Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 78/2004
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I 78/04

Urteil vom 11. August 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiberin Hofer

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

E.________, 1988, Beschwerdegegner, handelnd durch seine Mutter M.________,
und diese vertreten durch Rechtsanwalt Markus Leimbacher, Hauptstrasse 51,
5330 Zurzach,

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 20. Januar 2004)

Sachverhalt:

A.
Am 30. April 1996 meldete R.________ seinen 1988 geborenen Sohn E.________
unter Hinweis auf Konzentrationsstörungen, Legasthenie, Bewegungsunruhe und
Lernschwäche bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Im von der
IV-Stelle des Kantons Aargau eingeholten Bericht vom 3. September 1996
diagnostizierte der Allgemeinpraktiker Dr. med. W.________ eine minimal brain
dysfunction mit Legasthenie und Verhaltensauffälligkeiten. Es liege ein
Geburtsgebrechen im Sinne von Ziff. 404 GgV vor. Die Verwaltung veranlasste
daraufhin eine Abklärung im Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst (KJPD)
des Kantons X.________. Die Fachärzte schlossen im Bericht vom 22. Januar
1997 auf eine Sprachentwicklungsstörung (Dyslalie und Legasthenie) und eine
zentrale ataktische Zerebralparese mit sekundären emotionalen- und
Verhaltensstörungen im Sinne des Geburtsgebrechens Ziff. 390 GgV. Die
IV-Stelle sprach dem Versicherten medizinische Massnahmen zur Behandlung
dieses Geburtsgebrechens zu. Nach vorübergehender Besserung musste das Leiden
erneut therapeutisch angegangen werden. Dr. med. H.________ ersuchte daher am
17. Juni 2002 um Kostengutsprache einer Medikation mit Ritalin unter
begleitender Psychotherapie. Die Verwaltung zog den Bericht des Hausarztes
vom 5. August 2002 bei und holte eine Stellungnahme des internen ärztlichen
Dienstes ein. Mit Verfügung vom 6. September 2002 wies sie das
Leistungsbegehren ab, da die psychotherapeutische Behandlung noch kein Jahr
angedauert habe und zudem auch nicht im Zusammenhang mit einem
Geburtsgebrechen stehe.

B.
Beschwerdeweise liess die Mutter von E.________ beantragen, es sei die
IV-Stelle zu verpflichten, die Kosten für die Ritalinabgabe und die
Psychotherapie zu übernehmen. Mit Entscheid vom 20. Januar 2004 hob das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Verfügung vom 6. September 2002
in teilweiser Gutheissung der Beschwerde insoweit auf, als damit medizinische
Massnahmen in Form einer psychotherapeutischen Behandlung abgelehnt wurden.
Im Übrigen wies es die Beschwerde ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV), es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben,
soweit damit der Anspruch auf psychotherapeutische Behandlung bejaht wurde,
und es sei die Verwaltungsverfügung vom 6. September 2002 wieder
herzustellen.
Die IV-Stelle und E.________ verzichten unter Hinweis auf den
vorinstanzlichen Entscheid auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen zum Anspruch auf
medizinische Massnahmen im Allgemeinen (Art. 12 Abs. 1 IVG), bei nicht
erwerbstätigen Personen vor dem vollendeten 20. Altersjahr (Art. 12 in
Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 IVG), bei Geburtsgebrechen (Art. 13 Abs. 1 und 2
IVG; Art. 1 Abs. 1 und 2 GgV) sowie bei angeborenem POS (Ziff. 404
GgV-Anhang) und die dazu ergangene Rechtsprechung (BGE 122 V 113; AHI 2002 S.
61 Erw. 1b, 2000 S. 64 Erw. 1; vgl. auch AHI 2003 S. 104 Erw. 2) zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen. Richtig ist auch, dass das am 1. Januar
2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall
nicht anwendbar ist.

2.
2.1 Im letztinstanzlichen Verfahren nicht mehr streitig ist, dass die
Störung,
an welcher der Versicherte leidet, die für die Anerkennung als
Geburtsgebrechen gemäss Ziff. 390 oder Ziff. 404 GgV-Anhang geltenden
Voraussetzungen nicht erfüllt, weshalb medizinische Massnahmen gestützt auf
Art. 13 IVG entfallen. Zu prüfen ist, ob eine Leistungspflicht der
Invalidenversicherung für die ab Sommer 2002 wieder notwendig gewordene
Psychotherapie gemäss Art. 12 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 IVG in Betracht
fällt.

2.2  In AHI 2003 S. 105 Erw. 4a hat das Eidgenössische Versicherungsgericht
unter Hinweis auf die medizinische Literatur erwogen, die
pharmakotherapeutische Behandlung spiele bei hyperkinetischen Störungen eine
herausragende Rolle. Als Massnahme erster Wahl gelte dabei die Behandlung mit
Stimulanzien, zu welchen auch Ritalin zu zählen sei. Nach wissenschaftlichen
Erkenntnissen bestehe die Wirkung der Stimulanzien kurzfristig in einer
Besserung der Aufmerksamkeitsleistungen und einer Abnahme der Hyperaktivität
und des störenden Verhaltens gemäss Eltern- und Lehrerurteil. Langfristig
seien Stimulanzien ohne Gewöhnung und Abhängigkeit weiterhin wirksam, wobei
allerdings die Wirkung rein symptomatisch bleibe, so dass eine anhaltende
Besserung nach Absetzen der Medikation auf Nachreifungsprozesse zurückgeführt
werden müsse. Mit Bezug auf den Beschwerdegegner hat das kantonale Gericht
entschieden, die medikamentöse Behandlung mit Ritalin müsse nicht von der
Invalidenversicherung als medizinische Massnahme übernommen werden. Dies ist
im vorliegenden Verfahren unbestritten geblieben. Fraglich ist, wie es sich
mit der begleitenden psychotherapeutischen Behandlung verhält. Gemäss
Hans-Christoph Steinhausen (Psychische Störungen bei Kindern und
Jugendlichen, Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie, 5. Aufl., München
2002, S. 97 f.) stellt diese einen weiteren wichtigen Baustein im Rahmen der
Behandlung von hyperkinetischen Störungen dar. Bezüglich der Prognose führt
er aus, unter den Kernsymptomen zeige die motorische Unruhe am ehesten eine
Besserungstendenz, während das Aufmerksamkeitsdefizit und die Impulsivität
eher persistierten. Entsprechend würden die Schulleistungen und -verläufe und
die Möglichkeiten einer störungsfreien sozialen Integration und
psychosozialen Adaptation in Schule und Beruf leiden. Im Urteil F. vom 14.
Oktober 2003 (I 298/03) hat das Eidgenössische Versicherungsgericht
begleitende psychotherapeutische Massnahmen zu Lasten der
Invalidenversicherung verneint, weil im konkreten Fall eine Therapie von
unbeschränkter Dauer oder zumindest über eine längere Zeit hinweg in Frage
stand, und sich über den damit erreichbaren Erfolg keine zuverlässige
Prognose stellen liess. Aus denselben Gründen verneinte das Gericht im Urteil
B. vom 27. Oktober 2003 (I 484/02) einen Anspruch auf Psychomotorik- oder
Ergotherapie.

2.3  Das kantonale Gericht hat erwogen, es liege ein schweres erworbenes
psychisches Leiden vor, indem die in früheren ärztlichen Stellungnahmen noch
als sekundär bezeichneten emotionalen und Verhaltensstörungen nach der
Behandlungsaussetzung im Sommer 2000 spätestens im Sommer 2002 mindestens im
früheren Umfang wieder zu Tage getreten seien und sich negativ auf die
Schulleistungen ausgewirkt hätten. Von einer weiteren Behandlung könne gemäss
den ärztlichen Feststellungen erwartet werden, dass der drohende Defekt mit
seinen negativen Wirkungen auf die Berufsausbildung und Erwerbsfähigkeit ganz
oder in wesentlichem Ausmass verhindert werden könne, zumal der Versicherte
bereits früher positiv auf die psychotherapeutische Behandlung angesprochen
habe.

3.
3.1 Gemäss Schreiben des Vereins für Erziehungsberatung in der Region
Y.________ vom 18. April 1996 erhielt der Versicherte seit September 1995
psychotherapeutische Unterstützung. Dr. med. H.________ diagnostizierte im
Bericht vom 5. August 2002 eine zentrale Zerebralparese mit sekundären
emotionalen- und Verhaltensstörungen und ein frühkindliches POS
(Aufmerksamkeits-Defizitstörung und Hyperaktivität). Hinzu kam eine
Sprachentwicklungsverzögerung und Legasthenie. Mit Ritalin sowie
gleichzeitiger Psychotherapie und Erziehungsberatung konnten die Beschwerden
deutlich reduziert werden. Im Sommer 2000 wurden daher das Ritalin und ein
Jahr später die psychologische Beratung abgebrochen. Nachdem sich die
Probleme im Verlauf des Jahres 2002 indessen erneut massiv verstärkt hatten,
musste die Behandlung wieder aufgenommen werden. Nach Auffassung von Dr. med.

H. ________ kann mit Hilfe der medikamentösen Therapie und der begleitenden
Psychotherapie im Sinne einer beratenden Familientherapie wahrscheinlich ein
erfolgreicher Schulabschluss und später eine berufliche Ausbildung erreicht
werden. Im Schreiben vom 19. September 2002 führt derselbe Arzt aus, nachdem
zunächst auch motorische Störungen mit einer psychomotorischen Therapie
hätten angegangen werden müssen, seien im Laufe der Jahre immer mehr die
psychischen und kognitiven Symptome in den Vordergrund getreten. Der
Therapieunterbruch von 2000 bis 2002 sei insofern sinnvoll gewesen, als er
erlaubt habe, die weitere spontane Entwicklung der Krankheit abzuschätzen und
von nicht mehr benötigten Vorkehren Abstand zu nehmen.

3.2  Auch länger andauernde begleitende psychotherapeutische Behandlungen
können grundsätzlich von der Invalidenversicherung als medizinische Massnahme
übernommen werden. Von der Invalidenversicherung nicht getragen wird eine
Vorkehr jedoch dann, wenn sie sich gegen eine psychische Krankheit richtet,
welche ohne kontinuierliche Behandlung nicht dauerhaft gebessert werden kann
(Urteil M. vom 6. Mai 2003, I 16/03). Aufgrund der medizinischen Aktenlage
ist zu schliessen, dass es mit den bisherigen Massnahmen nicht gelungen ist,
eine stabile Defektentwicklung zu verhindern. Der Rückfall nach Absetzen der
Therapie weist vielmehr auf einen nur stationär zu haltenden Verlauf und
damit auf ein auch auf längere Sicht labiles pathologisches Geschehen hin.
Eine positive Prognose über den Erfolg der zur Diskussion stehenden Vorkehr
lässt sich unter den gegebenen Umständen nicht mit der erforderlichen
Zuverlässigkeit stellen. Fehlt es somit am von Art. 12 Abs. 1 IVG geforderten
überwiegenden Eingliederungscharakter, hat das vorinstanzliche Gericht die
Kosten der psychotherapeutischen Massnahmen zu Unrecht der
Invalidenversicherung überbunden.

Daran vermag der vom Rechtsvertreter des Versicherten geltend gemachte
Hinweis nichts zu ändern, dass die Behandlung nicht mehr vom
schulpsychologischen Dienst, sondern von einem Psychiater durchgeführt werde.
Auch kann von der Einholung eines Gutachtens des behandelnden Arztes
abgesehen werden, da nach ständiger Rechtsprechung das
Sozialversicherungsgericht die Gesetzmässigkeit der angefochtenen Verfügung
in der Regel nach dem Sachverhalt beurteilt, der zur Zeit des
Verfügungserlasses gegeben war (BGE 121 V 366 Erw. 1b mit Hinweisen).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 20. Januar 2004 aufgehoben,
soweit damit die IV-Stelle verpflichtet wurde, die seit Sommer 2002
durchgeführte psychotherapeutische Behandlung zu übernehmen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und der IV-Stelle des Kantons Aargau zugestellt.

Luzern, 11. August 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: