Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 833/2004
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I 833/04

Urteil vom 10. Juni 2005
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiber Hadorn

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

T.________, 1993, Beschwerdegegner, vertreten durch seine Eltern

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 11. November 2004)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 4. Dezember 2002 lehnte die IV-Stelle des Kantons Solothurn
ein Gesuch von T.________ (geboren am 31. Oktober 1993) um medizinische
Massnahmen ab.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn mit Entscheid vom 4. August 2003 in dem Sinne gut, dass es die
Sache zu näheren Abklärungen an die Verwaltung zurückwies.

C.
Mit Verfügung vom 23. April 2004 lehnte die IV-Stelle das Gesuch um
medizinische Massnahmen erneut ab. Diese Verfügung bestätigte die IV-Stelle
mit Einspracheentscheid vom 6. September 2004.

D.
Auf Beschwerde hin erkannte das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
mit Entscheid vom 11. November 2004, dass T.________ Anspruch auf
medizinische Massnahmen habe.

E.
Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Begehren, der kantonale Entscheid sei
aufzuheben.

Während T.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
lässt, beantragt die IV-Stelle deren Gutheissung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen zum Anspruch von
Personen bis zum vollendeten 20. Altersjahr auf medizinische Massnahmen zur
Behandlung von Geburtsgebrechen (Art. 3 Abs. 2 ATSG und Art. 13 IVG), zu den
anerkannten Geburtsgebrechen (Art. 1 GgV), insbesondere zum angeborenen
Psychoorganischen Syndrom (POS; Ziff. 404 GgV Anhang), und die dazu ergangene
Rechtsprechung (BGE 122 V 113) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob der Versicherte Anspruch auf medizinische
Massnahmen zur Behandlung des Geburtsgebrechens nach Ziff. 404 GgV Anhang
hat. Dies ist unbestrittenermassen nur dann der Fall, wenn sowohl die
Diagnosestellung als auch der Behandlungsbeginn vor dem vollendeten 9.
Altersjahr, somit vor Ende Oktober 2002, erfolgt sind.

2.1 Aus den Akten ergibt sich Folgendes: Im Bericht vom 28. Mai 2001 hat das
Spital X.________ einen "Verdacht auf eine hyperkinetische Störung (HKS nach
ICD-10, ADHD nach DSM-IV, POS nach IV-Kriterien)" geäussert. Am 22. Oktober
2002 diagnostiziert Dr. med. A.________, Arzt FMH für Allgemeine Medizin, ein
ADHD. Unter homöopathischer Behandlung und Verhaltenstraining gehe es gut. In
einem weitern Bericht vom 2. Dezember 2002 nennt er ein
Aufmerksamkeitsdefizit mit Hyperaktivität. Im Bericht vom 18. Februar 2003
fügt er an, der Versicherte könne nur dank Ritalin den Schulunterricht
besuchen. Frau Dr. med. F.________, Fachärztin FMH für Kinder- und
Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, gibt im Bericht vom 3. Februar 2004
an, der Beschwerdegegner leide an einem frühkindlichen POS im Sinne des
Geburtsgebrechens nach Ziff. 404 GgV Anhang.

2.2 Aus dieser Krankengeschichte erhellt, dass nur die Verdachtsdiagnose des
Spitals X.________ vom 28. Mai 2001 und die Diagnose eines ADHD von Dr. med.
A.________ vom 22. Oktober 2002 vor dem kritischen Datum des 31. Oktober 2002
liegen. Eine Verdachtsdiagnose genügt rechtsprechungsgemäss den
Voraussetzungen von Ziff. 404 GgV Anhang nicht (Urteile C. vom 22. September
2004, I 200/04, und G. vom 5. September 2001, I 554/00). Aber auch die
Angaben von Dr. A.________ sind nicht ausreichend: Dieser Arzt gibt in allen
seinen Berichten weder ausdrücklich ein POS noch ein Geburtsgebrechen an und
verweist nie auf Ziff. 404 GgV Anhang. Zudem nennt er als Diagnose teilweise
ein ADHD, dann ein ADS. Hinsichtlich des ADS hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht im Urteil L. vom 15. März 2004, I 572/03, unter Hinweis
auf die medizinische Fachliteratur festgehalten, dass es nicht einem
kongenitalen POS im Sinne von Ziff. 404 GgV Anhang gleichgestellt werden
darf. Zwar hat Frau Dr. med. F.________ am 3. Februar 2004 ein POS
diagnostiziert. Dies hilft dem Versicherten indessen nicht weiter. Wenn es an
einer rechtzeitigen Diagnose mangelt, fehlt es an einer Voraussetzung für die
Leistungspflicht der Invalidenversicherung. Einzig falls die Diagnose
rechtzeitig gestellt wird, ist es denkbar, deren Richtigkeit mit nach dem 9.
Altersjahr durchgeführten Erhebungen beweismässig zu untermauern.
Nachträgliche Untersuchungen können aber aus einer fehlenden oder verspäteten
Diagnose keine rechtzeitige machen (BGE 122 V 117 Erw. 2f). Daher ist die
Invalidenversicherung vorliegend nicht leistungspflichtig.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 11. November 2004 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn, der IV-Stelle des Kantons Solothurn und der Ausgleichskasse des
Kantons Solothurn zugestellt.

Luzern, 10. Juni 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: