Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 714/2004
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I 714/04

Urteil vom 14. Juli 2005
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Kernen;
Gerichtsschreiber Traub

K.________, 1961, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwältin Edith
Heimgartner, Denkmalstrasse 2, 6006 Luzern,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

(Entscheid vom 27. September 2004)

Sachverhalt:

A.
Die 1961 geborene K.________ leidet an einem zerviko- und lumbovertebralen
Syndrom; im Rahmen dieses Beschwerdekomplexes liegen im Einzelnen eine
Wirbelsäulenfehlform und -fehlhaltung, mehrsegmentale
Bandscheibendegenerationen mit entsprechenden Vorfällen, eine verminderte
muskuläre Stabilisationsfähigkeit der Lenden- und Halswirbelsäule, eine
Dekonditionierung mit Trainingsmangel, Zeichen der Hyperlaxität der
Wirbelsegmente, Übergewicht sowie eine Erschöpfungsdepression vor. Von 1993
bis zur gesundheitsbedingten Kündigung durch den Arbeitgeber auf Ende Mai
2000 war K.________ bei der Firma F.________ als Raumpflegerin erwerbstätig.
Nachdem sie sich am 29. Mai 2000 bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug angemeldet hatte, traf die IV-Stelle des Kantons Luzern
erwerbliche und medizinische Abklärungen und verfügte am 25. Februar/26. März
2003, es werde der Versicherten mit Wirkung ab dem 1. August 2000 eine halbe
Invalidenrente beruhend auf einem Invaliditätsgrad von 59 % zugesprochen.
Diese Anordnung wurde mit Einspracheentscheid vom 8. Oktober 2003 bestätigt.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern ab (Entscheid vom 27. September 2004).

C.
K.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den Rechtsbegehren, es sei
ihr, unter Aufhebung des kantonalen sowie des Einspracheentscheids, mit
Wirkung ab dem 1. August 2000 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen;
eventuell seien "weitere Beweisvorkehren zur Arbeitsunfähigkeit der
Beschwerdeführerin aus medizinischer und eventuell aus beruflicher Sicht
anzuordnen".

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Bei der Prüfung des Anspruchs auf eine Invalidenrente, der schon vor dem
Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003 entstanden ist, wird das anwendbare
Recht nach den allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln ermittelt. Danach
sind grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend, die bei Verwirklichung
des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts galten. Demzufolge ist der
Rentenanspruch für die Zeit bis zum 31. Dezember 2002 aufgrund der bisherigen
und ab diesem Zeitpunkt nach den neuen Normen zu prüfen (BGE 130 V 445).

Die am 1. Januar 2004 - und somit nach dem Erlass des Einspracheentscheides
vom 8. Oktober 2003 - in Kraft getretenen Änderungen des Bundesgesetzes über
die Invalidenversicherung vom 21. März 2003 (4. IVG-Revision) und der
Verordnung über die Invalidenversicherung vom 21. Mai 2003 finden keine
Anwendung (vgl. BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen).

1.2 Das ATSG brachte hinsichtlich der Invaliditätsbemessung keine
substantiellen Änderungen gegenüber der bis zum 31. Dezember 2002 gültigen
Rechtslage (BGE 130 V 343), so dass die zur altrechtlichen Regelung ergangene
Judikatur weiterhin massgebend ist. Auf die zutreffende Darstellung der
Normen und Grundsätze durch die Vorinstanz kann verwiesen werden. Dies
betrifft namentlich den Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG [sowohl in
der bis Ende 2002 als auch in der ab 1. Januar 2003 geltenden Fassung]; Art.
8 Abs. 1 ATSG), den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 [in der bis
Ende 2003 gültig gewesenen Fassung]), die Bemessung des Invaliditätsgrades
bei erwerbstätigen Versicherten nach der allgemeinen Methode des
Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG [in der bis Ende 2002 gültig
gewesenen Fassung]; Art. 16 ATSG), die Aufgabe des Arztes im Rahmen der
Invaliditätsbemessung (BGE 115 V 134 Erw. 2 mit Hinweisen; AHI 2002 S. 70
Erw. 4b/cc) sowie die beweisrechtliche Würdigung von medizinischen Berichten
(BGE 125 V 352 Erw. 3a).

2.
Letztinstanzlich strittig ist die Frage, in welchem Ausmass die
Beschwerdeführerin im massgebenden Zeitraum bis zum Einspracheentscheid vom
8. Oktober 2003 (vgl. BGE 121 V 366 Erw. 1b, 116 V 248 Erw. 1a) noch
arbeitsfähig war und welchen Einfluss die entsprechende Einschränkung auf den
Invaliditätsgrad zeitigte.

2.1
2.1.1Anfangs des Jahres 2001 diagnostizierte Frau Dr. L.________,
Spezialärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, eine undifferenzierte
Somatisierungsstörung (ICD-10 Ziff. F 45.1) im Sinne eines
Konversionsmechanismus, soweit die vielschichtige Symptomatik nicht einem
organischen Substrat zugeordnet werden konnte. Die Arbeitsunfähigkeit betrage
aus psychiatrischer Sicht - aufgrund der Konversion, einer Regression nach
vorangegangener langdauernder Verausgabung, Zukunftsängsten und
medikamentöser Beeinträchtigung - zwischen 30 und 50 % (Gutachten vom 28.
Februar 2001). Aus somatischer (neurochirurgischer) Sicht bestand Mitte 2001
wegen der mehrsegmentalen zervikalen chronischen Diskopathie sowie einer
degenerativen Spinalstenose eine hälftige Arbeitsfähigkeit (Bericht des Dr.
S.________ vom 11. Juni 2001).

Eine Begutachtung im Zentrum X.________ vom 11. März 2002 ergab - gestützt
auf eine Evaluation der arbeitsbezogenen funktionellen Leistungsfähigkeit
(EFL) und bei guter Leistungsbereitschaft und Konsistenz - hinsichtlich der
zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Raumpflegerin keine verwertbare
Arbeitsfähigkeit. Hingegen sei unter Berücksichtigung der schon anderweitig
festgestellten psychiatrischen Einschränkung im Umfang von 30 bis 50 % und -
zudem - einer Erschöpfungsdepression eine "vorwiegend sitzende bis körperlich
knapp leichte Tätigkeit halbtags zumutbar". Eine erfolgreich verlaufende
berufliche Reintegration könne allenfalls positiven Einfluss auf die
psychische Befindlichkeit ausüben; damit einhergehend erscheine es möglich,
die Arbeitsfähigkeit künftig zu steigern.

2.1.2 Es fragt sich, wie sich die erwähnten sektoriellen (psychiatrischen und
organmedizinischen) Einschätzungen der Arbeitsunfähigkeit zueinander
verhalten und ob die Gesamtbeurteilung durch das Zentrum X.________ mit den
übrigen Stellungnahmen vereinbar ist. Nachdem sowohl aus psychiatrischer wie
somatischer Sicht jeweils eine Leistungseinbusse in der Grössenordnung von 50
% resultierte, gelangte das letztgenannte Institut in einer Gesamtschätzung
ebenfalls zum Schluss, dass eine leidensangepasste Tätigkeit halbtags
zumutbar sei. Die Vorinstanzen erachteten diese Bewertung als massgebend,
während die Beschwerdeführerin die Auffassung vertritt, es sei nicht so, dass
jede der beiden Einschränkungen in der jeweils anderen aufgehe. Die Frage, ob
die betreffenden Erfordernisse psychischer und somatischer Natur
deckungsgleich sind oder aber eine je eigenständige Entlastung bedingen,
lässt sich nicht in allgemeiner Weise, sondern nur im Einzelfall beantworten.
Vorliegend besteht eine funktionale Einschränkung aufgrund des Rückenleidens
mit der Folge, dass die Versicherte auch eine leichte Tätigkeit nur halbtags
ausüben kann. Da die psychogene Schmerzproblematik genau so wie die
depressive Verstimmung einen massgebenden Zusammenhang mit dem während
längerer Zeit aufgebauten Erschöpfungszustand aufweist, wird der aus
organischen Gründen notwendige Schonungseffekt auch der psychischen
Beeinträchtigung zuteil. Eine Addition der beiden bereichsspezifischen
Arbeitsunfähigkeiten kommt somit nicht in Betracht. Die Gesamteinschätzung
des Zentrums X.________ erscheint als schlüssig.

2.2 Zu klären bleibt der Einfluss der gesundheitlichen Entwicklung nach der
Begutachtung durch das Zentrum X.________ vom März 2002 auf den
Leistungsanspruch.

2.2.1 Aus dem Gutachten des Zentrums X.________ ergibt sich, dass die
Mehrfachbelastung (vollzeitige Erwerbstätigkeit als Raumpflegerin, Hauptlast
bei der Bewältigung eines Haushalts mit mehreren Kindern und anderen
betreuungsbedürftigen Familienmitgliedern, so des invaliden Ehemanns)
namhaften Anteil an der Entstehung der psychischen Erkrankung hatte. Die
ungefähr ab Sommer 1999 bestehende Erschöpfungsdepression klang nach der
Trennung vom Ehemann zunächst ab, verschärfte sich jedoch später wegen der
zunehmend komplexen psychosozialen Belastungssituation (Scheidung; neue
Heirat des ehemaligen Ehemanns, welchem die Kinder zugesprochen wurden;
Entfremdung der Kinder von ihrer Mutter; Tod der Schwiegermutter) wieder bis
hin zur Suizidalität (Bericht der Psychiaterin Dr. S.________ vom 29. Oktober
2003; vgl. auch den Schlussbericht des Rehabilitationszentrums B.________ vom
28. Juli 2003). Der psychische Zustand der Beschwerdeführerin verschlechterte
sich mithin in der Tendenz. Die vorinstanzliche Annahme, dass sich an der
gesundheitlichen Situation seit der Begutachtung durch das Zentrum X.________
bis zum Erlass des Einspracheentscheids im Oktober 2003 nichts Wesentliches
geändert habe, erweist sich soweit zwar als zweifelhaft. Indes geht aus den
fraglichen medizinischen Berichten nicht hervor, dass sich diese Entwicklung
bereits im massgebenden Zeitraum auf den Grad der Arbeitsunfähigkeit
ausgewirkt hätte. Insofern bleibt es bei der Einschätzung, wie sie das
Zentrum X.________ im März 2002 getroffen hatte.

2.2.2 Die sich jedenfalls seit der zweiten Jahreshälfte 2003 anbahnende
gesundheitliche Verschlechterung hat nach dem Gesagten bis im Herbst 2003
noch keine gesicherte Ausweitung der Arbeitsunfähigkeit bewirkt. Ausser Acht
bleiben muss die nach Beendigung des Verwaltungsverfahrens eingetretene
Entwicklung des Gesundheitszustandes (vgl. den Bericht des Psychiaters Dr.
M.________ vom 28. Oktober 2004), die allenfalls im Rahmen eines
Revisionsverfahrens zu berücksichtigen sein wird.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Ausgleichskasse Berner Arbeitgeber
(AKBA), Bern, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 14. Juli 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: