Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 795/2004
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I 795/04

Urteil vom 16. Januar 2006
III. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiberin
Schüpfer

V.________, 1946, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr.
Christoph Kradolfer, Bahnhofstrasse 3,
8590 Romanshorn 1,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin

AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden

(Entscheid vom 4. November 2004)

Sachverhalt:

A.
A.a Die 1946 geborene spanische Staatsangehörige V.________ zog sich bei
einem Arbeitsunfall am 6. April 2000 eine Ablederungsverletzung der rechten
Hand zu. Das seit 1982 bestehende Arbeitsverhältnis mit der Firma P.________
war von dieser zu jenem Zeitpunkt bereits auf den 30. April 2000 gekündigt.
Nach Abschluss der primären Heilbehandlung weilte die Versicherte vom 24.
Januar bis 21. Februar 2001 zur stationären Handrehabilitation und
Ergotherapie in der Rehaklinik B.________. Dort kam man abschliessend zur
Erkenntnis, die bisherige Arbeit in der Kunststofffabrik sei der Patientin
nicht mehr zumutbar. Hingegen könne sie eine leichte Arbeit, welche rechts
keine feinmotorischen Anforderungen stelle und bei der sie keine Lasten über
2,5 kg heben müsse, ganztags verrichten. Die rechte Hand könne zum Gegenhalt
beim Heben und während der Arbeit gebraucht werden (Austrittsbericht vom 28.
Februar 2001). Die SUVA, bei welcher V.________ gegen die Folgen von Unfällen
versichert war, sprach ihr eine Invalidenrente auf Grund einer
Erwerbsunfähigkeit von 33 1/3 % und eine Integritätsentschädigung von 25% zu.

A.b V.________ meldete sich am 8. Januar 2001 bei der Invalidenversicherung
zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Thurgau holte die Akten der SUVA und
einen Arztbericht der Frau Dr. med. N.________, Oberärztin Handchirurgie am
Kantonsspital M.________, vom 28. September 2001 sowie einen Bericht ihres
Berufsberaters vom 22. März 2002 ein. Mit Verfügung vom 8. Oktober 2002 wies
sie das Rentengesuch unter Übernahme des von der SUVA ermittelten
Invaliditätsgrades ab. Auf Beschwerde wies die AHV/IV-Rekurskommission des
Kantons Thurgau die Sache an die Verwaltung zurück, damit diese weitere
Abklärungen - vorzugsweise in Form einer BEFAS-Berufserprobung - treffe und
neu verfüge (Entscheid vom 11. Februar 2003).

A.c Die IV-Stelle ordnete eine Begutachtung in der Abklärungs- und
Ausbildungsstätte A.________ an, welche vom 10. bis 27. Juni 2003 dauerte.
Gemäss Schlussbericht BEFAS vom 21. August 2003 könne  V.________ zeitlich
uneingeschränkt ganztags bei feinmotorisch nicht anspruchsvollen und die
rechte Hand nur gering belastenden Arbeiten tätig sein. Die rechte Hand sei
als "gute" Zudienhand zu bezeichnen, welche auch als Haltehand eingesetzt
werde. Die verwertbaren Arbeitsleistungen entsprächen ungefähr einer 75%igen
Arbeitsfähigkeit. In der Folge eröffnete die IV-Stelle der Versicherten, bei
einem ermittelten Invaliditätsgrad von 31,83% habe sie keinen Anspruch auf
eine Invalidenrente (Verfügung vom 13. Februar 2004). Im Entscheid vom 1.
Juni 2004 über die dagegen erhobene Einsprache hielt sie daran fest.

B.
Die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau wies die dagegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 4. November 2004 ab.

C.
V.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, in
Aufhebung des kantonalen Entscheides und des Einspracheentscheides sei ihr
eine ganze - allenfalls auch eine Dreiviertels- oder eine halbe, jedenfalls
eine Einviertels- Invalidenrente zuzusprechen.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf Vernehmlassung verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf Invalidenrente. Das kantonale
Gericht hat die rechtlichen Grundlagen zur Bemessung des Invaliditätsgrades
bei erwerbstätigen Versicherten nach der allgemeinen Methode des
Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG; BGE 129 V 222 Erw. 4.4, 126 V 75 Erw.
3b/bb, 110 V 276 Erw. 4b; AHI 1999 S. 237) richtig dargelegt. Hierauf wird
verwiesen.

2.
Die Parteien sind sich einig, dass die Folgen des Handunfalls vom 6. April
2000 die einzigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen darstellen, welche sich
auf die Arbeitfähigkeit auswirken. Unbestritten sind zudem die
diagnostizierte Faustschlussstörung mit Sperrdistanzen von drei bis vier cm
und Kraftlosigkeit bei sehr eingeschränkter Sensibilität (trotz erhaltener
Schutzsensibilität) bei funktionell vollständig erhaltenem Daumen der
dominanten rechten Hand. Strittig und zu prüfen bleibt hingegen die darauf
basierende Einschränkung in der Arbeitsfähigkeit und deren wirtschaftliche
Verwertbarkeit.

2.1 Die Vorinstanz stützte sich bei der Beurteilung der verbleibenden
Arbeitsfähigkeit in medizinischer Hinsicht auf den Bericht über eine
kreisärztliche Untersuchung vom 4. Januar 2001, auf den Austrittsbericht der
Rehaklinik B.________ vom 28. Februar 2001, die ärztliche
Abschlussuntersuchung des SUVA-Kreisarztes vom 3. Juli 2001 und den Bericht
der Frau Dr. med. N.________ vom 28. September 2001. Zusammenfassend kamen
die Ärzte zum Schluss, die Beschwerdeführerin sei in der Lage bei ganztägiger
Präsenz leichte, für die rechte Hand wenig anspruchsvolle Tätigkeiten ohne
feinmotorische Ansprüche auszuführen, wobei die verletzte Hand zumindest als
Zudienhand eingesetzt werden könne. Weiter stellt die kantonale
Rekurskommission auf die bei der BEFAS-Abklärung vom 10. bis 27. Juni 2003
gemachten Feststellungen ab. Demnach bestätigte die praktische Prüfung die
durch SUVA-Kreisarzt Dr. K.________ im Bericht vom 3. Juli 2001 dargelegten
Fähigkeiten. Die rechte Hand sei bei feinmotorisch nicht anspruchsvollen, nur
gering belastenden Tätigkeiten als "gute" Zudienhand und Haltehand eingesetzt
worden. Die verwertbaren Arbeitsleistungen hätten ca. 75% einer vollen
Leistung entsprochen.

2.2 Die Beschwerdeführerin bezweifelt die Beweiskraft des BEFAS-Gutachtens
und beruft sich dabei insbesondere auf den Abklärungsbericht des
Berufsberaters der IV-Stelle vom 22. März 2002. Dieser hatte ausgeführt, es
sei ihm auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine Hilfstätigkeit bekannt, welche
die von den Ärzten umschriebenen Bedingungen erfülle. Solche Arbeiten würden
nur in geschützten Werkstätten bei einem theoretisch möglicher Lohn von ca.
Fr. 500.- x 13 verrichtet. Auch aus invaliditätsfremden Gründen sei die
Beschwerdeführerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt realistischerweise nicht
mehr vermittelbar.

2.3 Auf dem für die Invaliditätsbemessung massgebenden hypothetischen
ausgeglichenen Arbeitsmarkt (Art. 16 ATSG), bei welchem unterstellt wird,
dass die verfügbaren Arbeitsplätze dem Angebot an Arbeitskräften entsprechen
(zum Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes: BGE 110 V 276 Erw. 4b; AHI
1998 S. 291 Erw. 3b mit Hinweisen), stehen der Beschwerdeführerin genügend
leichte Hilfs-, Kontroll- und Überwachungstätigkeiten offen, die trotz der
ausgewiesenen gesundheitlichen Beeinträchtigung ausgeübt werden könnten,
sodass nicht von realitätsfremden und in diesem Sinne unmöglichen oder
unzumutbaren Einsatzmöglichkeiten ausgegangen wird. Denn eine zumutbare
Tätigkeit ist der Beschwerdeführerin nicht nur in so eingeschränkter Form
möglich, dass sie der allgemeine Arbeitsmarkt praktisch nicht kennt oder nur
unter nicht realistischem Entgegenkommen eines durchschnittlichen
Arbeitgebers ausgeübt werden kann (ZAK 1989 S. 322 Erw. 4a). So geht es beim
als ausgeglichen unterstellten Arbeitsmarkt nicht um reale, geschweige denn
offene Stellen, sondern um (gesundheitlich zumutbare)
Beschäftigungsmöglichkeiten, welche der Arbeitsmarkt von seiner Struktur her,
jedoch abstrahiert von den konjunkturellen Verhältnissen, umfasst (Urteil C.
vom 16. Juli 2003, I 758/02). Die Experten der BEFAS haben verschiedene
Beispiele angeführt, bei denen Fähigkeiten gefragt sind, die denjenigen der
Beschwerdeführerin entsprechen. Auch ausserhalb eines geschützten Rahmens
gibt es Arbeitsplätze, welche die  Beschwerdeführerin besetzen könnte.
Entgegen den Ausführungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist auch nicht
anzunehmen, die dabei geforderten intellektuellen Voraussetzungen
(Grundschule und Anlehre) würden diejenigen der Beschwerdeführerin
übersteigen, zumal sie in der Anmeldung zum Leistungsbezug angibt, die
Grundschule in Spanien absolviert zu haben und sich offenbar auch hinreichend
in der Arbeitswelt verständigen kann. Mit der Vorinstanz ist daher gestützt
auf das überzeugende Berufsabklärungs-Gutachten vom 21. August 2003 davon
auszugehen, dass die Beschwerdeführerin in einer den Beeinträchtigungen
optimal angepassten Tätigkeit während des ganzen Tages bei verminderter
Leistungsfähigkeit arbeiten kann und daher eine zumutbare wirtschaftliche
Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit im Umfange von 75 % besteht. Dem
Abklärungsbericht vom 21. August 2003 ist im Weiteren zu entnehmen, dass sie
die zweiwöchige Berufserprobung ohne Medikamente hatte absolvieren können,
sodass auch diesbezüglich keine Einschränkung der Zumutbarkeit vorliegt.

Der Bericht des IV-Berufsberaters vom 22. März 2002 ist durch die
BEFAS-Erprobung widerlegt. Insbesondere besteht keine Veranlassung, weitere
Abklärungen hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit zu tätigen. Entgegen der in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde geäusserten Ansicht muss die Verwaltung auch
nicht mindestens fünf Arbeitsplätze im Sinne der Rechtsprechung (BGE 129 V
472) dokumentieren, wenn sie der Invaliditätsbemessung Angaben gemäss den vom
Bundesamt für Statistik regelmässig herausgegebenen Lohnstrukturerhebungen
(LSE) zugrunde legt.

3.
Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat in der nicht veröffentlichten
Erwägung 2.1.2 von BGE 131 V 120 den Grundsatz bestätigt, dass die
Invalidenversicherung eine für den Unfallversicherungsbereich abgeschlossene
Invaliditätsbemessung nicht unbeachtet lassen darf. Diese ist als Indiz für
eine zuverlässige Beurteilung in ihre Ermittlung des Invaliditätsgrades mit
einzubeziehen; ein allfälliges Abweichen muss sich auf triftige Gründe
stützen und sachlich begründet sein (vgl. BGE 126 V 293f. Erw. 2d).

3.1 Da die Unfallverletzungen die einzigen gesundheitlichen
Beeinträchtigungen darstellen (vgl. Erw. 2) und die SUVA-Rentenverfügung
unangefochten blieb, besteht letztlich im Lichte dieser Rechtsprechung kein
hinreichender Anlass, von dem durch die SUVA ihrer Rentenverfügung zu Grunde
gelegten Invaliditätsgrad seitens der Invalidenversicherung wesentlich
abzuweichen. Vielmehr haben die Schlussfolgerungen aus dem Aufenthalt in der
Abklärungs- und Ausbildungsstätte A.________ die Stellungnahmen des
SUVA-Kreisarztes in seiner Abschlussuntersuchung vom 3. Juli 2001 und der
Rehaklinik B.________ (Austrittsbericht vom 28. Februar 2001) bestätigt. Es
ist daher ohne Belang, dass die Vorinstanz in ihrem ersten Entscheid vom 11.
Februar 2003 die Invaliditätsbemessung der SUVA als mit erheblichen Mängeln
belastet betrachtet hatte. Da sich die Verhältnisse seit April 2001 weder in
gesundheitlicher noch in erwerblicher Hinsicht verändert haben, hat es mit
der Feststellung sein Bewenden, dass die Beschwerdeführerin nicht zumindest
zu 40 % invalid ist (Art. 28 Abs. 1 IVG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Ostschweizerischen AHV-Ausgleichskasse
für Handel und Industrie, St. Gallen, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons
Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 16. Januar 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: