Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 801/2004
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I 801/04

Urteil vom 6. Juli 2005
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiberin Weber
Peter

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdeführerin,

gegen

T.________, 1997, Beschwerdegegnerin, vertreten durch ihre Eltern und diese
vertreten durch lic. iur. Max S. Merkli, Praxis für Sozialversicherungsrecht,
Schaffhauserstrasse 345, 8050 Zürich

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 26. Oktober 2004)

Sachverhalt:

A.
Die 1997 geborene T.________ erlitt bei der Geburt eine schwere perinatale
Asphyxie und leidet seither an einer schweren cerebralen Bewegungsstörung mit
globalem Entwicklungsrückstand. In Anerkennung der Geburtsgebrechen Ziff. 390
und 346 des Anhangs zur Verordnung über Geburtsgebrechen (GgV Anhang)
gewährte die Invalidenversicherung der Versicherten diverse Leistungen. Das
Gesuch der Eltern vom 15. März 2003 um Übernahme von Zahnbehandlungskosten im
Zeitraum vom 5. Dezember 2002 bis 24. Januar 2003 lehnte die IV-Stelle des
Kantons Aargau mit Verfügung vom 13. Juni 2003 ab, da zwischen der
Zahnbehandlung und den vorliegenden Geburtsgebrechen kein direkter
Kausalzusammenhang bestehe. Die Kosten für die Narkosen im Zusammenhang mit
den Zahnbehandlungen wurden übernommen. Nach Einholung einer ergänzenden
Stellungnahme des Dr. med. B.________, Spital X.________, Abteilung für
Kiefer- und Gesichtschirurgie (vom 12. Dezember 2003) wies die IV-Stelle die
dagegen geführte Einsprache ab (Einspracheentscheid vom 26. Februar 2004).

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde, in deren Folge zusätzlich ein ärztliches
Zeugnis der Neuropädiatrie des Spitals X.________ vom 19. August 2004 ins
Recht gelegt wurde, hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit
Entscheid vom 26. Oktober 2004 gut, hob den Einspracheentscheid auf und
verpflichtete die IV-Stelle, die Kosten der Zahnbehandlung vom 5. Dezember
2002 bis 24. Januar 2003 zu übernehmen.

C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Begehren, der
kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben.

Die Versicherte, vertreten durch ihre Eltern, lässt Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen. Das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) schliesst auf Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die Vorinstanz hat richtig erkannt, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft
getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 wie auch die am 1.
Januar 2004 in Kraft getretenen Änderungen des Bundesgesetzes über die
Invalidenversicherung vom 21. März 2003 und der Verordnung über die
Invalidenversicherung vom 21. Mai 2003 (4. IV-Revision) vorliegend anwendbar
sind (BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit Hinweisen).

1.2 Zutreffend dargelegt hat das kantonale Gericht zudem die gesetzlichen
Vorschriften zum Anspruch von Personen vor dem vollendeten 20. Altersjahr auf
medizinische Eingliederungsmassnahmen (Art. 3 Abs. 2 ATSG, Art. 13 Abs. 1
IVG), und zur Behandlung von Geburtsgebrechen (Art. 2 Abs. 3 GgV). Darauf
wird verwiesen.

Zu ergänzen ist, dass es sich bei den in Art. 3-13 ATSG enthaltenen
Legaldefinitionen in aller Regel um eine formellgesetzliche Fassung der
höchstrichterlichen Rechtsprechung zu den entsprechenden Begriffen vor
In-Kraft-Treten des ATSG handelt und sich inhaltlich damit, namentlich im
Bereich der medizinischen Massnahmen Minderjähriger (Art. 12 ff. IVG) keine
Änderung ergibt (BGE 130 V 345 ff. Erw. 3.1-3.4; Urteil I. vom 27. August
2004, I 670/03). Die dazu entwickelte Rechtsprechung kann folglich übernommen
und weitergeführt werden.

1.3 Nach der Rechtsprechung erstreckt sich der Anspruch auf medizinische
Massnahmen ausnahmsweise - und vorbehältlich der hier nicht zur Diskussion
stehenden Haftung für das Eingliederungsrisiko nach Art. 11 IVG - auch auf
die Behandlung sekundärer Gesundheitsschäden, die zwar nicht mehr zum
Symptomenkreis des Geburtsgebrechens gehören, aber nach medizinischer
Erfahrung häufig die Folge dieses Gebrechens sind. Zwischen dem
Geburtsgebrechen und dem sekundären Leiden muss demnach ein qualifizierter
adäquater Kausalzusammenhang bestehen. Nur wenn im Einzelfall dieser
qualifizierte ursächliche Zusammenhang zwischen sekundärem Gesundheitsschaden
und Geburtsgebrechen gegeben ist und sich die Behandlung überdies als
notwendig erweist, hat die Invalidenversicherung im Rahmen des Art. 13 IVG
für die medizinischen Massnahmen aufzukommen (BGE 100 V 41 mit Hinweisen; AHI
2001 S. 79 Erw. 3a; Pra 1991 Nr. 214 S. 906 Erw. 3b). An die Erfüllung der
Voraussetzungen des rechtserheblichen Kausalzusammenhangs sind strenge
Anforderungen zu stellen, zumal der Wortlaut des Art. 13 IVG den Anspruch der
versicherten Minderjährigen auf die Behandlung des Geburtsgebrechens an sich
beschränkt (AHI 1998 S. 249 Erw. 2a).

Bejaht wurde der qualifizierte adäquate Kausalzusammenhang beispielsweise
zwischen Prader-Willi-Syndrom (Ziff. 462 GgV Anhang) und morbider Adipositas,
weil diese eine fast zwangsläufige Konsequenz des Prader-Willi-Syndroms sei
(AHI 2001 S. 79 Erw. 3b). Gleich entschieden wurde im Falle einer
Versicherten, welche an einer angeborenen Leukopenie (Ziff. 322 GgV Anhang)
und einer Gingivitis litt, dies mit der Begründung, Infektionen der
Schleimhäute stellten unmittelbare Folgen der Leukopenie dar und könnten
mittelbar zu Zahnfleischentzündungen führen, welche wiederum Parodontose
verursachen könnten, sodass aufgrund dieser Verkettung das Risiko von
weiteren Folgen des Grundleidens derart immanent zu diesem selbst sei, dass
der natürliche Kausalzusammenhang besonders eng sei und die Adäquanz
augenfällig erscheine (Pra 1991 Nr. 214 S. 906 Erw. 4a). Im Lichte dieser
Rechtsprechung stellte das Eidgenössische Versicherungsgericht fest, dass die
Häufigkeit des sekundären Leidens nicht das allein entscheidende Kriterium
für die Bejahung eines qualifizierten adäquaten Kausalzusammenhanges
darstellt (Urteil A. vom 14. Oktober 2004, I 438/02).

2.
Vorliegend steht fest und ist unbestritten, dass die Versicherte an einem
Geburtsgebrechen gemäss Ziff. 390 GgV Anhang (angeborene cerebrale Lähmungen)
leidet. Das ebenfalls ausgewiesene Geburtsgebrechen Ziff. 346 GgV Anhang
(kongenitaler vesico-ureteraler Reflux) ist zur Beurteilung der hier
strittigen Frage nicht relevant. Streitig und zu prüfen ist, ob die
Invalidenversicherung die Zahnbehandlung (Wurzelbehandlung eines kariösen
Zahns) als mittelbare Folge des genannten Geburtsgebrechens als medizinische
Massnahme gemäss Art. 13 IVG zu übernehmen hat.

2.1 Die Vorinstanz hat im angefochtenen Entscheid den Anspruch auf Übernahme
der strittigen Zahnbehandlungskosten bejaht. Sie hat dies damit begründet,
dass angesichts der übereinstimmenden ärztlichen Beurteilung der behandelnden
Kieferchirurgie und der Neuropädiatrie des Spitals X.________ vorliegend
erstellt sei, dass die Zahnkaries als sekundärer Gesundheitsschaden zwar
nicht zum eigentlichen Symptomenkreis des Geburtsgebrechens Ziff. 390 GgV
Anhang gehöre, dass Zahnkaries aber nach der medizinischen Erfahrung häufig
eine Folge dieses Geburtsgebrechens sei. Bei derart schweren Formen
cerebraler Lähmungen wie im vorliegenden Fall seien Kariesprobleme nach den
Angaben der Ärzte nahezu unvermeidlich, weil durch die Lähmungen eine
ausreichende Zahnhygiene verhindert werde. So sei laut Dr. med. B.________
auch eine eingehende Zahnuntersuchung beim geistig behinderten Kind ohne
Narkose unmöglich. Dementsprechend schwierig müsse die tägliche Zahnhygiene
ohne Narkose sein. Unter diesen Umständen sei der verlangte qualifizierte
adäquate Kausalzusammenhang zwischen der Zahnkaries als sekundärem
Gesundheitsschaden und dem Geburtsgebrechen Ziff. 390 GgV Anhang als erstellt
zu betrachten und die Behandlung erweise sich unbestrittenermassen als
notwendig. Ein äusseres Ereignis, welches den adäquaten Kausalzusammenhang
unterbrechen würde, sei nicht ersichtlich. Dieser Beurteilung kann nicht
zugestimmt werden.

2.2 Im Arztzeugnis der Neuropädiatrie des Spitals X.________ vom 19. August
2004 wird ausgeführt, bei Kindern mit einer schweren Mehrfachbehinderung
stelle die Mundhygiene und Zahnpflege häufig ein sehr schwieriges Problem
dar. Insbesondere würden die Kinder im Mundbereich eine Hypersensibilität
aufweisen, was in der Regel der Fall sei. Bei zerebralen Bewegungsstörungen
seien nicht nur die Extremitäten, sondern häufig auch der orofasziale (Mund
und Gesicht betreffende) Bereich schwer beeinträchtigt. Trotz intensiven
Bemühungen von Seiten der Eltern sei es häufig nicht möglich, Zahnkaries zu
vermeiden. Insofern sind nach Auffassung der Ärztinnen die Zahnprobleme
schwer mehrfachbehinderter Kinder und speziell bei der Versicherten in
Zusammenhang respektive als Folge des zugrunde liegenden Geburtsgebrechens zu
sehen.

2.3 Entgegen der Vorinstanz kann daraus nicht ohne weiteres abgeleitet
werden, dass Kariesprobleme bei schweren Formen cerebraler Lähmungen wie bei
der Versicherten nahezu unvermeidlich sind und mithin ein qualifizierter
adäquater Kausalzusammenhang gegeben ist. Vielmehr wird damit lediglich das
Vorliegen eines Kausalzusammenhangs zwischen der Karies als mittelbarem
Leiden und dem angeborenen Grundleiden bestätigt. Die Bejahung eines
qualifizierten adäquaten Kausalzusammenhangs hängt gemäss Rechtsprechung
nicht allein von der Häufigkeit des sekundären Leidens ab (vgl. Erw. 1.3
hievor). So wäre nur schwer einzusehen, weshalb eine an einem
Geburtsgebrechen leidende versicherte Person, bei der ein seltenes
Folgeleiden aufträte, keinen Behandlungsanspruch hätte, während diejenigen
versicherten Personen, bei denen ein häufig auftretender sekundärer
Gesundheitsschaden bestünde, dafür einen Behandlungsanspruch begründeten.
Mithin hat ein qualitatives Element hinzuzutreten. Wie die IV-Stelle
zutreffend argumentiert, wird die Karies aufgrund der ausgewiesenermassen
sehr schwierigen Pflegesituation und der zusätzlichen Hypersensibilität der
Versicherten im Mundbereich zwar mit Sicherheit begünstigt, sie ist aber
nicht eine zwangsläufige Konsequenz des Gebrechens selbst. So handelt es sich
mit dem BSV bei der Entstehung der Karies um einen ganzen Ursachenkomplex.
Neben inneren Faktoren wie vererbte Zahnstellung, mangelhafte Mineralisierung
oder veränderte Zusammensetzung des Speichels können auch äussere Faktoren
wie beispielsweise Mikroorganismen, Art und Zusammensetzung der
Nahrungsmittel, Häufigkeit der Nahrungsaufnahme, Mundhygiene und
Kariesprophylaxe eine Rolle spielen. Im vorliegenden Fall würde das
Erfordernis eines zusätzlichen qualitativen Elements bedeuten, dass durch das
bestehende Geburtsgebrechen trotz der im Rahmen der Schadenminderungspflicht
erforderlichen Bemühungen von Seiten der Eltern oder Drittpersonen die
Zahnpflege praktisch verunmöglicht würde und darin ausgewiesenermassen die
Hauptursache der Karies läge. Damit würde die Karies eine fast zwangsläufige
Konsequenz des Grundleidens darstellen. Dies trifft jedoch nicht zu. Aus dem
Umstand, dass eine eingehende Zahnuntersuchung und Zahnbehandlung nur unter
Narkose erfolgen kann, lässt sich nicht ohne weiteres schliessen, dass die
tägliche Zahnpflege praktisch unmöglich ist. Vielmehr ist sie, wie die
Zusammenstellung des täglichen Zeitaufwandes im Formular
"Hilflosenentschädigung für Minderjährige" vom 15. April 2004 zeigt,
vorliegend durchaus durchführbar, jedoch unter zeitlichem Mehraufwand.
Überdies ist diesem Abklärungsbericht zu entnehmen, dass die Versicherte
mehrmals täglich erbricht. Ein diesbezüglicher Zusammenhang mit dem
Geburtsgebrechen ist nicht ausgewiesen.

Bei dieser Ausgangslage steht fest, dass die Invalidenversicherung die in
Frage stehende Zahnbehandlung mangels eines qualifizierten adäquaten
Kausalzusammenhangs zum Geburtsgebrechen nicht zu übernehmen hat.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 26. Oktober 2004 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 6. Juli 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: