Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 777/2004
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I 777/04

Urteil vom 22. März 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiberin Durizzo

P.________, 1946, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Thomas
Baumeler, Vorstadt 19, 6130 Willisau,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern

(Entscheid vom 25. Oktober 2004)

Sachverhalt:

A.
P. ________, geboren 1946, meldete sich am 16. November 1999 unter Hinweis
auf Kopfweh und Schwindel bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug
an, nachdem er zuletzt von Mai 1998 bis April 1999 im Rahmen eines
Beschäftigungsprogramms der Arbeitslosenversicherung bei der C.________ als
Schlosser tätig gewesen war. Nach Einholung von Stellungnahmen des Hausarztes
Dr. med. K.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 24. Mai 2000 und vom 5. Mai
2003, eines Gutachtens des Klinik L.________ vom 9. April 2001 sowie eines
Berichtes der Beruflichen Abklärungsstelle (BEFAS) Stiftung B.________, vom
5. Juni 2002 lehnte die IV-Stelle Luzern einen Rentenanspruch am 10. Juni
2003 ab. Zur Begründung führte sie an, dass der Versicherte in einer
leidensangepassten Tätigkeit zu 100 % arbeitsfähig sei, und bestätigte ihre
Auffassung mit Einspracheentscheid vom 8. Januar 2004.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern mit Entscheid vom 25. Oktober 2004 ab.

C.
P.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und die Aufhebung des
angefochtenen Urteils beantragen. Des Weiteren ersucht er um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege.

Während die IV-Stelle Luzern auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine
Vernehmlassung.

Mit Eingabe vom 13. Januar 2005 reicht die behandelnde Psychiaterin Frau Dr.
med. F.________ von der Klinik L._______ einen weiteren Bericht ein, wonach
der Beschwerdeführer zufolge seiner Depression zu mindestens 50 %
arbeitsunfähig sei. Sie empfiehlt eine psychiatrische Begutachtung durch eine
neutrale Stelle.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die
Anwendbarkeit des am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Bundesgesetzes über
den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober
2000, die Begriffe der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) und der Invalidität
(Art. 8 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG), den Anspruch auf eine
Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1 IVG in der bis Ende 2003 gültig gewesenen
Fassung) und die Ermittlung des Invaliditätsgrades (Art. 16 ATSG) zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass für die Beurteilung
der Anspruchsberechtigung ab dem 1. Januar 2004 die Bestimmungen der (auf den
1. Januar 2004 in Kraft getretenen) 4. IV-Revision zu beachten sind.

2.
2.1 Verwaltung und Vorinstanz haben bezüglich der Arbeitsfähigkeit auf die
Einschätzung der Gutachter der BEFAS abgestellt, welche in ihrem
Abklärungsbericht vom 5. Juni 2002 mit ergänzender Präzisierung vom 19. Mai
2003 ein volles Arbeitspensum in einer leichten, wechselbelastenden Tätigkeit
nach einem anfänglich reduzierten halbtägigen Arbeitseinsatz als zumutbar
erachteten. Demgegenüber macht der Beschwerdeführer geltend, es sei eine
Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes eingetreten. Zu Unrecht
sei das Zeugnis der behandelnden Ärztin Frau Dr. med. F.________ von der
Klinik L.________ vom 29. Januar 2004 nicht berücksichtigt worden, weshalb
die Angelegenheit zu ergänzenden psychiatrischen Abklärungen an die
Invalidenversicherung zurückzuweisen sei.

2.2 Zunächst trifft es zu, dass rechtsprechungsgemäss bei der rückwirkenden
Rentenzusprechung rentenwirksame Änderungen bis zum Zeitpunkt des
Einspracheentscheides zu berücksichtigen sind (BGE 129 V 222, 128 V 174). Da
dieser Zeitpunkt auch für die richterliche Überprüfung massgebend ist (BGE
129 V 4 Erw. 1.2, 121 V 366 Erw. 1b), sind später ergangene medizinische
Berichte nur dann beachtlich, wenn sie sich über den damaligen
Gesundheitszustand äussern (BGE 99 V 102 mit Hinweisen).

2.3 In ihrem Gutachten vom 9. April 2001 diagnostizierte Frau Dr. med.
F.________ eine mittelgradige depressive Episode sowie eine somatoforme
Schmerzstörung. Bezüglich der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit empfahl sie
eine Abklärung an einem geschützten Arbeitsplatz. Diese wurde in der BEFAS
durchgeführt und sollte vier Wochen dauern, wurde jedoch vorzeitig am 17.
April 2002 abgebrochen. Die Gutachter gelangten zum Schluss, dass dem
Versicherten aus medizinischer Sicht eine leichte, wechselbelastende
Tätigkeit vorerst während eines halben Tages zumutbar sei. Am 19. Mai 2003
ergänzten sie, dass nach einer Steigerung innerhalb von drei Monaten aus
psychologischen Gründen - weil der Versicherte praktisch seit acht Jahren
keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgegangen war - ein volles Arbeitspensum
möglich sei. Gemäss Stellungnahme des Hausarztes Dr. med. K.________ vom 5.
Mai 2003 war der Gesundheitszustand stationär und die Diagnosen hatten sich
nicht geändert. Frau Dr. med. F.________ berichtete am 29. Januar 2004, dass
eine Verschlimmerung eingetreten sei und der Beschwerdeführer "auch für eine
leichte Tätigkeit zu mindestens 50 % arbeitsunfähig" sei. Sie stellte nunmehr
die Diagnosen einer mittelgradig depressiven Störung, wobei der depressive
Zustand chronifiziert sei und sich kaum verbessern dürfte, sowie einer
somatoformen Schmerzstörung. In ihrer Eingabe vom 13. Januar 2005 hält sie an
diesen Diagnosen fest. Die Krankheit habe sich seit 2001 verschlimmert und
chronifiziert. Die Symptome einer anhaltenden Müdigkeit mit Antriebslosigkeit
und depressiver Verstimmung seien anhaltend vorhanden. Diese drei
Kardinalsymptome der Depression würden eine Arbeitsunfähigkeit von mindestens
50 % bewirken.

2.4 Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit können in gleicher Weise
wie körperliche Gesundheitsschäden eine Invalidität im Sinne von Art. 4 Abs.
1 IVG in Verbindung mit Art. 8 ATSG bewirken. Nicht als Folgen eines
psychischen Gesundheitsschadens und damit invalidenversicherungsrechtlich
nicht als relevant gelten Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit, welche die
versicherte Person bei Aufbietung allen guten Willens, die verbleibende
Leistungsfähigkeit zu verwerten, abwenden könnte; das Mass des Forderbaren
wird dabei weitgehend objektiv bestimmt (BGE 102 V 165; AHI 2001 S. 228 Erw.
2b mit Hinweisen; vgl. auch BGE 127 V 298 Erw. 4c in fine).

Die Annahme eines psychischen Gesundheitsschadens, so auch einer anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung, setzt zunächst eine fachärztlich (psychiatrisch)
gestellte Diagnose nach einem wissenschaftlich anerkannten
Klassifikationssystem voraus (BGE 130 V 398 ff. Erw. 5.3 und Erw. 6). Wie
jede andere psychische Beeinträchtigung begründet indes auch eine
diagnostizierte anhaltende somatoforme Schmerzstörung als solche noch keine
Invalidität. Vielmehr besteht eine Vermutung, dass die somatoforme
Schmerzstörung oder ihre Folgen mit einer zumutbaren Willensanstrengung
überwindbar sind. Bestimmte Umstände, welche die Schmerzbewältigung intensiv
und konstant behindern, können den Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess
unzumutbar machen, weil die versicherte Person alsdann nicht über die für den
Umgang mit den Schmerzen notwendigen Ressourcen verfügt. Ob ein solcher
Ausnahmefall vorliegt, entscheidet sich im Einzelfall anhand verschiedener
Kriterien. Im Vordergrund steht die Feststellung einer psychischen
Komorbidität von erheblicher Schwere, Ausprägung und Dauer. Massgebend sein
können auch weitere Faktoren, so: chronische körperliche Begleiterkrankungen;
ein mehrjähriger, chronifizierter Krankheitsverlauf mit unveränderter oder
progredienter Symptomatik ohne längerdauernde Rückbildung; ein sozialer
Rückzug in allen Belangen des Lebens; ein verfestigter, therapeutisch nicht
mehr beeinflussbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten,
psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer Krankheitsgewinn;
"Flucht in die Krankheit"); das Scheitern einer konsequent durchgeführten
ambulanten oder stationären Behandlung (auch mit unterschiedlichem
therapeutischem Ansatz) trotz kooperativer Haltung der versicherten Person
(BGE 130 V 352). Je mehr dieser Kriterien zutreffen und je ausgeprägter sich
die entsprechenden Befunde darstellen, desto eher sind - ausnahmsweise - die
Voraussetzungen für eine zumutbare Willensanstrengung zu verneinen
(Meyer-Blaser, Der Rechtsbegriff der Arbeitsunfähigkeit und seine Bedeutung
in der Sozialversicherung, in: Schmerz und Arbeitsunfähigkeit, St. Gallen
2003, S. 77).

Beruht die Leistungseinschränkung auf Aggravation oder einer ähnlichen
Konstellation, liegt regelmässig keine versicherte Gesundheitsschädigung vor
(siehe Meyer-Blaser, a.a.O., S. 92 f.). Eine solche Ausgangslage ist etwa
gegeben, wenn: eine erhebliche Diskrepanz zwischen den geschilderten
Schmerzen und dem gezeigten Verhalten oder der Anamnese besteht; intensive
Schmerzen angegeben werden, deren Charakterisierung jedoch vage bleibt; keine
medizinische Behandlung und Therapie in Anspruch genommen wird; demonstrativ
vorgetragene Klagen auf den Sachverständigen unglaubwürdig wirken; schwere
Einschränkungen im Alltag behauptet werden, das psychosoziale Umfeld jedoch
weitgehend intakt ist (siehe Kopp/Willi/Klipstein, Im Graubereich zwischen
Körper, Psyche und sozialen Schwierigkeiten, in: Schweizerische Medizinische
Wochenschrift 1997 S. 1434, mit Hinweis auf eine grundlegende Untersuchung
von Winckler und Foerster; zum Ganzen: zur Publikation in der Amtlichen
Sammlung vorgesehene Erw. 1.2 des Urteils J. vom 16. Dezember 2004, I
770/03).

2.5 Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist der Bericht der Frau Dr. med.
F.________ vom 29. Januar 2004 (nicht 29. Juni 2004) hier zu berücksichtigen,
da nach der in Erwägung 2.2 ausgeführten Rechtsprechung nicht der Zeitpunkt
des Rentenbeginns für die Beurteilung des Gesundheitszustandes massgebend
ist, sondern die Entwicklung bis zum Einspracheentscheid. Das betreffende
Schreiben wurde zwar erst nach dessen Erlass am 8. Januar 2004 verfasst,
jedoch wird eine Verschlimmerung seit 2001 attestiert.

2.6 Gestützt darauf muss davon ausgegangen werden, dass der Versicherte seit
Jahren an einer therapieresistenten Depressivität leidet und damit
möglicherweise nicht über die für den Umgang mit den Schmerzen notwendigen
Ressourcen verfügt. Mit Blick auf die neuste Rechtsprechung zu den
somatoformen Schmerzstörungen (Erw. 2.4) ist der Sachverhalt diesbezüglich
nur ungenügend abgeklärt. So lassen die Berichte der behandelnden
Psychiaterin Frau Dr. med. F.________ keine schlüssige Beurteilung zu, ob es
um eine anhaltende Depression oder depressive Episoden geht und - was
allenfalls auch davon abhängen könnte - ob es sich bei der diagnostizierten
somatoformen Schmerzstörung um ein invalidisierendes Leiden handelt. Eine
psychiatrische Expertise, die sich zu den unter Erwägung 2.4 genannten
Kriterien, aber auch dazu äussert, wann die Arbeitsunfähigkeit eingesetzt
hat, ist daher unerlässlich.

3.
Gemäss Art. 134 OG ist von der Auferlegung von Gerichtskosten abzusehen. Dem
Prozessausgang entsprechend hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine
Parteientschädigung (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 OG). Das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege, einschliesslich der unentgeltlichen
Verbeiständung, ist damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 25. Oktober 2004 und der
Einspracheentscheid der IV-Stelle Luzern vom 8. Januar 2004 aufgehoben und es
wird die Sache an die IV-Stelle zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter
Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf eine Invalidenrente
neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle Luzern hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern wird über eine Neuverlegung der
Parteikosten für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse Luzern und dem
Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 22. März 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: