die
allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln heranzuziehen, gemäss welchen
grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei Verwirklichung
des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts galten. Demzufolge ist der
Rentenanspruch für die Zeit bis zum 31. Dezember 2002 aufgrund der bisherigen
und ab diesem Zeitpunkt nach den neuen Normen zu prüfen (BGE 130 V 445). Das
ATSG brachte allerdings hinsichtlich der Invaliditätsbemessung keine
substantiellen Änderungen gegenüber der bis zum 31. Dezember 2002 gültig
gewesenen Rechtslage (BGE 130 V 343; speziell zur Frage der gemischten
Methode: BGE 130 V 393), so dass auch die zur altrechtlichen Regelung
ergangene Judikatur weiterhin massgebend ist.
Auf die zutreffende vorinstanzliche Darstellung der massgebenden Normen und
Grundsätze kann verwiesen werden. Dies betrifft namentlich den Begriff der
Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG [sowohl in der bis Ende 2002 als auch in der
ab 1. Januar 2003 geltenden Fassung]; Art. 8 Abs. 1 ATSG), den Umfang des
Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 [sowohl in der bis Ende 2003 als auch in der
ab 1. Januar 2004 geltenden Fassung] und Abs. 1bis IVG [in Kraft gestanden
bis Ende 2003]), die Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen
Versicherten nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28
Abs. 2 IVG [in der bis Ende 2002 gültig gewesenen Fassung]; Art. 16 ATSG)
sowie bei teilweise Erwerbstätigen nach der gemischten Methode (Art. 28 Abs.
3 IVG in Verbindung mit Art. 27bis IVV [in der bis Ende 2003 gültig gewesenen
Fassung]; Art. 28 Abs. 2ter IVG; BGE 125 V 149 Erw. 2a). Ergänzend zu
verweisen ist für die beweisrechtliche Würdigung von medizinischen Berichten
auf BGE 125 V 352 Erw. 3a sowie - analog dazu - hinsichtlich der
Abklärungsberichte der IV-Stelle auf BGE 128 V 93.

2.
Zu prüfen ist, ob im Gesundheitsfall mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
eine teilzeitliche Erwerbstätigkeit von 80 Prozent oder ein Vollpensum
ausgeübt würde.

2.1 Ob ein Versicherter als ganztägig oder zeitweilig Erwerbstätiger oder als
Nichterwerbstätiger einzustufen ist - was je zur Anwendung einer andern
Methode der Invaliditätsbemessung (Einkommensvergleich, Betätigungsvergleich,
gemischte Methode) führt -, ergibt sich aus der Prüfung, was der Versicherte
bei im Übrigen unveränderten Umständen täte, wenn keine gesundheitliche
Beeinträchtigung bestünde. Bei im Haushalt tätigen Versicherten im Besonderen
sind die persönlichen, familiären, sozialen und erwerblichen Verhältnisse
ebenso wie allfällige Erziehungs- und Betreuungsaufgaben gegenüber Kindern,
das Alter, die beruflichen Fähigkeiten und die Ausbildung sowie die
persönlichen Neigungen und Begabungen zu berücksichtigen. Die Statusfrage
beurteilt sich praxisgemäss nach den Verhältnissen, wie sie sich bis zum
Erlass der Verwaltungsverfügung entwickelt haben, wobei die hypothetische, im
Gesundheitsfall ausgeübte (Teil-)Erwerbstätigkeit mit dem im
Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit dargetan sein muss (BGE 125 V 150 Erw. 2c).

2.2
2.2.1Die Versicherte macht geltend, angesichts ihrer familiären Situation -
sie lebt seit September 2002 von ihrem Ehemann getrennt, die beiden
erwachsenen Kinder sind aus dem Elternhaus ausgezogen - wäre sie ohne
gesundheitliche Beeinträchtigung vollumfänglich erwerbstätig, weil sie sich
spätestens seit der Trennung gezwungen gesehen hätte, überwiegend selbst für
ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Nach der Trennungsvereinbarung vom 7./10.
November 2002 ist der Ehemann der Beschwerdeführerin verpflichtet, dieser
monatliche Unterhaltsbeiträge von Fr. 3659.- zu bezahlen. Dieser Betrag wird,
entsprechend der geltenden Rechtslage (Art. 179 Abs. 1 ZGB), bei Änderung der
Verhältnisse jeweils angepasst. Im Gegensatz zur Regelung des nachehelichen
Unterhalts (Art. 125 ZGB) bleibt es im Rahmen der Regelung des Getrenntlebens
grundsätzlich zwar bei der bisherigen Aufgabenteilung, wenn mit dem
Erwerbseinkommen der Ehegatten nach der bisherigen Ordnung die Kosten beider
Haushalte gedeckt werden können; es soll nicht bereits auf der Stufe des
Getrenntlebens eine neue Aufgabenteilung präjudiziert werden (Ivo Schwander,
Basler Kommentar zum ZGB, 2. Aufl. 2002, Art. 176 Rz 3 f.). Im vorliegenden
Fall besteht aber Einigkeit, dass die Versicherte zwecks Erhaltung des
Lebensstandards eine Erwerbstätigkeit mit erheblichem Umfang aufgenommen
hätte. Auch unter dem Aspekt der absehbaren Möglichkeit einer Scheidung
erscheint es nachvollziehbar, dass sie im Gesundheitsfall versucht hätte,
sich im Hinblick auf die dannzumal im Rahmen des Zumutbaren einforderbare
Ausschöpfung der Eigenversorgungskapazität (vgl. Art. 125 ZGB) - dies nicht
zuletzt in Anbetracht ihres Alters von 50 Jahren - rechtzeitig im
Arbeitsmarkt zu etablieren; dabei entsprechen die angebotenen Stellen
mehrheitlich einer Vollzeitbeschäftigung. Die Annahme, dass die
Beschwerdeführerin das grösstmögliche Arbeitspensum versehen würde, erscheint
auch mit Blick auf den verhältnismässig tiefen Lohnansatz plausibel; das
kantonale Gericht hat, umgerechnet auf einen Erwerbsgrad von 100 Prozent, ein
Valideneinkommen von lediglich rund Fr. 3900.- ermittelt.
Nach dem Gesagten besteht vorliegend eine andere Ausgangslage als im Urteil
S. vom 13. Juni 2005 (I 200/05), wo ausgeführt wurde, für eine Ausdehnung der
Erwerbstätigkeit nach der Trennung hätte auch im Gesundheitsfall keine
wirtschaftliche Notwendigkeit vorgelegen, während für eine unabhängig davon
gegebene diesbezügliche Absicht keine hinreichenden Anhaltspunkte bestünden
(Erw. 2.2).
2.2.2 Zu prüfen bleibt, ob die weiteren Lebensumstände eine abweichende
Annahme rechtfertigen. Die Vorinstanzen unterstellten, die Versicherte hätte
die Erwerbstätigkeit im Gesundheitsfall zugunsten einer Tätigkeit im Haushalt
auf 80 Prozent beschränkt. Einschlägige Indizien finden sich indes nicht: Die
Beschwerdeführerin bewohnt nach der Trennung eine Zweizimmerwohnung. Sie
pflegt nur Hobbies, die auch im Rahmen der üblichen Freizeit ausgeübt werden
könnten, also keinen zusätzlichen Zeitbedarf bedingen. Der Umstand, dass ihr
das Erwachsenwerden und die damit verbundene Ablösung der beiden Kinder
etwelche Mühe bereitete (vgl. den Bericht des Psychiatriezentrums X.________
vom 24. April 2002), spricht im Übrigen eher gegen die Wahl eines reduzierten
Arbeitspensums, ebenso das Fehlen anderweitiger Betreuungspflichten oder etwa
von ehrenamtlichen Tätigkeiten. Nachdem die Beschwerdeführerin aus der
gemeinsamen Eigentumswohnung ausgezogen ist, bildet auch die seit 1996
wahrgenommene Verwaltung der Stockwerkeigentümergemeinschaft kein Indiz für
eine - hypothetisch - reduzierte Erwerbstätigkeit mehr.

2.2.3 Die Vorinstanzen stellen massgeblich auf - divergierende - Aussagen der
Versicherten zum hier strittigen Punkt ab. Diese vermögen die aus den
objektiven Gegebenheiten fliessende Schlussfolgerung, die Beschwerdeführerin
sei ohne gesundheitliche Beeinträchtigung vollumfänglich erwerbstätig, nicht
zu entkräften. Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie habe bei der
Befragung durch die Abklärungspersonen der IV am 11. März 2004 zunächst davon
gesprochen, sie würde bei guter Gesundheit zu 100 Prozent arbeiten und erst
danach, quasi auf entsprechende Suggestivfrage hin, einen hypothetischen
Beschäftigungsgrad von 80 Prozent angegeben. Diese Darstellung bleibt als
solche unwidersprochen; in einem internen Papier vom 18. Mai 2004 führt der
Abklärungsdienst lediglich in allgemeiner Weise aus, angesichts der
persönlichen, wirtschaftlichen und familiären Umstände sei nicht mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt, dass die Versicherte ohne
gesundheitliche Einschränkung ein volles Arbeitspensum versehen würde. Davon
kann, wie die vorstehenden Erwägungen zeigen, gerade nicht ausgegangen
werden. Zudem gewinnt die Darstellung an Glaubwürdigkeit, weil sie bereits in
der Einsprache der (damals ohne Rechtsbeistand handelnden) Versicherten zum
Ausdruck kam.
Das kantonale Gericht wiederum verweist auf eine Auskunft der Versicherten,
welche die schriftliche Frage der IV-Stelle, wie viele Wochenstunden sie bei
guter Gesundheit einer ausserhäuslichen Tätigkeit nachgehen würde, im Februar
2003 mit "Voraussetzung: 'ruhige Stelle 50 %'" beantwortet hatte. Diese
Formulierung zeigt, dass die Beschwerdeführerin die hypothetische Frage
entweder nicht richtig er-fasst hatte oder nicht genügend von ihrer
tatsächlichen und aktuellen Befindlichkeit abstrahieren konnte. Insgesamt
legen es die Äusserungen der Versicherten nicht nahe, von der
Schlussfolgerung abzugehen, wie sie sich aus den objektiven Umständen ergibt
(Erw. 2.2.2 hievor).

3.
3.1 Die Verfahrensbeteiligten gehen zu Recht davon aus, dass die
Beschwerdeführerin in einer leidensangepassten Tätigkeit noch zu 50 Prozent
arbeitsfähig ist. Das kantonale Gericht hat für die Bemessung sowohl des
Validen- wie auch des Invalideneinkommens in begründeter Weise auf denselben
tabellarischen Lohnansatz abgestellt und beim Invalideneinkommen einen Abzug
von zehn Prozent vorgenommen (vgl. BGE 126 V 75). Dadurch ist ein
Invaliditätsgrad von mindestens 50 Prozent und somit der Anspruch auf eine
halbe Invalidenrente ausgewiesen.

3.2 Der Gesundheitsschaden besteht, soweit rechtserheblich, seit Februar 2000
(Depression) bzw. April 2000 (vaskuläre Enzephalopathie; vgl. den Arztbericht
des Dr. K.________ vom 25. November 2002). Da die Anmeldung zum
Leistungsbezug im Juli 2002 erfolgte, ist die Invalidenrente ab dem 1. Juli
2001 geschuldet (Art. 29 Abs. 1 lit. b und Art. 48 Abs. 2 IVG).

4.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend
hat die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 135 in
Verbindung mit Art. 159 Abs. 2 OG; vgl. bezüglich der Vertretung durch den
Rechtsdienst für Behinderte der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft zur
Eingliederung Behinderter [SAEB]: SVR 1997 IV Nr. 110 S. 341 Erw. 3).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 15. November 2004 und der
Einspracheentscheid der IV-Stelle Bern vom 23. Juli 2004 aufgehoben und es
wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin mit Wirkung ab dem 1. Juli
2001 Anspruch auf eine halbe Invalidenrente hat.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle Bern hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wird über eine Parteientschädigung
für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 19. August 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: