Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 771/2004
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I 771/04

Urteil vom 19. April 2005
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Kernen; Gerichtsschreiber
Flückiger

A.________, 1959, Beschwerdeführerin, vertreten durch Herrn lic. iur. Max S.
Merkli, Praxis für Sozialversicherungsrecht, Schaffhauserstrasse 345, 8050
Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 18. Oktober 2004)

Sachverhalt:

A.
Die 1959 geborene A.________ war von 1980 bis Ende Oktober 2000 als
Hilfsarbeiterin/Packerin bei der Firma R.________ angestellt. Anschliessend
arbeitete sie im Rahmen eines Beschäftigungsprogramms der
Arbeitslosenversicherung beim der Institution L.________. Am 22. Februar 2002
meldete sie sich unter Hinweis auf Gelenk-, Schulter- und Rückenschmerzen,
welche seit 1995 bestünden, etwa seit 1999 immer wieder zu längeren
Arbeitsunterbrüchen geführt hätten und nunmehr auch die psychische und
nervliche Verfassung beeinträchtigten, bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich zog Arbeitgeberberichte
bei. Zudem holte sie Stellungnahmen und Gutachten des Dr. med. M.________,
Physikalische Medizin und Rehabilitation FMH, vom 12. November 2002, des Dr.
med. I.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 31. Dezember 2002 (mit
beigelegten Berichten der Klinik B.________ vom 26. November 1999, 14. und
17. Januar 2000, des Spitals T.________ vom 15. März und 12. April 2000 sowie
des Instituts E.________ vom 17. September 2000) sowie von Frau Dr. med.
W.________, Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 30. April
2003 ein. Anschliessend lehnte sie es mit Verfügung vom 8. Juli 2003 ab, der
Versicherten eine Invalidenrente auszurichten. Daran hielt die Verwaltung auf
Einsprache hin - nach Einholung einer Stellungnahme des IV-internen
medizinischen Dienstes vom 20. Oktober 2003 - mit Entscheid vom 31. Oktober
2003 fest.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich ab (Entscheid vom 18. Oktober 2004). Im Verlauf des
Rechtsmittelverfahrens hatte die Versicherte eine Stellungnahme von Frau Dr.
med. F.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 21. November 2003
auflegen lassen.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt A.________ das Rechtsbegehren
stellen, es sei ihr ab Februar 2002 eine halbe und ab Mai 2002 eine ganze
Rente zuzusprechen; eventuell sei die Sache zu einer nochmaligen
psychiatrischen Begutachtung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. Mit
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wurde eine zusätzliche Stellungnahme von
Frau Dr. med. F.________ von November 2004 eingereicht.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG) in Kraft getreten, mit
dem verschiedene materiellrechtliche Bestimmungen im Bereich der
Invalidenversicherung geändert wurden. Vorliegend steht ein - gegebenenfalls
- bereits vor dem 1. Januar 2003 entstandener Anspruch im Streit, während der
Einspracheentscheid, welcher grundsätzlich die zeitliche Grenze der
gerichtlichen Prüfung festlegt (BGE 121 V 366 Erw. 1b, BGE 116 V 248 Erw.
1a), nach diesem Datum erging. In dieser Konstellation ist der
Leistungsanspruch für die Zeit bis 31. Dezember 2002 auf Grund der bisherigen
und ab diesem Zeitpunkt nach den neuen Normen zu beurteilen (BGE 130 V 446
Erw. 1 mit Hinweisen). Nicht anwendbar sind demgegenüber die am 1. Januar
2004 und damit nach dem Erlass des Einspracheentscheids vom 31. Oktober 2003
in Kraft getretenen Änderungen des Bundesgesetzes über die
Invalidenversicherung vom  21. März 2003  (4. IVG-Revision) und der
Verordnung über die Invalidenversicherung vom 21. Mai 2003 (vgl. BGE 130 V
445 ff. Erw. 1).

2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die
Voraussetzungen und den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis
IVG), die Ermittlung des Invaliditätsgrads erwerbstätiger Versicherter nach
der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG; Art. 28 Abs. 2 IVG in der bis
31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung und dazu ergangene, weiterhin
massgebende [BGE 130 V 348 f. Erw. 3.4] Rechtsprechung: BGE 128 V 30 Erw. 1,
104 V 136 Erw. 2a und b), die Aufgabe des Arztes oder der Ärztin im Rahmen
der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 Erw. 4; AHI 2002 S. 70 Erw. 4b/cc)
sowie den Beweiswert und die Würdigung medizinischer Berichte und Gutachten
(BGE 125 V 352 ff. Erw. 3) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
3.1 In medizinischer Hinsicht gelangten Verwaltung und Vorinstanz zum
Ergebnis, in einer geeigneten Erwerbstätigkeit sei die Versicherte zu 70%
arbeitsfähig. Die gesundheitsbedingte Einschränkung resultiere aus einer
krankheitswertigen psychischen Störung. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
wird eingeräumt, dass die Arbeitsfähigkeit aus rein somatischer Sicht nur
minim reduziert sei. Dieser Beurteilung kann zugestimmt werden. Denn das
Gutachten des Dr. med. M.________ vom 12. November 2002 wurde durch die
Vorinstanz - auch unter Berücksichtigung der durch die Beschwerdeführerin
beanstandeten Textstellen - zu Recht als beweiskräftig erachtet. Zudem stimmt
es in seinen Aussagen mit den früheren Stellungnahmen des Spitals T.________
und der Klinik B.________ überein, welche ebenfalls zum Ergebnis gelangt
waren, die Versicherte sei aus rheumatologischer Sicht zu 100% arbeitsfähig.

3.2 Was den psychiatrischen Aspekt anbelangt, bestreitet die
Beschwerdeführerin die Beweiskraft des Gutachtens von Frau Dr. med.
W.________ vom 30. April 2003. Sie macht geltend, die in deutscher Sprache
durchgeführte Exploration habe wegen Verständigungsschwierigkeiten keine
zuverlässige Beurteilung erlaubt.

3.2.1 Nach der Rechtsprechung kommt der bestmöglichen Verständigung zwischen
begutachtender und versicherter Person im Rahmen psychiatrischer Abklärungen
besonderes Gewicht zu. Eine gute Exploration setzt auf beiden Seiten
vertiefte Sprachkenntnisse voraus. Wenn eine zu diesem Zweck ausreichende
Verständigung in einer sowohl dem Gutachter oder der Gutachterin als auch der
versicherten Person geläufigen Sprache nicht möglich ist, erscheint es
medizinisch und sachlich geboten, eine Übersetzungshilfe beizuziehen (Urteil
L. vom 25. Juli 2003, I 642/01, Erw. 3.1). Es ist in erster Linie Sache der
Gutachterin oder des Gutachters, im Rahmen sorgfältiger Auftragserfüllung
darüber zu entscheiden, ob eine medizinische Abklärung in der Muttersprache
des Exploranden oder der Explorandin geboten ist. Dazu gehört auch der
allfällige Beizug einer Dolmetscherin oder eines Dolmetschers. Entscheidend
dafür, ob und in welcher Form dem Gesichtspunkt der sprachlichen
Verständigung Rechnung getragen werden muss, ist letztlich die Bedeutung der
Massnahme im Hinblick auf die in Frage stehende Leistung. Es geht um die
Aussagekraft und damit die beweismässige Verwertbarkeit des Gutachtens als
Entscheidungsgrundlage für die IV-Stelle und gegebenenfalls das
Sozialversicherungsgericht (AHI 2004 S. 147 Erw. 4.2.1). Entscheidend ist, ob
lediglich durch den Beizug einer Dolmetscherin oder eines Dolmetschers
beweisrechtlich verwertbare Aussagen zu gewinnen sind, auf welche bei der
Beurteilung des in Frage stehenden Leistunganspruchs abgestellt werden kann
(AHI 2004 S. 147 Erw. 4.2.2.). Ist der Beizug einer Übersetzungshilfe
notwendig, eignet sich eine nahestehende Drittperson in der Regel nicht für
diese Aufgabe. Denn deren Anwesenheit birgt die Gefahr einer allenfalls
unbewussten Beeinflussung des Verhaltens der Explorandin oder des
Exploranden. Mit Blick darauf, dass in der Regel mehr als bei rein
somatischen Untersuchungen eine Vertrauensgrundlage zwischen begutachtender
und versicherter Person besteht oder entstehen kann, sowie angesichts der
Bedeutung auch der persönlichen Lebensumstände für die psychische Verfassung
einerseits und die Diagnose einer krankheitswertigen psychischen Störung
andererseits hat als Grundsatz die Abklärung ohne Anwesenheit von
nahestehenden Drittpersonen zu gelten (Urteil N. vom 16. Januar 2004, I
664/01, Erw. 6.1.2).
3.2.2 Frau Dr. med. W.________ führt im Gutachten vom 30. April 2003 aus, die
Versicherte habe recht gut Deutsch verstanden und in gebrochenem
Schweizerdeutsch geantwortet, soweit nicht die während des ganzen Gesprächs
anwesende Tochter dies für sie zu übernehmen gesucht oder türkische Antworten
gedolmetscht habe. Einige Male habe die Tochter auch unvermittelt kurze
deutsche Sätze zu ihrer Mutter gesagt - die Sprache scheine also auch im
häuslichen Umgang mit den beiden in der Schweiz aufgewachsenen Töchtern
zumindest eine passive Rolle für die Explorandin zu spielen. Die Angaben zur
Krankheitsgeschichte und die subjektiven Angaben seien spärlich ausgefallen
und teilweise durch die Tochter ergänzt worden. Wiedergegeben werden
Äusserungen, wonach die Versicherte sich "verkrampft, verspannt" fühle, "viel
Schmerz" empfinde und "immer nervös, oft nachts" sei. Den übrigen Akten sind
nur wenige Angaben darüber zu entnehmen, inwieweit die 1959 geborene und seit
1977 in der Schweiz lebende Beschwerdeführerin die deutsche Sprache
beherrscht. Auch anlässlich der Begutachtung durch Dr. med. M.________ vom
12. November 2002 war die älteste Tochter der Versicherten anwesend, welche
gemäss den Feststellungen des Arztes sehr gut deutsch spricht und versteht.

3.2.3 Zusammenfassend ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin die von der
Gutachterin gestellten Fragen nach deren Wahrnehmung jeweils verstand. Die
Antworten erfolgten in gebrochenem Schweizerdeutsch oder auf Türkisch mit
Übersetzung durch die während des gesamten Gesprächs anwesende Tochter,
welche die Angaben der Mutter teilweise ergänzte. Angesichts der Aussage, die
Versicherte habe in gebrochener Sprache geantwortet und der zitierten, im
Gutachten wiedergegebenen Äusserungen erscheint jedoch als zweifelhaft, ob
der für eine zuverlässige psychiatrische Exploration erforderliche Grad an
Verständigung, insbesondere in Bezug auf die subjektiven Angaben, wirklich
erreicht wurde. Zudem war die Anwesenheit der Tochter, welche nicht nur
übersetzte, sondern verschiedentlich in das Gespräch eingriff und an Stelle
der Mutter antwortete, im Lichte der zitierten Rechtsprechung dem Ziel, ein
unverfälschtes Begutachtungsergebnis zu erreichen, nicht förderlich, auch
wenn keine innerfamiliären Konflikte bekannt sind.  Weiter ist zu
berücksichtigen, dass Frau Dr. med. F.________, welche die Muttersprache der
Versicherten beherrscht, im Rahmen der psychotherapeutischen Behandlung zu
anderen Ergebnissen gelangte. Zwar werden die Stellungnahmen dieser Ärztin
den rechtsprechungsgemässen Anforderungen an einen beweiskräftigen
medizinischen Bericht nicht gerecht, und den durch die Vorinstanz geäusserten
Vorbehalten ist weitgehend zuzustimmen. Die Aussagen von Frau Dr. med.
F.________ sind jedoch geeignet, den bereits auf Grund der nicht optimalen
Verständigung und der Rolle der Tochter potenziell geschmälerten Beweiswert
des Gutachtens von Frau Dr. med. W.________ zusätzlich in Frage zu stellen.
Unter diesen Umständen ist das Gutachten nicht geeignet, ausreichenden Beweis
für den medizinischen Sachverhalt in psychiatrischer Hinsicht zu erbringen.
Die Abklärungen bedürfen diesbezüglich der Ergänzung. Die Verwaltung wird
eine erneute psychiatrische Exploration in Auftrag zu geben haben, welche den
genannten Punkten Rechnung trägt.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 18. Oktober
2004 und der Einspracheentscheid vom 31. Oktober 2003 aufgehoben, und es wird
die Sache an die IV-Stelle des Kantons Zürich zurückgewiesen, damit sie, nach
erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, erneut über den Rentenanspruch
befinde.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich hat der Versicherten für das Verfahren vor
dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr.
2000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 19. April 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: