Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 811/2004
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I 811/04

Urteil vom 29. Juni 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber
Fessler

B.________, 1948, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecherin Katrin
Zumstein, "Villa Le Grand", Schulhausstrasse 12, 4900 Langenthal,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 4. November 2004)

Sachverhalt:

A.
Die 1948 geborene B.________ arbeitete seit 1985 teilzeitlich als
Raumpflegerin. Daneben besorgte sie den Haushalt. Am 5. Januar 2001 stürzte
B.________ bei der Arbeit auf einer Treppe. Dabei zog sie sich u.a. eine
grosse Rissquetschwunde links parietal zu. Wegen persistierender Kopf- und
Nackenschmerzen, intermittierender Schwindelgefühle sowie multipler Ängste,
insbesondere beim Treppenhinuntersteigen, wurde B.________ vom 6. August bis
19. September 2001 in der Rehabilitationsklinik Y.________ der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) behandelt. Im Rahmen dieses
Aufenthalts wurde sie auch neurologisch und psychosomatisch abgeklärt. Ab 1.
Oktober 2001 unterzog sich B.________ einer ambulanten Therapie am
Psychiatriezentrum X.________. Mit Verfügung vom 26. März 2003 sprach ihr die
SUVA ab 1. Mai 2003 aufgrund einer Erwerbsunfähigkeit von 77 % eine
Invalidenrente der Unfallversicherung zu.
Während des Aufenthaltes in der Rehabilitationsklinik Y.________ im September
2001 hatte sich B.________ bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug
angemeldet. Nach Abklärungen lehnte die IV-Stelle Bern mit Verfügung vom 2.
Juli 2003 das Leistungsbegehren ab. Die Invaliditätsbemessung nach der
gemischten Methode ergab einen Invaliditätsgrad von 37 % (0,51 x 58 % + 0,49
x 16 %). Mit Einspracheentscheid vom 27. Februar 2004 bestätigte die
IV-Stelle die Verfügung.

B.
Die Beschwerde der B.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
unter Berücksichtigung eines nachträglich eingereichten Berichts des
Psychiatriezentrums X.________ vom 2. Juni 2004 mit Entscheid vom 4. November
2004 ab.

C.
B.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und es sei ihr eine
Invalidenrente zuzusprechen; im Weitern sei ihr die unentgeltliche
Verbeiständung zu bewilligen.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine Rente
der Invalidenversicherung hat. Dabei stellt sich in erster Linie die Frage,
ob ein durch Krankheit oder Unfall verursachter Gesundheitsschaden im Sinne
von Art. 4 Abs. 1 IVG besteht und inwiefern er sich auf die Arbeitsfähigkeit
im erwerblichen Bereich sowie im Haushalt auswirkt.

2.
Das kantonale Gericht hat erwogen, die Ärzte der SUVA und des
Psychiatriezentrums X.________ hätten übereinstimmend eine somatoforme
Schmerzstörung diagnostiziert. Bei Anwendung der neuesten Rechtsprechung des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts zu dieser unter die Kategorie der
psychischen Leiden fallenden gesundheitlichen Beeinträchtigung (vgl. BGE 130
V 252 und 396 sowie Urteile B. vom 9. August 2004 [I 767/03] und P. vom 6.
Mai 2004 [I 655/03]) ergebe sich, dass die Versicherte aus somatischer Sicht
die verbleibende Leistungsfähigkeit in zumutbarer Weise umzusetzen vermöge.
Gemäss Ergänzungsbericht des Psychiatriezentrums X.________ vom 24. Januar
2003 zum Verlaufsbericht vom 8. Oktober 2002 seien täglich zwei Stunden
Arbeit mit der Möglichkeit, sitzend und in Bewegung zu sein, bei geringen
Anforderungen an Konzentration und Ausdauer sowie nicht zu langer
Beanspruchung der Sehkraft zumutbar. Eine psychiatrische Komorbidität läge
nicht vor. Die in der Diagnose der Ärzte des Psychiatriezentrums X.________
aufgeführte ängstlich-depressive Symptomatik (F41.2 ICD-10) sei nicht
schwerwiegend gewesen, sei sie doch mit «anfangs» und «eher» beschrieben
worden. Bei der vorbestehenden neurotischen Persönlichkeitsstörung (F60.8
ICD-10) handle es sich um ein Verhaltensmuster, welches als nicht so
schwerwiegend bezeichnet worden sei, als dass es der Versicherten nicht
zumutbar wäre, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Chronische körperliche und
psychische Begleiterkrankungen seien nicht gegeben. Von einem Verlust der
sozialen Integration könne nicht gesprochen werden, gestalte doch die
Versicherte seit Frühling 2002 ihren Alltag wieder aktiv. Sie habe begonnen,
etwa fünf bis sechs Stunden pro Woche bei Bekannten zu putzen. Sodann habe
sie die Aufgabenhilfe an einer Schule in X.________ an zwei Nachmittagen pro
Woche übernommen. Im Weitern hüte sie oft die Kinder ihrer Töchter und
engagiere sich im Samariterverein, pflege regelmässigen Kontakt zu Bekannten
und besuche den Turnverein. Es sprächen somit aus rechtlicher Sicht keine
Gründe dafür, dass die psychischen Ressourcen nicht erlaubten, trotz der
subjektiv empfundenen Schmerzen während zwei Stunden täglich einer leichten
Arbeit mit der Möglichkeit, sitzend und in Bewegung tätig zu sein,
nachzugehen. Nichts anderes ergebe sich aus dem aktuellsten Verlaufsbericht
des Psychiatriezentrums X.________ vom 2. Juni 2004.
Auf der Grundlage der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit im Bericht vom 8.
Oktober 2003 hat die Vorinstanz in Anwendung der auch unter der Herrschaft
des ATSG sowie nach In-Kraft-Treten der 4. IV-Revision geltenden Gerichts-
und Verwaltungspraxis zur gemischten Methode (vgl. BGE 125 V 148 f. Erw. 2a-c
in Verbindung mit BGE 130 V 393 sowie BBl 2001 3287) einen Invaliditätsgrad
von 35 % (0,51 x 53 % + 0,49 x 16 %) ermittelt.

3.
3.1 Entgegen den Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist nicht zu
beanstanden, dass kantonales Gericht und IV-Stelle für die Festsetzung der
trotz der Schmerzstörung noch zumutbaren Arbeitsfähigkeit hauptsächlich auf
den Bericht des Psychiatriezentrums X.________ vom 8. Oktober 2002 über den
Verlauf der am 1. Oktober 2001 begonnenen ambulanten Psychotherapie sowie den
Ergänzungsbericht vom 24. Januar 2003 zuhanden der SUVA abgestellt haben.
Daran ändert der weitere Bericht dieser medizinischen Fachstelle vom 2. Juni
2004 nichts. Darin wird in erster Linie die unbestrittene Diagnose einer
anhaltenden somatoformen Schmerzstörung bestätigt. Die körperliche und
psychische Belastbarkeit wird zwar als sehr instabil und über
psychotherapeutische Massnahmen wenig angehbar eingeschätzt. Auch werden die
verbleibenden Arbeitsfähigkeiten als gering angesehen, ebenso die
Leistungsfähigkeit in Bezug auf Geschwindigkeit, Ausdauer und Konzentration.
Diese allgemein gehaltenen Aussagen vermögen indessen die Einschätzung im
Bericht vom 24. Januar 2003, wonach der Versicherten aus psychiatrischer
Sicht zuzumuten ist, während zwei Stunden täglich einer leichten Arbeit mit
der Möglichkeit, sitzend und in Bewegung tätig zu sein, nicht ernstlich zu
erschüttern. Im Übrigen sind die Auswirkungen einer allfälligen
Verschlechterung des Gesundheitszustandes seit dem Einspracheentscheid vom
27. Februar 2004 auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit nicht Gegenstand
dieses Verfahrens (BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 116 V 248 Erw. 1a).

3.2 Die Anwendung der gemischten Methode zur Ermittlung des
Invaliditätsgrades steht ausser Frage. Den Anteil der Erwerbstätigkeit haben
Vorinstanz und IV-Stelle auf 0,51 festgesetzt. Gemäss Abklärungsbericht
Haushalt vom 25. Juni 2003, auf welchen in der Verfügung 2. Juli 2003
verwiesen wird, würde die Versicherte ohne gesundheitliche Beeinträchtigung
bei zwei Firmen als Raumpflegerin im zeitlichen Umfang von 16,6 und 4,5
Stunden in der Woche bei einer branchenüblichen Arbeitszeit von 42 resp. 41,5
Stunden tätig sein. Die 16,6 Stunden setzen sich zusammen aus den bis zum
Eintritt des Gesundheitsschadens effektiv geleisteten 12,6 Stunden sowie 4
Stunden, welche sie zur Kompensation eines dritten infolge Geschäftsaufgabe
im Oktober 2000 aufgelösten Anstellungsverhältnisses zusätzlich gearbeitet
hätte. Das Arbeitspensum an dieser verlorenen Stelle bewegte sich nach ihren
Angaben zwischen 4 und 7 Stunden in der Woche. Es ist daher zu Gunsten der
Beschwerdeführerin von einer um 5 ½ und nicht lediglich 4 Stunden höheren
wöchentlichen Arbeitszeit auszugehen. Bei 18,1 und 4,5 Wochenstunden beträgt
der zeitliche Umfang der im Gesundheitsfall ausgeübten Beschäftigung als
Raumpflegerin im Verhältnis zur üblichen (Normal-)Arbeitszeit von 42 resp.
41,5 Stunden 0,54 (vgl. BGE 125 V 149 Erw. 2b). Das von der Vorinstanz
ermittelte Valideneinkommen von Fr. 22'122.- für 2002 ist unbestritten.

3.3 Beim Invalideneinkommen hat das kantonale Gericht unter Berücksichtigung
des Alters und der allgemeinen leidensbedingten Einschränkung sowie mit Blick
auf vergleichbare Fälle einen Abzug von 10 % in Anschlag gebracht (vgl. BGE
126 V 75). Damit bleibt sie unter den in der Verfügung vom 3. Juli 2003
gewährten 20 % gemäss Abklärungsbericht Haushalt vom 25. Juni 2003. Mit einem
Abzug von lediglich 10 % wird indessen auch unter dem Gesichtspunkt der
Angemessenheit (BGE 126 V 80 f. Erw. 5b/dd und Erw. 6) den hier gegebenen
besonderen Umständen nicht genügend Rechnung getragen.
Die Beschwerdeführerin leidet auch an einer Sehschwäche links (Schielen)
sowie an Adipositas permagna. Gemäss dem neurologischen Konsilium vom 23.
Oktober 2001 sodann hatte die Versicherte mit leicht überwiegender
Wahrscheinlichkeit beim Treppensturz vom 5. Januar 2001 eine milde
traumatische Hirnverletzung erlitten. Dementsprechend gilt die grundsätzliche
Zumutbarkeit einer leichten Arbeit von zwei Stunden täglich mit der
Möglichkeit, sitzend und in Bewegung tätig zu sein, nur bei geringen
Anforderungen an Konzentration und Ausdauer sowie nicht zu langer
Beanspruchung der Sehkraft. Im Weitern bestehen eine neurotische
Persönlichkeitsstörung (F 60.8) sowie eine ängstlich-depressive Symptomatik
(F 41.2), welche wesentlich zur Entwicklung der somatoformen Schmerzstörung
beigetragen haben. Gemäss dem während des Aufenthalts in der
Rehabilitationsklinik Y.________ erstellten psychosomatischen Konsilium vom
27. August 2001 trat bei vorbestehender neurotischer
Persönlichkeitsentwicklung und erhöhter Vulnerabilität für Angsterkrankungen
bereits 1986 eine Angstsymptomatik auf, welche im Rahmen eines Kuraufenthalts
behandelt wurde. Der Treppensturz vom 5. Januar 2001 hatte wiederum zu einer
Angstsymptomatik mit multiplen phobischen Erlebensweisen und starker innerer
Verunsicherung sowie Somatisierung geführt. Kreisarzt Dr. med. K.________
erwähnte in seinem Bericht vom 24. Juni 2002 neben der Persistenz der
Beschwerden (Hals-, Nacken- und Kopfschmerzen linksbetont,
Gleichgewichtsprobleme) eine psychische Komponente mit Angst- und
Depressionszuständen.
Wenn auch nicht davon gesprochen werden kann, es bestünden realistischerweise
- bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage - keine Einsatzmöglichkeiten in der
freien Wirtschaft, erscheint aufgrund des Beschwerdebildes die Verwertbarkeit
der verbliebenen Arbeitsfähigkeit doch erschwert. Dies gilt umso mehr, wenn
berücksichtigt wird, dass die Versicherte offenbar über keinen berufliche
Lehrabschluss verfügt und die seit 1986 ausgeübte Teilwerbstätigkeit
ausnahmslos Putzarbeiten umfasste. Der maximal zulässige Abzug vom
Tabellenlohn von 25 % ist daher gerechtfertigt. Dies ergibt bei im Übrigen
unveränderten Berechnungsfaktoren ein Invalideneinkommen für 2002 von Fr.
8595.- ([12 x Fr. 3820.- x 41,7/40] x 10 [= 5 x 2 zumutbare Arbeitsstunden je
Woche]/41,7 x 0,75; vgl. Schweizerische Lohnstrukturerhebung 2002 des
Bundesamtes für Statistik S. 43 TA1 und BGE 129 V 484 Erw. 4.3.2).
Aus der Gegenüberstellung von Validen- und Invalideneinkommen resultiert ein
Invaliditätsgrad im Erwerbsbereich von 61,1 %.

3.4 Die Abklärungen vor Ort haben eine Behinderung im Haushalt von 16 %
ergeben (Bericht vom 25. Juni 2003). Dieser Grad der Einschränkung wird
einzig mit dem Hinweis auf den Bericht des Psychiatriezentrums X.________ vom
2. Juni 2004 bestritten. Dabei wird auf die einzelnen Positionen nicht näher
eingegangen. Eine eingehende Prüfung dieses Bemessungsfaktors erübrigt sich
somit. Abgesehen davon änderte selbst ein doppelt so hoher Grad der
Behinderung im Haushalt nichts am Ergebnis.
Bei einem Anteil der Erwerbstätigkeit von 0,54 und einer erwerbsbezogenen
Invalidität von 61,1 % ergibt sich ein Invaliditätsgrad von etwas mehr als 40
% ([0,54 x 61,1 % =] 32,99 % + [0, 46 x 16 % =] 7,36 % = 40,35 %). Dies gibt
Anspruch auf eine Viertel-, allenfalls eine halbe Härtefallrente (Art. 28
Abs. 1 und Abs. 1bis [in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2003] IVG).

4.
Dem Prozessausgang entsprechend hat die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine
u.a. nach dem anwaltlichen Vertretungsaufwand bemessene Parteientschädigung
(Art. 159 OG in Verbindung mit Art. 135 OG, Art. 2 Abs. 1 des Tarifs über die
Entschädigungen an die Gegenpartei für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht und Art. 160 OG). Das Gesuch um unentgeltliche
Verbeiständung ist demnach gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 4. November 2004 und
der Einspracheentscheid IV-Stelle Bern vom 27. Februar 2004 aufgehoben werden
und es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin ab 1. Januar 2002
Anspruch auf eine Viertel-, allenfalls auf eine halbe Härtefallrente der
Invalidenversicherung hat.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle Bern hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2000.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hat über die Parteientschädigung für
das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu befinden

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 29. Juni 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: