Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 762/2004
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I 762/04

Urteil vom 24. Mai 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Rüedi und Bundesrichterin Widmer;
Gerichtsschreiber Lanz

H.________, 1953, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Erich Züblin,
Spalenberg 20, 4051 Basel,

gegen

IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel, Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt, Basel

(Entscheid vom 11. Oktober 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1953 geborene H.________ arbeitete ab April 1978 bei einem
Tiefbauunternehmen. Im Jahr 1985 trat eine Diskushernie auf, was zu einer
vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit führte. Es folgte im Rahmen einer
betriebsinternen Umstellung die Beförderung von H.________ zum Vorarbeiter.
In dieser Funktion hatte er keine körperlichen Schwerstarbeiten mehr zu
verrichten. Im Jahr 2001 war ein Rückfall zu verzeichnen, weswegen der
Hausarzt ab 15. September 2001 eine volle Arbeitsunfähigkeit bestätigte.
H.________ sah sich in der Folge trotz ambulanter und stationärer
Therapiemassnahmen bis auf einen kurzen Einsatzversuch im Mai 2002
ausserstande, die Arbeit wieder aufzunehmen. Im Juni 2002 meldete er sich
unter Hinweis auf persistierende Schmerzen in Beinen und Rücken für
berufliche Massnahmen bei der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle
Basel-Stadt traf medizinische sowie erwerbliche Abklärungen und liess den
Versicherten Fragen zu aus seiner Sicht noch möglichen Arbeiten beantworten.
Gestützt darauf entschied sie mit Verfügung vom 19. Mai 2003, berufliche
Massnahmen seien mangels Wiedereingliederungswillen des Versicherten
undurchführbar und ein Rentenanspruch bestehe bei einem ermittelten
Invaliditätsgrad von 17 % nicht. Daran hielt die Verwaltung auf Einsprache
hin fest (Einspracheentscheid vom 2. Oktober 2003).

B.
H.________ erhob hiegegen Beschwerde mit dem Antrag auf Zusprechung der
gesetzlichen Leistungen.

Die IV-Stelle traf hierauf ergänzende medizinische Abklärungen (Einholung
eines psychiatrischen und eines rheumatologischen Gutachtens vom 26. resp.
27. April 2004). In der Folge beantragte sie die Abweisung der Beschwerde.
Zur Begründung führte sie aus, ein rentenwirksamer Gesundheitsschaden liege
zwar vor, sei aber erst im April 2004 und somit nach Erlass des streitigen
Einspracheentscheides infolge somatischer Verschlechterung eingetreten. Mit
Entscheid vom 11. Oktober 2004 hiess das Sozialversicherungsgericht
Basel-Stadt die Beschwerde in dem Sinne gut, dass es den Einspracheentscheid
vom 2. Oktober 2003 aufhob und dem Versicherten rückwirkend ab 1. September
2002 bei einem Invaliditätsgrad von 62 % eine halbe Rente zusprach.

C.
H.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
es sei der kantonale Entscheid aufzuheben und eine ganze Rente zuzusprechen.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Nach der Rechtsprechung stellt das Sozialversicherungsgericht bei der
Beurteilung einer Streitsache in der Regel auf den bis zum Zeitpunkt des
Erlasses des streitigen Einspracheentscheids (hier: 2. Oktober 2003)
eingetretenen Sachverhalt ab (vgl. BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweis). Ferner
sind in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend,
die bei Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung hatten
(BGE 130 V 259 Erw. 3.5, 333 Erw. 2.3, 425 Erw. 1.1, 447 Erw. 1.2.1, je mit
Hinweisen).

Wie das kantonale Gericht in korrekter Anwendung dieser allgemeinen
intertemporalen Regeln richtig erkannt hat, sind die am 1. Januar 2004 im
Rahmen der 4. IV-Revision in Kraft getretenen Rechtsänderungen nicht zu
berücksichtigen.

Demgegenüber geht die Vorinstanz von der Anwendbarkeit des am 1. Januar 2003
in Kraft getretenen Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) aus. Dies trifft grundsätzlich zu, wobei zu
präzisieren ist, dass die Prüfung eines allfälligen schon vor dem
In-Kraft-Treten des ATSG auf den 1. Januar 2003 entstandenen Anspruchs auf
eine Rente der Invalidenversicherung für die Zeit bis 31. Dezember 2002
aufgrund der bisherigen und ab diesem Zeitpunkt nach den neuen Normen erfolgt
(BGE 130 V 445).

2.
Das kantonale Gericht hat im angefochtenen Entscheid die für den streitigen
Rentenanspruch ab 1. Januar 2003 massgebenden Bestimmungen über den
Invaliditätsbegriff (Art. 8 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG
[in der seit 1. Januar 2003 geltenden Fassung]), die Voraussetzungen und den
Umfang des Anspruchs auf eine Rente der Invalidenversicherung (Art. 28 Abs. 1
IVG [in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung] und Abs. 1bis IVG
[in Kraft gewesen bis 31. Dezember 2003]), den Beginn des Rentenanspruchs
(Art. 29 Abs. 1 IVG) sowie die Invaliditätsbemessung bei Erwerbstätigen
mittels Einkommensvergleich zutreffend wiedergegeben (Art. 16 ATSG). Darauf
wird verwiesen.

Hinsichtlich der Rentenberechtigung bis 31. Dezember 2002 hat es mit dem
Hinweis sein Bewenden, dass die dafür massgebenden altrechtlichen Grundsätze
inhaltlich im Wesentlichen unverändert in die dargelegte neurechtliche
Ordnung überführt wurden (BGE 130 V 343, auch zum Folgenden). Die vom
Eidgenössischen Versicherungsgericht unter Herrschaft des früheren Rechts
entwickelten und weiterhin anwendbaren Regeln hat das kantonale Gericht
zutreffend dargelegt. Es betrifft dies namentlich die Aufgabe des Arztes bei
der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 Erw. 4 mit Hinweisen) und den
Beweiswert ärztlicher Berichte und Gutachten (BGE 125 V 352 Erw. 3a mit
Hinweis).

3.
Die Vorinstanz ist zum Ergebnis gelangt, ein in den erwerblichen Auswirkungen
rentenbegründender Gesundheitsschaden habe ab September 2001 vorgelegen, und
es hat entsprechend einen Rentenanspruch ab 1. September 2002 (Ablauf der
Wartezeit nach Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG) bejaht. Dies entspricht, nachdem
die IV-Stelle an ihrer abweichenden Auffassung letztinstanzlich nicht mehr
festhält, auch der übereinstimmenden Überzeugung der Parteien und ist nach
Lage der Akten nicht zu beanstanden.

Streitig und zu prüfen ist, ob der Leistungsanspruch in einer ganzen anstelle
der von der Vorinstanz zugesprochenen halben Invalidenrente besteht.

4.
Im angefochtenen Entscheid wird für den hier interessierenden Zeitraum vom
September 2001 bis zum Einspracheentscheid vom 2. Oktober 2003 davon
ausgegangen, dass der Versicherte aus somatischer Sicht in rückenadaptierten
Tätigkeiten noch zu 50 % arbeitsfähig ist, während aus psychiatrischer Sicht
keine relevante Einschränkung besteht. Das kantonale Gericht stützt sich
dabei auf die Gutachten des Dr. med. J.________, Facharzt FMH für
Rheumatologie, Manuelle Medizin SMM, vom 26. April 2004 und des Dr. med.
B.________, Spezialarzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 27. April
2004.

Demgegenüber macht der Versicherte geltend, seit September 2001 in jeder
Tätigkeit voll arbeitsunfähig zu sein.

4.1 Laut rheumatologischem Gutachten vom 26. April 2004 ist die
Arbeitsfähigkeit eingeschränkt durch ein chronisches lumbospondylogenes
Syndrom beidseits, rechtsbetont mit/bei Spinalkanalstenose L4/5 durch schwere
Osteochondrose, Spondylarthrose und zusätzlich Diskopathie. Ohne Auswirkungen
auf die Arbeitsfähigkeit sind ein weiter diagnostiziertes chronisches
cervicospondylogenes Syndrom beidseits, rechtsbetont bei Osteochrondrose
C4/5, C5/6 und C6/7 sowie eine somatoforme Schmerzstörung mit klarer Tendenz
zum Panalgie-Syndrom. Als Bauarbeiter ist der Explorand aufgrund der lumbalen
Diskopathie nicht mehr arbeitsfähig. Für die bisherige Tätigkeit eines
Vorarbeiters mit in erster Linie Überwachungsfunktionen und für jede
wechselseitige Arbeit, bei welcher der Versicherte nicht dauernd und nicht
repetitiv über 10 kg heben und sich nicht dauernd bücken muss, besteht eine
halbtägige Arbeitsfähigkeit.

Gemäss psychiatrischer Expertise vom 27. April 2004 besteht ein leicht bis
mittelgradig ausgeprägtes depressives Syndrom. Dabei handelt es sich am
ehesten um eine mässig ausgeprägte Dysthymia (ICD-10 F34.1) im Sinne einer
chronischen Depressivität. Hinzu kommt eine bereits vom rheumatologischen
Gutachter erwähnte leichte somatoforme Schmerzstörung (ICD-10 F45.4). Beide
psychischen Störungen sind nicht geeignet, die Arbeitsfähigkeit nennenswert
einzuschränken. Aus psychiatrischer Sicht liegt keine ernsthafte Erkrankung
vor und ist dem Exploranden eine volle Erwerbstätigkeit, uneingeschränkt und
ohne dass Folgen im psychischen Bereich zu befürchten wären, zuzumuten. Zudem
ist der Versicherte als Persönlichkeit einem üblichen Arbeitsumfeld
uneingeschränkt zuzumuten, da keine unzumutbaren psychischen Störungen
vorliegen.

4.2 Die Stellungnahmen der beiden Experten zu Gesundheitszustand und
funktioneller Leistungsfähigkeit beruhen auf umfassenden eigenen
Untersuchungen des Versicherten sowie der Kenntnis und Berücksichtigung der
medizinischen Vorakten. Die Aussagen sind klar, werden in den Gutachten
einlässlich begründet und überzeugen auch in den interdisziplinären
Zusammenhängen, weshalb das kantonale Gericht zu Recht darauf abgestellt und
von weiteren Beweiserhebungen abgesehen hat (antizipierte Beweiswürdigung;
BGE 124 V 94 Erw. 4b, 122 V 162 Erw. 1d mit Hinweis; SVR 2003 IV Nr. 1 S. 1
Erw. 2).

Widersprüche in den fachärztlichen Ausführungen sind entgegen der in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen Auffassung nicht auszumachen.
Namentlich schliesst die Feststellung des Dr. med. B.________, wonach die
somatoforme Schmerzstörung die heutige Schmerzsymptomatik wahrscheinlich
entscheidend mitbestimmt, nicht aus, dass dadurch die Arbeitsfähigkeit
unbeeinflusst bleibt, wie dies beide Experten übereinstimmend festhalten (zu
Invaliditätsbegriff und somatoformer Schmerzstörung vgl. auch BGE 130 V 352).
Dass der Hausarzt, wie weiter geltend gemacht wird, am 28. Juni 2002 eine
volle Arbeitsunfähigkeit auch für die Tätigkeit eines Vorarbeiters bestätigt
hat, rechtfertigt keine andere Betrachtungsweise (zur zurückhaltenden
Würdigung hausärztlicher Berichte vgl. BGE 125 V 353 Erw. 3b/cc). Nichts
anderes ergibt sich auch aus dem letztinstanzlich aufgelegten Kurzbericht der
Rehaklinik X.________ vom 17. November 2004, worin lediglich bestätigt wird,
dass sich während eines stationären Rehabilitationsaufenthaltes vom 28.
Oktober bis 18. November 2004 an der Arbeitsfähigkeit nichts geändert habe.

5.
Die erwerblichen Auswirkungen der gesundheitsbedingten Einschränkung sind
unstreitig nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs zu
ermitteln.

5.1 Verwaltung und Vorinstanz haben das ohne invalidisierende
Gesundheitsschädigung mutmasslich erzielte Einkommen (Valideneinkommen) für
das Jahr 2002 (Rentenbeginn als massgebender Vergleichszeitpunkt; vgl. BGE
129 V 222) gestützt auf die Angaben des Arbeitgebers auf Fr. 68'120.-
festgesetzt. Dies ist zu Recht nicht umstritten.

5.2
5.2.1Das trotz gesundheitsbedingter Einschränkung zumutbarerweise noch
erzielbare Einkommen (Invalideneinkommen) hat das kantonale Gericht mangels
erneuter Aufnahme einer Erwerbstätigkeit durch den Beschwerdeführer anhand
der statistischen Durchschnittslöhne gemäss der vom Bundesamt für Statistik
herausgegebenen Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) ermittelt. Es ging
vom monatlichen Bruttolohn (Zentralwert bei einer standardisierten
Arbeitszeit von 40 Wochenstunden) der mit einfachen und repetitiven Arbeiten
(Anforderungsniveau 4) im gesamten privaten Sektor beschäftigten Männer im
Jahr 2002 von Fr. 4557.- (LSE 2002, S. 43 Tabelle TA1) aus und rechnete
diesen Wert auf die betriebsübliche Wochenarbeitszeit im Jahr 2002 von 41,7
Stunden (Die Volkswirtschaft, Heft 12/2004, S. 94 Tabelle B 9) um, was bei
dem noch zumutbaren Arbeitspensum von 50 % zu einem Jahreseinkommen (x 12)
von Fr. 28'504.- führt. Hievon nahm die Vorinstanz einen leidensbedingten
Abzug von 10 % vor, was ein Invalideneinkommen von Fr. 25'653.60 und in
Gegenüberstellung mit dem Valideneinkommen von Fr. 68'120.- eine
invaliditätsbedingte Erwerbseinbusse von Fr. 42'466.40 ergibt. Dies
entspricht einem Invaliditätsgrad von 62 %, welcher (jedenfalls bis 31.
Dezember 2003 [In-Kraft-Treten der 4. IV-Revision]) den Anspruch lediglich
auf eine halbe Rente begründet.

5.2.2 Das Vorgehen des kantonalen Gerichts entspricht den von der
Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen (BGE 126 V 75 ff.). Besonderer
Betrachtung bedarf lediglich die vom Versicherten beanstandete Höhe des
leidensbedingten Abzuges.

Der unter bestimmten, von der Rechtsprechung umschriebenen Voraussetzungen
vom anhand von Tabellenlöhnen ermittelten Invalideneinkommen vorzunehmende
Abzug ist für sämtliche in Betracht fallenden Umstände (leidensbedingte
Einschränkung, Alter, Dienstjahre, Nationalität/Aufenthaltskategorie und
Beschäftigungsgrad) gesamthaft zu schätzen und unter Berücksichtigung aller
jeweils in Betracht fallender Merkmale auf höchstens 25 % zu beschränken (BGE
126 V 78 ff. Erw. 5).

Um vorliegend den Anspruch auf eine höhere als die zugesprochene halbe Rente
zu begründen, was bis zum In-Kraft-Treten der 4. IV-Revision einen
Invaliditätsgrad von mindestens 66 2/3 % erforderte (Art. 28 Abs. 1 IVG in
der bis Ende 2003 in Kraft gewesenen Fassung), müsste der leidensbedingte
Abzug annähernd auf die höchstens zulässigen 25 % festgesetzt werden. Dies
ist nicht gerechtfertigt, zumal der behinderungsbedingt zu erwartenden
Verdiensteinbusse auch dadurch Rechnung getragen wurde, dass beim
Invalideneinkommen von den statistischen Durchschnittslöhnen für Arbeiten des
niedrigsten Anforderungsniveaus 4 ausgegangen wurde, während das
Valideneinkommen auf der bisherigen höher qualifizierten und entsprechend
besser entlöhnten Stellung eines Vorarbeiters beruht.

6.
Der angefochtene Entscheid ist somit rechtens.

Festzuhalten bleibt, dass der Versicherte, falls er zur erwerblichen
Verwertung seiner Restarbeitsfähigkeit auch berufliche Massnahmen in Anspruch
nehmen will, ein erneutes Begehren an die Verwaltung richten kann.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt,
der Ausgleichskasse Basel-Stadt und dem Bundesamt für Sozialversicherung
zugestellt.

Luzern, 24. Mai 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber:

i.V.