Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 75/2004
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I 75/04

Urteil vom 7. September 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Kernen; Gerichtsschreiber
Jancar

H.________, 1949, Beschwerdeführerin, vertreten
durch Rechtsanwältin Susanne Schaffner-Hess, Dornacherstrasse 10, 4600 Olten,

gegen

IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 9. Januar 2004)

Sachverhalt:

A.
Die 1949 geborene H.________ war vom 1. Mai 1998 bis 20. November 2001 als
Lagermitarbeiterin bei der Z.________ AG tätig. Am 10. September 2002 meldete
sie sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Frau Dr. med.

G. ________, Innere Medizin FMH, spez. Rheumatologie, stellte am 20. Dezember
2002 folgende Diagnose: chronisches lumbospondylogenes Syndrom bei schweren
degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule mit degenerativ bedingter
Spondylolisthesis L4/5; Adipositas; zervikospondylogenes Syndrom bei
myofaszialem Syndrom des Schultergürtels und fortgeschrittener Osteochondrose
und Spondylose C5/6 sowie Unkovertebralarthrose. Die IV-Stelle des Kantons
Solothurn sprach der Versicherten ab 1. November 2002 bei einem
Invaliditätsgrad von 41 % eine Viertelsrente zu (Verfügung vom 15. Mai 2003).
Mit Einsprache beantragte die Versicherte die Aufhebung der Verfügung, die
Zusprechung einer ganzen Invalidenrente ab 1. November 2002 sowie die
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung für das
Einspracheverfahren. Mit Entscheid vom 9. September 2003 hiess die IV-Stelle
die Einsprache teilweise gut; sie hob die Verfügung vom 15. Mai 2003 auf und
sprach der Versicherten mit Wirkung ab 1. November 2002 bei einem
Invaliditätsgrad von 56 % eine halbe Invalidenrente zu. Weiter führte sie
aus, sie werde eine neue Verfügung eröffnen, sobald die Berechnung des
Rentenbetrags vorliege. Diese Verfügung erging am 28. November 2003.
Mit separater Verfügung vom 10. September 2003 wies die IV-Stelle das Gesuch
um unentgeltliche Verbeiständung für das Einspracheverfahren ab, da eine
anwaltliche Verbeiständung nicht unbedingt notwendig gewesen sei.

B.
Die gegen die Verfügung vom 10. September 2003 erhobene Beschwerde und das
gleichzeitig gestellte Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege
und Verbeiständung für das kantonale Verfahren wies das Versicherungsgericht
des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 9. Januar 2004 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Versicherte die Aufhebung des
kantonalen Entscheides; im Einspracheverfahren vor der IV-Stelle sowie im
kantonalen und letztinstanzlichen Verfahren sei ihr die unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die strittige Verfügung hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Eidgenössische
Versicherungsgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
2.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über die unentgeltliche
Verbeiständung im Sozialversicherungsverfahren (Art. 37 Abs. 1 und 4 ATSG, in
Kraft seit 1. Januar 2003; vgl. auch Art. 29 Abs. 3 BV) und die Form der
Einsprache (Art. 52 Abs. 1 ATSG, Art. 10 Abs. 3 ATSV) zutreffend dargelegt.
Gleiches gilt hinsichtlich der im Rahmen von alt Art. 4 BV zu den
Voraussetzungen der unentgeltlichen Verbeiständung im Einspracheverfahren
ergangenen Rechtsprechung (Bedürftigkeit der Partei, fehlende
Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren, sachliche Gebotenheit im konkreten
Fall; BGE 125 V 32, 117 V 408; AHI 2000 S. 162), die nach dem Willen des
Gesetzgebers weiterhin anwendbar ist (BBl 1999 V S. 4595; Kieser,
ATSG-Kommentar, Art. 37 Rz 15 ff.; Urteil H. vom 6. Juli 2004 Erw. 2.1, I
186/04). Darauf wird verwiesen.

2.2  Zu ergänzen ist, dass hinsichtlich der sachlichen Gebotenheit der
unentgeltlichen Verbeiständung im Einspracheverfahren die Umstände des
Einzelfalls, die Eigenheiten der anwendbaren Verfahrensvorschriften sowie die
Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens zu berücksichtigen sind. Dabei
fallen neben der Komplexität der Rechtsfragen und der Unübersichtlichkeit des
Sachverhalts auch in der Person des Betroffenen liegende Gründe in Betracht,
wie etwa seine Fähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden (Schwander,
Anmerkung zu BGE 122 I 8, in: AJP 1996 S. 495). Falls ein besonders starker
Eingriff in die Rechtsstellung des Bedürftigen droht, ist die Verbeiständung
grundsätzlich geboten, andernfalls bloss, wenn zur relativen Schwere des
Falls besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen,
denen der Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht gewachsen ist (BGE
119 Ia 265 Erw. 3b, 117 Ia 281 Erw. 5b), und wenn auch eine Verbeiständung
durch Verbandsvertreter, Fürsorger oder andere Fach- und Vertrauensleute
sozialer Institutionen nicht in Betracht fällt (BGE 125 V 34 Erw. 2, 114 V
236 Erw. 5b; AHI 2000 S. 163 f. Erw. 2a und b). Die sachliche Notwendigkeit
wird nicht allein dadurch ausgeschlossen, dass das in Frage stehende
Verfahren von der Offizialmaxime oder dem Untersuchungsgrundsatz beherrscht
wird, die Behörde also gehalten ist, an der Ermittlung des rechtserheblichen
Sachverhaltes mitzuwirken (BGE 119 Ia 266 Erw. 3b, 117 Ia 281 Erw. 5b/bb;
Schwander, a.a.O., S. 495). Die Offizialmaxime rechtfertigt es jedoch, an die
Voraussetzungen, unter denen eine anwaltliche Verbeiständung sachlich geboten
ist, einen strengen Massstab anzulegen (BGE 125 V 35 f. Erw. 4b; AHI 2000 S.
164 Erw. 2b; Urteil H. vom 6. Juli 2004 Erw. 2.2, I 186/04).

3.
3.1 Streitig ist, ob es sachlich geboten war, dass sich die
Beschwerdeführerin
in dem der Verfügung vom 15. Mai 2003 folgenden Einspracheverfahren
anwaltlich verbeiständen liess.
In dieser Verfügung sprach die IV-Stelle der Versicherten ab 1. November 2002
eine Viertelsrente zu. Die Abklärungen hätten ergeben, die Versicherte sei in
der bisherigen Tätigkeit als Lagermitarbeiterin zu 100 % arbeitsunfähig. Es
sei ihr jedoch eine körperlich leichte Tätigkeit mit der Möglichkeit, zu
sitzen und gelegentlich die Position zu wechseln, an ca. vier bis fünf
Stunden pro Tag zumutbar. Bei der Berechnung des Invalideneinkommens seien
die behinderungsbedingten Erschwernisse mit einem Abzug von 10 %
berücksichtigt worden, was gestützt auf die Lohnstrukturerhebung 2000 des
Bundesamtes für Statistik (LSE) zu einem Einkommen von Fr. 26'611.- führe.
Das Einkommen ohne Behinderung betrage gestützt auf den Arbeitgeberbericht
vom 19. September 2002 Fr. 45'360.-. Damit resultiere ein Invaliditätsgrad
von gerundet 41 %.

3.2  Die Vorinstanz führte aus, als Einsprache genüge die mündliche oder
schriftliche Erklärung, mit der Verfügung nicht einverstanden zu sein; deren
Begründung stelle keine zwingende Voraussetzung dar. Danach leite die
IV-Stelle ein Offizialverfahren ein. Der Beizug eines Anwalts sei deshalb
nicht notwendig gewesen.
Dem ist zum einen entgegenzuhalten, dass die Geltung der Offizialmaxime für
sich allein die Gebotenheit einer anwaltlichen Verbeiständung nicht
ausschliesst (Erw. 2.2. hievor). Zum anderen ist festzuhalten, dass die
IV-Stelle der Versicherten bereits mit Schreiben vom 4. Februar 2003 die
Ausrichtung einer Viertelsrente ankündigte. Am 13. Mai 2002 ersuchte der
Hausarzt der Versicherten, Dr. med. E.________, Facharzt FMH
Allgemeinmedizin, die IV-Stelle um eine Beratung bezüglich Einsprache bzw.
Rentenrevision. Diese teilte Dr. med. E.________ am 21. Mai 2003 mit, die
schriftliche Einsprache müsse ein Rechtsbegehren, eine Begründung und die
Unterschrift der Versicherten enthalten. Im Wesentlichen gleich lautete die
Rechtsmittelbelehrung in der Verfügung vom 15. Mai 2003. Der Versicherten
kann mithin nicht zum Nachteil gereichen, dass sie ihre schriftliche
Einsprache mit einer Begründung versah.

3.3  Im Einspracheverfahren umstritten war als Erstes die Arbeitsfähigkeit
der
Versicherten, nachdem Frau Dr. med. G.________ diese auf ca. vier bis fünf
Stunden täglich für angepasste Tätigkeiten schätzte (Bericht vom 20. Dezember
2002), währenddem Dr. med. E.________ praktisch von 100%iger
Arbeitsunfähigkeit ausserhäuslich ausging (Bericht vom 13. Mai 2003). Im
Weiteren ging aus der Verfügung vom 15. Mai 2003 rechnerisch nicht
nachvollziehbar hervor, wie die IV-Stelle das Invalideneinkommen von Fr.
26'611.- inkl. 10 % Abzug ermittelte. Im Einspracheentscheid vom 9. September
2003 reduzierte sie das Invalideneinkommen auf Fr. 25'775.- vor dem Abzug,
wobei sie die Berechnungsgrundlagen (Fr. 43'896.- gemäss Tabelle A1 und
Anforderungsniveau 4 für Frauen der LSE 2000, aufgerechnet mit der
Nominallohnentwicklung auf das Jahr 2002 unter Berücksichtigung von 41,7
Stunden betriebsüblicher Wochenarbeitszeit im Jahre 2002 und 54%iger
Arbeitsfähigkeit [4,5 Stunden pro Tag]) aufzeigte. Weiter erhöhte die
IV-Stelle den Abzug von 10 % auf 15 %, da die Versicherte nur noch Teilzeit
arbeiten könne und behinderungsbedingt eingeschränkt sei. Daraus resultierte
ein Invalideneinkommen von Fr. 21'909.-. Das Valideneinkommen musste die
IV-Stelle unter Berücksichtigung der jährlichen Gratifikation von Fr. 4000.-
auf Fr. 49'360.- erhöhen. Umstritten war im Einspracheverfahren zudem, ob der
Arbeitgeberzuschuss an die Krankenkassenprämien gemäss Art. 16 ATSG in
Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 IVG und Art. 8 lit. b AHVV zum Valideneinkommen
der Versicherten gehörte, was die IV-Stelle verneint hat.
Das Verfahren war mithin sachverhaltsmässig und rechtlich nicht einfach. Eine
erhebliche Tragweite der Sache ist ohne weiteres zu bejahen. Unter diesen
Umständen ist es nicht zu beanstanden, dass die rechtsunkundige Versicherte
sich im Einspracheverfahren anwaltlich verbeiständen liess. Unerheblich ist
das Argument der Vorinstanz, gegen den Einspracheentscheid habe das
Rechtsmittel der Beschwerde offen gestanden.
Die Sache ist demnach an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie die weiteren
Voraussetzungen des Anspruchs auf unentgeltliche Verbeiständung prüfe und
darüber neu befinde.

4.
Das Begehren um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne der
Befreiung von den Gerichtskosten im kantonalen Verfahren erweist sich als
gegenstandslos, da keine Verfahrenskosten erhoben wurden.
Soweit die Versicherte die unentgeltliche Verbeiständung im kantonalen
Verfahren verlangt, ist festzuhalten, dass die Vorinstanz über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben wird.

5.
Streitigkeiten im Zusammenhang mit der unentgeltlichen Rechtspflege und
Verbeiständung unterliegen grundsätzlich nicht der Kostenpflicht, weshalb
keine Gerichtskosten zu erheben sind (SVR 2002 ALV Nr. 3 S. 7 Erw. 5).
Da die Beschwerdeführerin obsiegt, ist ihr zu Lasten der IV-Stelle eine
Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 OG).
Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung für das letztinstanzliche
Verfahren erweist sich damit als gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 9. Januar 2004
und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Solothurn vom 10. September 2003
aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle zurückgewiesen wird, damit
sie im Sinne der Erwägungen über den Anspruch auf unentgeltliche
Verbeiständung für das Einspracheverfahren neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn, der Ausgleichskasse des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 7. September 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: