Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 73/2004
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I 73/04

Urteil vom 30. September 2004
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Lustenberger und Frésard; Gerichtsschreiber
Lanz

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

T.________, 1967, Beschwerdegegner, vertreten durch Fürsprecher Marco Büchel,
9240 Uzwil

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 20. Januar 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1967 geborene kroatische Staatsangehörige T.________ absolvierte nach der
Grundschule eine dreijährige Lehre zum Elektromechaniker. Er übte diesen
Beruf nicht aus, sondern war nach einjährigem Militärdienst im Baugewerbe
tätig. Im Jahr 1992 reiste er in die Schweiz ein, wo er bei verschiedenen
Bauunternehmungen arbeitete, zuletzt ab 1998 als Maurer/Vorarbeiter bei der
D.________ AG und ab Anfang 2000 als Schaler bei der S._________ GmbH. Bei
einem Arbeitsunfall im März 2000 zog er sich Verletzungen zu, welche zu einer
Arbeitsunfähigkeit führten. Im Oktober 2000 meldete sich T.________ bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Es folgte ein Aufenthalt in der
Rehaklinik X.________, wo sich herausstellte, dass dem Versicherten die
körperlich schwere Tätigkeit eines Maurers/Schalers gesundheitlich nicht mehr
zumutbar ist. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen gewährte dem Versicherten
eine zweijährige Umschulung zum Metallarbeiter. T.________ trat diese
Ausbildung im Mai 2001 an, musste sie indessen im Oktober desselben Jahres
wegen gesundheitlichen (physischen und psychischen) Problemen abbrechen.
Gemäss dem in der Folge eingeholten MEDAS-Gutachten vom 25. Juli 2002 ist die
Arbeitsfähigkeit in den physisch noch zumutbaren leichten bis mittelschweren
und der körperlichen Behinderung angepassten Tätigkeiten aus psychischen
Gründen um 20 % eingeschränkt. Gestützt auf die Expertise und eine
Stellungnahme der eigenen beruflichen Eingliederungsstelle verneinte die
IV-Stelle mit Verfügung vom 22. Mai 2003 einen Anspruch des Versicherten auf
Invalidenrente und Umschulung. Die von T.________ erhobene Einsprache auf
Gewährung der Umschulung wies die Verwaltung mit Einspracheentscheid vom 6.
August 2003 ab, da die beantragte Leistung unverhältnismässig sei.

B.
T. ________ führte hiegegen Beschwerde. Das Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen hiess das Rechtsmittel mit Entscheid vom 20. Januar 2004 gut,
indem es, einen Anspruch des Versicherten auf Umschulung grundsätzlich
bejahend, den Einspracheentscheid aufhob und die Sache zur Abklärung einer
geeigneten Umschulungsmöglichkeit und zur neuen Entscheidung an die
Verwaltung zurückwies.

C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, in
Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides sei der Einspracheentscheid vom

6. August 2003 zu bestätigen.

T.  ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliessen.
Das Bundesamt für Sozialversicherung hat sich nicht vernehmen lassen

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
In zeitlicher Hinsicht sind grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend,
die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung
haben, und das Sozialversicherungsgericht stellt bei der Beurteilung eines
Falles regelmässig auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des streitigen
Einspracheentscheides (hier: 6. August 2003) eingetretenen Sachverhalt ab
(BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit Hinweisen). Im Lichte
dieser Grundsätze sind bei der vorliegenden Beurteilung die Bestimmungen des
seit 1. Januar 2003 geltenden Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG) und der Verordnung hiezu
vom 11. September 2002 (ATSV) zu berücksichtigen, nicht aber die am 1. Januar
2004 in Kraft getretenen Änderungen des IVG vom 21. März 2003 und der IVV vom

21. Mai 2003 (4. IV-Revision).

2.
2.1 Gemäss Art. 17 Abs. 1 IVG (in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen
Fassung) hat der Versicherte Anspruch auf Umschulung auf eine neue
Erwerbstätigkeit, wenn die Umschulung infolge Invalidität notwendig ist und
dadurch die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erhalten oder wesentlich
verbessert werden kann. Als Umschulung gelten laut Art. 6 Abs. 1 IVV (in der
bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung) Ausbildungsmassnahmen, die
Versicherte nach Abschluss einer erstmaligen beruflichen Ausbildung oder nach
Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ohne vorgängige berufliche Ausbildung wegen
ihrer Invalidität zur Erhaltung oder wesentlichen Verbesserung der
Erwerbsfähigkeit benötigen.

2.2  Nach der Rechtsprechung ist unter Umschulung grundsätzlich die Summe der
Eingliederungsmassnahmen berufsbildender Art zu verstehen, die notwendig und
geeignet sind, dem vor Eintritt der Invalidität bereits erwerbstätig
gewesenen Versicherten eine seiner früheren annähernd gleichwertige
Erwerbsmöglichkeit zu vermitteln. Dabei bezieht sich der Begriff der
"annähernden Gleichwertigkeit" nicht in erster Linie auf das
Ausbildungsniveau als solches, sondern auf die nach erfolgter Eingliederung
zu erwartende Verdienstmöglichkeit. In der Regel besteht nur ein Anspruch auf
die dem jeweiligen Eingliederungszweck angemessenen, notwendigen Massnahmen,
nicht aber auf die nach den gegebenen Umständen bestmöglichen Vorkehren. Denn
das Gesetz will die Eingliederung lediglich so weit sicherstellen, als diese
im Einzelfall notwendig, aber auch genügend ist (BGE 124 V 110 Erw. 2a mit
Hinweisen).

2.3  Als invalid im Sinne von Art. 17 IVG gilt, wer nicht hinreichend
eingegliedert ist, weil der Gesundheitsschaden eine Art und Schwere erreicht
hat, welche die Ausübung der bisherigen Erwerbstätigkeit ganz oder teilweise
unzumutbar macht. Dabei muss der Invaliditätsgrad ein bestimmtes erhebliches
Mass erreicht haben; nach der Rechtsprechung ist dies der Fall, wenn die
versicherte Person in den ohne zusätzliche berufliche Ausbildung noch
zumutbaren Erwerbstätigkeiten eine bleibende oder längere Zeit dauernde
Erwerbseinbusse von etwa 20 % erleidet (BGE 124 V 110 f. Erw. 2b mit
Hinweisen).

3.
Das kantonale Gericht erachtet im vorliegenden Fall die gesundheitsbedingte
Mindesterwerbseinbusse von rund 20 % für gegeben. Es bejaht auch die
Voraussetzung der "annähernden Gleichwertigkeit" der nach einer Umschulung
möglichen mit der zuvor ausgeübten Erwerbstätigkeit des Versicherten. Dazu
wird im angefochtenen Entscheid ausgeführt, der Beschwerdegegner sei aufgrund
seiner bisherigen Tätigkeit als Hilfsarbeiter zu qualifizieren. Bei
Hilfsarbeitern resp. Ungelernten bestehe ein Anspruch auf Umschulung - und
damit auf eine erstmalige Berufsausbildung - nicht bereits bei einer
invaliditätsbedingten Erwerbseinbusse von rund 20 %. Ansonsten könnte die
versicherte Person aufgrund eines geringen Nachteils eine sehr teure
Eingliederungsmassnahme beanspruchen, was dem Grundsatz der
Verhältnismässigkeit zuwiderlaufe. Ein Anspruch des Hilfsarbeiters auf
Umschulung bestehe daher gemäss Praxis der Vorinstanz erst dann, wenn ohne
diese berufliche Massnahme ein Rentenanspruch drohe. Vorausgesetzt werde
somit ein behinderungsbedingter Minderverdienst von rund 40 %. Dieses
Erfordernis sei hier indessen mit einem Invaliditätsgrad von 39,6 % ebenfalls
erfüllt, weshalb die Gleichwertigkeit und damit der Anspruch auf Umschulung
gegeben sei.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde führende IV-Stelle geht von einem
Invaliditätsgrad von lediglich 30 % aus, hält aber damit das Kriterium der
nach der dargelegten Rechtsprechung verlangten Mindesterwerbseinbusse von
rund 20 % (Erw. 2.3) ebenfalls für erfüllt. Anders als die Vorinstanz stellt
sich die Verwaltung indessen auf den Standpunkt, die Zusprechung einer
Umschulung sei mangels Gleichwertigkeit nicht möglich.
Der Versicherte vertritt die Auffassung, er sei aufgrund seines
Ausbildungsstandes und der bisherigen Tätigkeit nicht als Hilfsarbeiter zu
betrachten. Selbst wenn diese Qualifikation aber zuträfe, sei ein
Umschulungsanspruch zu bejahen.

4.
Die Vorinstanz verlangt nach dem zuvor Gesagten für den Umschulungsanspruch
von Hilfsarbeitern resp. ungelernten Arbeitskräften unter dem Gesichtspunkt
der Gleichwertigkeit einen höheren Mindestinvaliditätsgrad als bei
Versicherten, welche bereits über eine Berufsausbildung verfügen.
Für diese Differenzierung der Anspruchsvoraussetzungen besteht indessen keine
rechtliche Grundlage. Zwar geht es nicht an, den Anspruch auf
Umschulungsmassnahmen - gleichsam im Sinne einer Momentaufnahme -
ausschliesslich vom Ergebnis eines auf den aktuellen Zeitpunkt begrenzten
Einkommensvergleichs, ohne Rücksicht auf den qualitativen Ausbildungsstand
einerseits und die damit zusammenhängende künftige Entwicklung der
erwerblichen Möglichkeiten anderseits, abhängen zu lassen. Vielmehr ist im
Rahmen der vorzunehmenden Prognose unter Berücksichtigung der gesamten
Umstände nicht nur der Gesichtspunkt der Verdienstmöglichkeit, sondern der
für die künftige Einkommensentwicklung ebenfalls bedeutsame qualitative
Stellenwert der beiden zu vergleichenden Berufe mit zu berücksichtigen. Die
annähernde Gleichwertigkeit der Erwerbsmöglichkeit in der alten und neuen
Tätigkeit dürfte auf weite Sicht nur dann zu verwirklichen sein, wenn auch
die beiden Ausbildungen einen einigermassen vergleichbaren Wert aufweisen
(BGE 124 V 111 f. Erw. 3b mit Hinweisen). Dies rechtfertigt aber entgegen der
Vorinstanz nicht, den Anspruch auf Umschulung bei ungelernten Versicherten
generell von einer höheren Mindestinvalidität als bei ausgebildeten
Versicherten abhängig zu machen. Entsprechend hat der Verordnungsgeber unter
den grundsätzlich Umschulungsberechtigten neben den beruflich Ausgebildeten
ausdrücklich und ohne zusätzliche Voraussetzungen daran zu knüpfen auch
diejenigen Versicherten aufgeführt, welche ohne vorgängige berufliche
Ausbildung eine Erwerbstätigkeit aufgenommen haben (Art. 6 Abs. 1 IVV in der
bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung; vgl. Erw. 2.1 hievor). Hier
wie dort ist somit bei Erfüllung der gesundheitsbedingten
Mindesterwerbseinbusse von rund 20 % der Umschulungsanspruch grundsätzlich
gegeben, und es bleibt im Einzelfall die Gleichwertigkeit der in Frage
kommenden Umschulungsmöglichkeiten nach den dargelegten Grundsätzen zu
prüfen. Dem Verhältnismässigkeitsprinzip - als Leitmotiv des
Gleichwertigkeitsgedankens - wird dabei Rechnung getragen, indem eine
Umschulung, welche zu einem wesentlich höheren Einkommen als dem mit der
bisherigen (Hilfs-)Tätigkeit erzielten führen würde, ausser Betracht fällt.
Zudem muss der voraussichtliche Erfolg einer Eingliederungsmassnahme in einem
vernünftigen Verhältnis zu ihren Kosten stehen (BGE 121 V 260 Erw. 2c mit
Hinweisen), womit auch unangemessen teure Ausbildungen vom Anspruch
ausgeschlossen sind.

5.
Im vorliegenden Fall ist die gesundheitsbedingte Erwerbseinbusse von
(mindestens) rund 20 % nach der übereinstimmenden und nicht zu beanstandenden
Auffassung sämtlicher Verfahrensbeteiligten gegeben. Welche
Umschulungsmassnahmen in Frage kommen und daher konkret zu prüfen sind, lässt
sich aufgrund der vorhandenen Akten nicht beantworten. Wenn das kantonale
Gericht bei dieser Ausgangslage den Leistungsanspruch grundsätzlich bejaht
und die Sache zur Abklärung einer geeigneten Umschulungsmöglichkeit sowie zur
neuen Verfügung an die Verwaltung zurückgewiesen hat, ist sein Entscheid
somit im Ergebnis richtig.
An dieser Betrachtungsweise vermögen die Vorbringen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts zu ändern. Ob der Invaliditätsgrad 30 %
anstelle des vom kantonalen Gericht ermittelten höheren Wertes beträgt, ist
nach dem zuvor Gesagten nicht entscheidrelevant und kann offen bleiben. Wenn
die Verwaltung sodann geltend macht, dem Beschwerdegegner stehe eine Vielzahl
von zumutbaren Hilfstätigkeiten offen, weshalb eine Umschulung nicht
notwendig und unverhältnismässig wäre, ist festzuhalten, dass die Prüfung und
einhellige Bejahung der für den Umschulungsanspruch vorausgesetzten
gesundheitsbedingten Mindesterwerbseinbusse unter Berücksichtigung dieser
Betätigungsbereiche erfolgt ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen hat dem Beschwerdegegner für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 30. September 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: