Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 738/2004
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I 738/04

Urteil vom 26. April 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiberin
Bollinger

R.________, 1945, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Martin
Heuberger, Bahnhofstrasse 15, 5600 Lenzburg,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 29. September 2004)

Sachverhalt:

A.
Die 1945 geborene R.________ bezog vom 1. September 2000 bis zum Ablauf der
Rahmenfrist am 31. August 2002 Taggelder der Arbeitslosenversicherung. In
Zusammenhang mit einem Programm zur vorübergehenden Beschäftigung der
Stiftung X.________, stürzte sie am 29. Mai 2002 während Umzugsarbeiten beim
Tragen einer Werkzeugkiste und erlitt einen Schlag in den Rücken. Wegen
Rückenbeschwerden, Kopf- und Rippenschmerzen meldete sie sich am 3. Januar
2003 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (Rente) an. Die
IV-Stelle des Kantons Aargau führte erwerbliche Abklärungen durch. Zudem
holte sie Berichte ein der damaligen Hausärztin Frau Dr. med. K.________,
Homöopathie SVHA, vom 30./31. Januar 2003 (dem ein Untersuchungsbefund des
Röntgeninstitutes Y.________ vom 17. Juni 2002 beilag), des Dr. med.
H.________, Innere Medizin FMH, vom 4. März 2003 sowie eine ergänzende
Stellungnahme der Frau Dr. med. K.________ vom 11. April 2003 (welcher zwei
ärztliche Zeugnisse des Dr. med. N.________ vom 26. Juni 2002 und ihrer
selbst vom 11. April 2003 beilagen) ein. Die IV-Stelle veranlasste auf
Anregung ihres medizinischen Dienstes (Dr. med. W.________) ein
rheumatologisches Gutachten bei Dr. med. M.________, FMH für Physikalische
Medizin und Rehabilitation, speziell Rheumatologie, Spital Z.________,
welches am 10. Juli 2003 erging. Nachdem die IV-Stelle eine nochmalige
Beurteilung des Dr. med. W.________ eingeholt hatte, verfügte sie am 20.
August 2003 die Abweisung des Leistungsbegehrens, da in einer leichten,
rückenschonenden Tätigkeit eine uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit bestehe.

Die dagegen erhobene Einsprache, mit welcher R.________ insbesondere rügte,
die medizinischen Abklärungen seien unrichtig und unvollständig, wies die
IV-Stelle am 13. Januar 2004 ab.

B.
R.________ liess hiegegen Beschwerde führen, wobei sie unter Hinweis auf
mangelhafte medizinische Abklärungen und eine ungenügende
Einsprachebegründung die Zusprechung einer Rente, eventuell die Rückweisung
der Sache an die IV-Stelle zur Durchführung weiterer medizinischer
Abklärungen beantragte. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die
Beschwerde am 29. September 2004 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt R.________ die vorinstanzlich
gestellten Rechtsbegehren erneuern und gleichzeitig ihr Schreiben an den
Rechtsvertreter vom 9. Februar 2004 zu den Akten reichen.

Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
In formeller Hinsicht wiederholt die Beschwerdeführerin die bereits im
vorinstanzlichen Verfahren erhobene Rüge der Verletzung des rechtlichen
Gehörs durch die IV-Stelle, welche den Einspracheentscheid nur ungenügend
begründet habe.

1.1 Die IV-Stelle begnügt sich in ihrem Einspracheentscheid vom 13. Januar
2004 mit den Hinweisen, die medizinischen Abklärungen seien umfassend, die
Diagnosen klar und übereinstimmend, die Diskrepanz zur persönlichen
Schilderung der Beschwerden nicht relevant, Adipositas und Hypertonie
invaliditätsfremd und der Einwand ungenügender medizinischer Abklärung eine
Schutzbehauptung. Da eine Auseinandersetzung mit den in der
Einsprachebegründung geltend gemachten Unzulänglichkeiten der medizinischen
Abklärungen und den behaupteten Widersprüchlichkeiten der ärztlichen
Einschätzungen fehlt, ist mit der Vorinstanz eine Verletzung des rechtlichen
Gehörs zu bejahen. Denn die Gründe, weshalb die IV-Stelle trotz der gerügten
Unvollständigkeiten und Widersprüche auf weitere Abklärungen verzichtet und
auf die vorhandenen Unterlagen abstellt, sind aus der sich lediglich über
vier Zeilen erstreckenden fallbezogenen Begründung nicht ersichtlich. Damit
aber war es der Beschwerdeführerin jedenfalls nur mit erheblichem Mehraufwand
möglich, den ablehnenden Entscheid sachgerecht anzufechten.

Angesichts der vollen Kognition des kantonalen Gerichts im nachfolgenden
Beschwerdeverfahren kann die Verletzung des rechtlichen Gehörs, welche mit
der Vorinstanz als nicht besonders schwerwiegend zu bezeichnen ist, jedoch
als geheilt gelten (BGE 127 V438 Erw. 3d/aa, 126 V 132 Erw. 2b, 112 Ib 175
Erw. 5e). Von der beantragten Rückweisung der Sache an die Verwaltung ist
abzusehen (vgl. auch Lorenz Kneubühler, Gehörsverletzung und Heilung, in: ZBl
1998 S. 110 und Michele Albertini, Der verfassungsmässige Anspruch auf
rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren des modernen Staates, Diss. Bern
2000, S. 458).

1.2 Der allgemeine Rechtsgrundsatz, wonach jene Partei für die Kosten eines
Verfahrens aufkommen muss, welche dieses verursacht hat, gilt auch bei
Verletzungen des rechtlichen Gehörs, weshalb eine Kostenauferlegung zu Lasten
der entscheidenden Behörde bei Verletzungen der Begründungspflicht als
wesentlichem Bestandteil des verfassungsrechtlichen Gehörsanspruchs
grundsätzlich in Betracht kommt (in BGE 128 V 311 nicht publizierte Erw. 1d;
Urteil R. vom 11. November 2002, U 150/02). Dieser Rechtsprechung liegt die
Überlegung zu Grunde, dass eine mangelhaft begründete Verfügung oder ein
mangelhaft begründeter Entscheid dem Adressaten berechtigte Veranlassung
bieten kann, bei der nächst höheren Instanz Beschwerde zu führen, soweit sich
die fallentscheidende Begründung nicht aus der Verfügung oder dem Entscheid
ergibt oder zumindest aus den Akten, welche dem Verfügungsadressaten
zugänglich sind und auf welche die Verwaltung verweist.

Die Versicherte hatte ein berechtigtes Interesse daran, dass die IV-Stelle
ihre Entscheidungsgründe nachvollziehbar darlegt, weshalb sie mit gutem Grund
Beschwerde führte. Die dadurch entstandenen Kosten wurden wesentlich durch
die mangelhafte Begründung des Einspracheentscheides verursacht. Es
rechtfertigt sich daher, der Beschwerdeführerin für das vorinstanzliche
Verfahren eine Parteientschädigung zuzusprechen. Deren Höhe wird durch die
Vorinstanz unter Berücksichtigung der entsprechenden bundesrechtlichen
Anforderungen (BGE 117 V 405 Erw. 2 mit Hinweisen; RKUV 1997 Nr. KV 15 S.
320; SVR 1995 MV Nr. 4 S. 12 Erw. 3 u. 4) noch zu bestimmen sein.

2.
2.1 Die Versicherte rügt eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes, da
weder die von Frau Dr. med. K.________ im Bericht vom 30./31. Januar 2003
diagnostizierte Fibromyalgie noch die andauernden Kopfschmerzen und die
psychischen Probleme näher abgeklärt worden seien.

2.2
2.2.1Es trifft zu, dass Dr. med. M.________ die von Frau Dr. med. K. _______
angeführte Fibromyalgie in seinem Gutachten nicht erwähnt. Dies ist der
Glaubwürdigkeit seiner Ausführungen aber keineswegs abträglich. Wie die
Vorinstanz zutreffend erwägt, lässt sich dem Bericht der Frau Dr. med.
K.________ keine nachvollziehbare Diagnose einer Fibromyalgie (d.h. einer
[weichteilrheumatischen] Erkrankung, welche mit vorwiegend extraartikulären
Schmerzen und Funktionsausfällen verschiedener Schwere und Lokalisation
einhergeht; zum Ganzen: Siegenthaler/Kaufmann/Hornbostel/Waller, Lehrbuch der
inneren Medizin, 3. Aufl., Stuttgart/New York 1992, S. 651 ff.) entnehmen. So
fehlt etwa die Beschreibung, welche sieben der 14 sog. Tenderpoints, die
definitionsgemäss für eine Fibromyalgie druckschmerzhaft sein müssen
(Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Berlin/New York, 259. Aufl., Berlin/New
York 2002, zu "Fibromyalgie"), der Versicherten Beschwerden bereiten. Dr.
med. M.________ konnte anlässlich seiner Untersuchung vom 10. Juli 2003 zwar
insbesondere bei Torsionsbewegungen einzelne Schmerzen auslösen (so
provozierte etwa die Brustwirbelsäulentorsion einen brennenden Schmerz in der
mittleren Lendenwirbelsäule), die paracervikale Muskulatur wies jedoch keine
Druckdolenzen auf und auch die übrigen Tests zeigten keine weiteren
druckdolenten Punkte, so dass die Diagnosekriterien einer Fibromyalgie nicht
erfüllt waren. Im Übrigen berücksichtigte Dr. med. M.________ sowohl die
geklagten Schmerzen als auch die somatischen Befunde, welche, - entgegen den
Ausführungen der Versicherten - als weitgehend im Rahmen der altersbedingten
Abnützung anzusehen sind, indem er ein lumbovertebrales/thoracovertebrales
Syndrom nebst Osteochondrose L5/S1 und Spondylarthrosen (sowie eine
Hypertonie, eine Hypothyreose und Adipositas) diagnostizierte. Schliesslich
führte Frau Dr. med. K.________ in ihren Schreiben vom 11. April und 21.
Oktober 2003 eine Fibromyalgie auch nicht mehr an.

Ob die von der Versicherten geklagten Beschwerden als Fibromyalgie
aufzufassen sind, ist aber letztlich ohnehin nicht entscheidwesentlich. Denn
sowohl Dr. med. M.________ als auch Frau Dr. med. K.________ erachteten die
Beschwerdeführerin - unabhängig von den teilweise abweichenden Diagnosen - in
einer angepassten Tätigkeit zu 75-80 % (Dr. med. M.________) bzw. für
Büroarbeiten im Umfang von 5 Stunden täglich (Frau Dr. med. K.________) als
arbeitsfähig. Von weiteren diesbezüglichen Abklärungen kann somit abgesehen
werden (antizipierte Beweiswürdigung; SVR 2001 IV Nr. 10 S. 28 Erw. 4b mit
Hinweisen auf BGE 124 V 94 Erw. 4b und 122 V 162 Erw. 1d).

2.2.2 Einer angepassten Tätigkeit stehen auch die Kopfschmerzen nicht
entgegen, zumal diese nach übereinstimmender Meinung der Frau Dr. med.
K.________ und des Dr. med. M.________ mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
auf die nicht (optimal) eingestellte Hypertonie zurückzuführen sind. Soweit
die Versicherte die Glaubwürdigkeit des rheumatologischen Gutachtens unter
Hinweis darauf, die Kopfschmerzen stünden nicht mit der Hypertonie in
Zusammenhang, erschüttern will, dringt sie nicht durch. Von den
Einschätzungen der Frau Dr. med. K.________ und des Dr. med. M.________
abzugehen besteht umso weniger Veranlassung, als die Beschwerdeführerin
selbst einräumt, die blutdruckregulierenden Medikamente nicht regelmässig
einzunehmen. Im Übrigen ist der im Schreiben der Versicherten vom 9. Februar
2004 enthaltene Einwand, der hohe Blutdruck bestehe lediglich bei
Arztbesuchen, es handle sich dabei um ein sogenanntes "Weisskittelsyndrom",
nicht stichhaltig. Vielmehr geht aus den Akten hervor, dass die Versicherte
schon seit Jahren unter einer behandlungsbedürftigen Hypertonie leidet (vgl.
Bericht des Dr. med. H.________ vom 4. März 2003). Auch kann davon
ausgegangen werden, dass die zahlreichen behandelnden Ärzte keine Medikamente
verordnet hätten, wenn die Versicherte lediglich während ärztlicher
Untersuchungen unter erhöhtem Blutdruck leiden würde. Selbst wenn die
Kopfschmerzen sowie die weiteren geklagten Beschwerden (roter Kopf, Seh- und
Gedächtnisstörungen) erst Jahre nach der erstmaligen Diagnose einer
Hypertonie aufgetreten sind, lässt dies nicht auf einen fehlenden
Zusammenhang schliessen, zumal es einer medizinischen Erfahrungstatsache
entspricht, dass ein erhöhter Blutdruck oft längere Zeit symptomarm oder
sogar asymptomatisch bleibt und erst mit der Zeit - etwa als Folge von
Organschäden - spürbare Beschwerden auftreten (vgl. Pschyrembel zu
"Hypertonie"). Soweit die Beschwerdeführerin aus der angeblichen
Unfallkausalität der Kopfschmerzen auf einen fehlenden Zusammenhang mit der
Hypertonie schliessen will, kann ihr schon deshalb nicht gefolgt werden, weil
sich die medizinischen Massnahmen nach dem Sturz von Ende Mai 2002 auf die
Lumbalgie beschränkten (Berichte des Dr. med. N.________ vom 26. Juni 2002
sowie der Frau Dr. med. K.________ vom 30. Januar 2003; Schreiben der Frau
Dr. med. K.________ an die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt vom 21.
Oktober 2003), was umso mehr einleuchtet, als der Kopfbereich beim Sturz von
Ende Mai 2002 nicht betroffen war.

2.2.3 Schliesslich lassen sich den Akten keine Hinweise auf eine psychische
Beeinträchtigung mit Krankheitswert entnehmen. Zwar war die Versicherte vom
7. Februar 2002 bis 4. Januar 2003 unter anderem wegen depressiver Stimmung
bei Dr. med. N.________ in Behandlung, jedoch machte sie in der Folge weder
anlässlich der Untersuchung durch Frau Dr. med. K.________ am 29. Januar 2003
noch im Rahmen der Begutachtung durch Dr. med. M.________ weiterbestehende
psychische Probleme geltend. Gegenüber Dr. med. M.________ führte sie
vielmehr aus, sie habe gelernt, mit den Schmerzen umzugehen und habe diese
einigermassen im Griff. Dass die physischen Beeinträchtigungen zu einer
psychischen Erkrankung geführt haben, ist daher nicht überwiegend
wahrscheinlich. Nichts anderes geht schliesslich auch aus dem Bericht des
Naturarztes I.________ vom 12. Februar 2004 hervor, wobei offen gelassen
werden kann, ob und inwiefern auf diese nicht von einem Mediziner stammenden
Einschätzungen überhaupt abzustellen ist.

2.3 Angesichts der im bisherigen Verfahren eingeholten umfangreichen
medizinischen Unterlagen und unter Berücksichtigung dessen, dass die
ärztlichen Einschätzungen zwar nicht in jeder einzelnen Diagnose, aber doch
in der Beschreibung der Beschwerden und in den daraus resultierenden
Einschränkungen im Wesentlichen übereinstimmen, haben Vorinstanz und
Verwaltung zu Recht von weiteren Abklärungen abgesehen. Dies gilt umso mehr,
als die untersuchenden Ärzte insbesondere auch darin einig gehen, dass die
Beschwerdeführerin in einer angepassten Tätigkeit jedenfalls nicht mehr als
40 % eingeschränkt ist, woraus im Rahmen eines Prozentvergleichs (BGE 104 V
136 Erw. 2b) nach den zutreffenden Erwägungen im angefochtenen Entscheid
keine rentenbegründende Invalidität resultiert.

3.
Der teilweise obsiegenden Beschwerdeführerin steht eine reduzierte
Parteientschädigung zu Lasten der IV-Stelle des Kantons Aargau zu (Art. 159
Abs. 3 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 29. September 2004
insoweit aufgehoben, als er den Parteientschädigungsanspruch betrifft, und
die Angelegenheit wird in diesem Punkt an das kantonale Gericht
zurückgewiesen, damit es hierüber neu entscheide. Im Übrigen wird die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr.
500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 26. April 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: