Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 768/2004
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I 768/04

Urteil vom 14. Oktober 2005
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiberin
Berger Götz

IV-Stelle Obwalden, Brünigstrasse 144, 6060 Sarnen, Beschwerdeführerin,

gegen

B.________, 1957, Beschwerdegegner, vertreten durch den Rechtsdienst für
Behinderte, Bürglistrasse 11, 8002 Zürich

Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden, Sarnen

(Entscheid vom 28. Oktober 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1957 geborene B.________ meldete sich am 19. Februar 2002 unter Hinweis
auf eine seit April 2001 bestehende Darminkontinenz bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen in
beruflich-erwerblicher und in medizinischer Hinsicht verneinte die IV-Stelle
Obwalden einen Anspruch auf Invalidenrente und gab zur Begründung an, es
liege keine einjährige Arbeitsunfähigkeit von durchschnittlich mindestens 40
% vor (Verfügung vom 26. März 2003). Die dagegen von B.________ erhobene
Einsprache wies die IV-Stelle mit Entscheid vom 1. Juli 2003 ab
(Dispositiv-Ziffer 1); gleichzeitig forderte sie den Versicherten in
Dispositiv-Ziffer 2 des Entscheides auf, sich bis spätestens am 11. Juli 2003
bei der IV-Berufsberatung zu melden, um eine Umschulung in Angriff zu nehmen.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden hiess die dagegen geführte
Beschwerde in dem Sinne gut, dass es die Sache in Aufhebung des
Einspracheentscheides zur weiteren Abklärung im Sinne der Erwägungen an die
IV-Stelle zurückwies (Entscheid vom 28. Oktober 2004).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die IV-Stelle, der kantonale
Gerichtsentscheid sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass B.________
keinen Anspruch auf berufliche Eingliederungsmassnahmen oder Rentenleistungen
der Invalidenversicherung habe.

Während B.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
lässt, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts stellt der
Rückweisungsentscheid einer kantonalen Rekursinstanz eine im Sinne von Art.
128 in Verbindung mit Art. 97 Abs. 1 OG und Art. 5 VwVG mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Eidgenössische Versicherungsgericht
anfechtbare Endverfügung dar. Anfechtbar ist grundsätzlich nur das
Dispositiv, nicht aber die Begründung eines Entscheides. Verweist indessen
das Dispositiv eines Rückweisungsentscheides ausdrücklich auf die Erwägungen,
werden diese zu seinem Bestandteil und haben, soweit sie zum Streitgegenstand
gehören, an der formellen Rechtskraft teil. Dementsprechend sind die Motive,
auf die das Dispositiv verweist, für die Behörde, an welche die Sache
zurückgewiesen wird, bei Nichtanfechtung verbindlich. Beziehen sich diese
Erwägungen auf den Streitgegenstand, ist somit auch ihre Anfechtbarkeit zu
bejahen (BGE 120 V 237 Erw. 1a mit Hinweis). Auf die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird daher eingetreten.

2.
2.1 Am 1. Januar 2004 sind die Bestimmungen der 4. IV-Revision in Kraft
getreten. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben, und weil ferner das Sozialversicherungsgericht
bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des
Erlasses des streitigen Einspracheentscheides (hier: 1. Juli 2003)
eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 131 V 11 Erw. 1 mit Hinweisen), sind
die bis zum 31. Dezember 2003 geltenden Bestimmungen anwendbar.

2.2 Der Beschwerdegegner hat sich bereits im Februar 2002 bei der
Invalidenversicherung zum Bezug von Leistungen angemeldet; damit ist
teilweise ein rechtserheblicher Sachverhalt zu beurteilen, der sich vor dem
In-Kraft-Treten des ATSG am 1. Januar 2003 verwirklicht hat. Nach BGE 130 V
329 kann in intertemporalrechtlicher Hinsicht aus Art. 82 Abs. 1 ATSG nicht
etwa der Umkehrschluss gezogen werden, dass für die Anwendbarkeit
materiellrechtlicher Bestimmungen des neuen Gesetzes bezüglich im Zeitpunkt
seines In-Kraft-Tretens noch nicht festgesetzter Leistungen einzig der
Verfügungszeitpunkt ausschlaggebend sei. Vielmehr sind - von hier nicht
interessierenden Ausnahmen abgesehen - die übergangsrechtlichen Grundsätze
massgebend, welche für den Fall einer Änderung der gesetzlichen Grundlagen
die Ordnung anwendbar erklären, welche zur Zeit galt, als sich der zu
Rechtsfolgen führende Sachverhalt verwirklicht hat. Im vorliegenden Fall ist
daher bei der Beurteilung der streitigen Ansprüche auf berufliche
Eingliederungsmassnahmen und Rentenleistungen (zumindest für den Zeitraum bis
31. Dezember 2002) auf die damals geltenden Bestimmungen des IVG abzustellen.
Für den Verfahrensausgang ist dies indessen insofern von untergeordneter
Bedeutung, als die im ATSG enthaltenen Umschreibungen der Arbeitsunfähigkeit
(Art. 6 ATSG), der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG in der vor 1. Januar 2004
gültig gewesenen Fassung) und der Invalidität (Art. 8 ATSG in der bis 31.
Dezember 2003 in Kraft gestandenen Fassung) den bisherigen von der
Rechtsprechung im Invalidenversicherungsbereich entwickelten Begriffen und
Grundsätzen entsprechen und daher mit dem In-Kraft-Treten des ATSG keine
substanzielle Änderung der früheren Rechtslage verbunden war (BGE 130 V 343).

3.
Im kantonalen Gerichtsentscheid wird die Bestimmung zum Anspruch auf
Eingliederungsmassnahmen im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1 IVG in der vor 1.
Januar 2004 gültig gewesenen Fassung) zutreffend dargelegt. Darauf wird
verwiesen.

Zu ergänzen ist, dass eine versicherte Person Anspruch auf eine Rente hat,
wenn sie zu mindestens 40 % invalid ist (Art. 28 Abs. 1 IVG in der bis 31.
Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung). Rentenleistungen werden allerdings
nur erbracht, falls die versicherte Person nicht oder bloss in ungenügendem
Masse eingegliedert werden kann. Sowohl bei der erstmaligen Prüfung des
Leistungsgesuches wie auch im Revisionsfall hat die Verwaltung von Amtes
wegen abzuklären, ob vorgängig der Gewährung oder Weiterausrichtung einer
Rente Eingliederungsmassnahmen durchzuführen sind (BGE 108 V 212 f.).

4.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf berufliche
Eingliederungsmassnahmen sowie auf eine Invalidenrente und in diesem Rahmen
insbesondere die Frage, ob der Sachverhalt hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit
rechtsgenüglich abgeklärt ist.

Die Vorinstanz und der Beschwerdegegner sind der Ansicht, es sei auf Grund
der vorliegenden medizinischen Akten nicht möglich, den Gesundheitszustand -
insbesondere in psychischer Hinsicht - und damit auch die Arbeits- und
Eingliederungsfähigkeit zuverlässig zu beurteilen. Demgegenüber vertritt die
Beschwerdeführerin die Meinung, es sei mit Blick auf die vorhandenen
Arztberichte klar, dass weder Anspruch auf berufliche
Eingliederungsmassnahmen noch auf eine Rente der Invalidenversicherung
bestehe; der Versicherte könne sich aber bei ihr zur Arbeitsvermittlung
melden, weil eine gesundheitsbedingte Einschränkung in der Stellensuche
ausgewiesen sein dürfte.

5.
5.1 Um den Invaliditätsgrad bemessen zu können, ist die Verwaltung (und im
Beschwerdefall das Gericht) auf Unterlagen angewiesen, die ärztliche und
gegebenenfalls auch andere Fachleute zur Verfügung zu stellen haben. Aufgabe
des Arztes oder der Ärztin ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und
dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten
die versicherte Person arbeitsunfähig ist. Im Weiteren sind die ärztlichen
Auskünfte eine wichtige Grundlage für die Beurteilung der Frage, welche
Arbeitsleistungen der Person noch zugemutet werden können (BGE 125 V 261 Erw.
4, 115 V 134 Erw. 2, 114 V 314 Erw. 3c, 105 V 158 Erw. 1).

5.2 Das kantonale Gericht hat die vorhandenen medizinischen Unterlagen
umfassend gewürdigt und einlässlich dargelegt, weshalb die Verwaltung für die
Beantwortung der Frage nach einer allfälligen Einschränkung in der
Arbeitsfähigkeit nicht allein auf den Bericht über die interdisziplinäre
coloproktologische Sprechstunde, Chirurgische Klinik A, Spital X.________,
vom 26. April 2001 und die knappen Aussagen des ehemaligen Hausarztes Dr.
med. K.________, Facharzt für Innere Medizin FMH, vom 18. April 2002, wonach
der Versicherte für körperlich wenig belastende Tätigkeiten zu 100 %
arbeitsfähig sei, abstellen konnte. Neben diversen Leiden mit Auswirkung auf
die Arbeitsfähigkeit diagnostizierte Dr. med. K.________ - ohne Auswirkung
auf die Arbeitsfähigkeit - unter anderem einen Status nach Alkohol- und
Drogenabusus (Kokain) sowie nach psychischer Dekompensation mit
Suizidgedanken (Juni 2001) und wies bereits damals darauf hin, dass die
psychische Stabilität von verschiedenen Faktoren, so unter anderem von der
Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess abhänge. Mit Schreiben vom 6.
November 2002 ergänzte der damalige Hausarzt, es sei für den Versicherten
enorm schwierig, irgendeiner Arbeit nachzugehen: Nicht nur das Tragen von
Windeln sei unangenehm, er habe auch Angst davor, ausgelacht zu werden, falls
jemand seine Darminkontinenz bemerke. Auf Grund dieser Äusserungen des
Facharztes und insbesondere im Hinblick darauf, dass der neue Hausarzt des
Versicherten, Dr. med. W.________, Allgemeinmedizin FMH, am 7. April 2003
rückwirkend ab 1. Januar 2002 bis auf weiteres eine vollständige
Arbeitsunfähigkeit attestiert hatte, bestand entgegen der Auffassung der
IV-Stelle durchaus Anlass, weitere ärztliche und gegebenenfalls auch
berufliche Abklärungen in die Wege zu leiten. Dies wird die Verwaltung nun
gemäss den Vorgaben im kantonalen Gerichtsentscheid noch nachzuholen haben.
Gestützt auf die Berichte der Fachpersonen zur Arbeitsfähigkeit hat sie in
der Folge neu über die Leistungsansprüche des Versicherten zu verfügen.

6.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang und dem
anwaltlichen Arbeitsaufwand entsprechend steht dem durch den Rechtsdienst für
Behinderte vertretenen Beschwerdegegner eine Parteientschädigung zu (Art. 159
Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG; SVR 1997 IV Nr. 110 S. 341).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle Obwalden hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1'000.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden,
der Ausgleichskasse Obwalden und dem Bundesamt für Sozialversicherung
zugestellt.

Luzern, 14. Oktober 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: