Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 70/2004
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I 70/04

Urteil vom 6. Januar 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber
Nussbaumer

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

F.________, 1957, Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Andreas Brauchli, Hermannstrasse 8, 8570
Weinfelden,

AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden

(Entscheid vom 30. Dezember 2003)

Sachverhalt:

A.
F. ________ (geboren 1957), ausgebildete Primarlehrerin und
Psychomotoriktherapeutin, ist verheiratet und Mutter zweier Kinder (Jahrgang
1988 und 1991). Neben der Führung des Haushalts war sie teilzeitlich als
selbstständigerwerbende Psychomotoriktherapeutin tätig. Am 29. Juni 1996 zog
sie sich bei einem Verkehrsunfall eine HWS-Distorsion und eine leichte
traumatische Hirnverletzung zu. Die IV-Stelle des Kantons Thurgau sprach ihr
mit Verfügung vom 17. März 2000 mit Wirkung ab 1. Juni 1997 auf Grund der
gemischten Methode bei einer Einschränkung im Aufgabenbereich als Hausfrau
von 54,75 % und einer solchen im erwerblichen Bereich von 100 % mit Wirkung
ab 1. Juni 1997 eine ganze Rente der Invalidenversicherung zu. Im Dezember
2000 begann F.________ eine fünf Jahre dauernde Ausbildung zur integrativen
Leib- und Bewegungstherapeutin FPI. Ihr Gesuch um Übernahme der
Ausbildungskosten im Rahmen von beruflichen Eingliederungsmassnahmen wies die
IV-Stelle mit Verfügung vom 4. April 2003 ab, was sie auf Einsprache hin mit
Entscheid vom 25. August 2003 bestätigte.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess die AHV/IV-Rekurskommission des
Kantons Thurgau mit Entscheid vom 30. Dezember 2003 in dem Sinne gut, dass
sie in Aufhebung von Verfügung und Einspracheentscheid die IV-Stelle des
Kantons Thurgau anwies, F.________ die in Zusammenhang mit der Umschulung zur
integrativen Leib- und Bewegungstherapeutin FPI stehenden Kosten im Rahmen
der beruflichen Massnahmen der Invalidenversicherung verfügungsweise
zuzusprechen (Dispositiv-Ziff. 1). Ferner verpflichtete sie die IV-Stelle zur
Bezahlung einer Parteientschädigung von Fr. 1500.- (Dispositiv-Ziff. 2).

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherung führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit
dem Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Verfügung
der IV-Stelle des Kantons Thurgau vom 4. April 2003 zu bestätigen.
Die Vorinstanz beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
F.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen,
soweit darauf überhaupt einzutreten ist. Die IV-Stelle schliesst sich der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an. Mit Eingabe vom 12. Mai 2004 nimmt die
Versicherte Stellung zur Vernehmlassung der IV-Stelle.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesamt für Sozialversicherung hat den vorinstanzlichen Entscheid
gemäss Bestätigung der Post vom 23. März 2004 am 7. Januar 2004 in Empfang
genommen und die Beschwerde vom 6. Februar 2004 gleichentags der Post
übergeben (Datum des Poststempels). Damit ist die 30tägige Frist des Art. 106
Abs. 1 OG gewahrt und die Verwaltungsgerichtsbeschwerde rechtzeitig.

2.
In zeitlicher Hinsicht sind grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend,
die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung
haben, und das Sozialversicherungsgericht stellt bei der Beurteilung eines
Falles regelmässig auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des streitigen
Einspracheentscheides (hier: 25. August 2003) eingetretenen Sachverhalt ab
(BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit Hinweisen). Im Lichte
dieser Grundsätze sind die Bestimmungen des seit 1. Januar 2003 geltenden
Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6.
Oktober 2000 (ATSG) und der Verordnung hiezu vom 11. September 2002 (ATSV) zu
berücksichtigen, nicht aber die am 1. Januar 2004 in Kraft getretenen
Änderungen des IVG vom 21. März 2003 und der IVV vom 21. Mai 2003 (4.
IV-Revision).

3.
3.1 Gemäss Art. 17 Abs. 1 IVG (in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen
Fassung) hat der Versicherte Anspruch auf Umschulung auf eine neue
Erwerbstätigkeit, wenn die Umschulung infolge Invalidität notwendig ist und
dadurch die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erhalten oder wesentlich
verbessert werden kann. Als Umschulung gelten laut Art. 6 Abs. 1 IVV (in der
bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung) Ausbildungsmassnahmen, die
Versicherte nach Abschluss einer erstmaligen beruflichen Ausbildung oder nach
Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ohne vorgängige berufliche Ausbildung wegen
ihrer Invalidität zur Erhaltung oder wesentlichen Verbesserung der
Erwerbsfähigkeit benötigen.

3.2 Nach der Rechtsprechung ist unter Umschulung grundsätzlich die Summe der
Eingliederungsmassnahmen berufsbildender Art zu verstehen, die notwendig und
geeignet sind, dem vor Eintritt der Invalidität bereits erwerbstätig
gewesenen Versicherten eine seiner früheren annähernd gleichwertige
Erwerbsmöglichkeit zu vermitteln. Dabei bezieht sich der Begriff der
"annähernden Gleichwertigkeit" nicht in erster Linie auf das
Ausbildungsniveau als solches, sondern auf die nach erfolgter Eingliederung
zu erwartende Verdienstmöglichkeit. In der Regel besteht nur ein Anspruch auf
die dem jeweiligen Eingliederungszweck angemessenen, notwendigen Massnahmen,
nicht aber auf die nach den gegebenen Umständen bestmöglichen Vorkehren. Denn
das Gesetz will die Eingliederung lediglich so weit sicherstellen, als diese
im Einzelfall notwendig, aber auch genügend ist (BGE 124 V 110 Erw. 2a mit
Hinweisen).

3.3 Als invalid im Sinne von Art. 17 IVG gilt, wer nicht hinreichend
eingegliedert ist, weil der Gesundheitsschaden eine Art und Schwere erreicht
hat, welche die Ausübung der bisherigen Erwerbstätigkeit ganz oder teilweise
unzumutbar macht. Dabei muss der Invaliditätsgrad ein bestimmtes erhebliches
Mass erreicht haben; nach der Rechtsprechung ist dies der Fall, wenn die
versicherte Person in den ohne zusätzliche berufliche Ausbildung noch
zumutbaren Erwerbstätigkeiten eine bleibende oder längere Zeit dauernde
Erwerbseinbusse von etwa 20 % erleidet (BGE 124 V 110 f. Erw. 2b mit
Hinweisen). Anderseits schliesst der Bezug einer ganzen Invalidenrente die
Durchführung von Umschulungsmassnahmen nicht zwingend aus (BGE 122 V 79 Erw.
3b/bb mit Hinweisen).

4.
4.1 Die Beschwerdegegnerin ist ausgebildete Primarlehrerin sowie
Psychomotoriktherapeutin und war vor dem am 29. Juni 1996 erlittenen
Verkehrsunfall teilzeitlich als selbstständigerwerbende
Psychomotoriktherapeutin tätig. Seit dem Unfall leidet sie gemäss dem
Gutachten der Rehaklinik X.________ vom 27. Mai und 25. August 1999, wo sie
vom 31. März bis 12. Mai 1999 in stationärer Behandlung war, an einem
persistierenden cervicocephalen Schmerzsyndrom, an neuropsychologischen
Funktionsstörungen, an rezidivierenden leichten bis mittelgradigen
depressiven Episoden, an psychovegetativem Erschöpfungszustand, an
posttraumatischer Anpassungsstörung mit Angst und depressiver Reaktion sowie
an Haltungsinsuffizienz mit muskulärer Dysbalance. Als
Psychomotoriktherapeutin sei die Versicherte voll arbeitsunfähig und bleibe
dies wahrscheinlich. Zu dieser vollen Arbeitsunfähigkeit trügen
neurologisch-orthopädische und psychiatrisch-neuropsychologische Gründe je
hälftig bei. Prospektiv sei von einer Arbeitsfähigkeit von 50 % in einer
angepassten Tätigkeit auszugehen im Rahmen der vorhandenen Grundausbildung
mit einer allfälligen Umschulung oder Weiterbildung, die im Herbst 1999 oder
im Frühjahr 2000 beginnen sollte. Die berufliche Anpassung könne durchaus
unter Ausnutzung der beruflichen Voraussetzungen z.B. in Richtung
Heilpädagogik gehen mit der Möglichkeit von Einzeltherapien in abgeschirmten
Rahmenbedingungen. Nach der Beurteilung des Dr. med. S.________ im
Arztbericht vom 13. Januar 2002 ist die Beschwerdegegnerin in einer Tätigkeit
als Leib- und Bewegungstherapeutin im Angestelltenverhältnis oder als
Selbstständigerwerbende zu 50 % arbeitsfähig. Sie sei aus psychischer Sicht
wieder belastbar und könne auf Grund ihrer Psyche die Tätigkeit als
Psychomotoriktherapeutin wieder aufnehmen. Der Psychologe L.________ hält die
Versicherte im Bericht vom 23. Januar 2001 trotz der weiterhin bestehenden
Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen aus psychischer Sicht für fähig,
eine Tätigkeit als Leib- und Bewegungstherapeutin auszuüben. Es sei
wahrscheinlich, dass eine gewisse Einschränkung in der zukünftigen
Arbeitstätigkeit und Berufsausübung bestehen bleibe, dies auf Grund des
bestehenden Schleudertraumas und der dadurch eingeschränkten
Konzentrationsfähigkeit und der erhöhten Ermüdbarkeit in der Ausübung einer
Berufstätigkeit. Es sei wahrscheinlich, dass die Beschwerdegegnerin in
Zukunft fähig sein werde, innerhalb der therapeutischen Arbeit mit geeigneten
Coping-Strategien Wege zu finden, die es ihr ermöglichten, ihren Beruf in
ihrem Kontext und mit den erwähnten Einschränkungen optimal auszuüben.

4.2 Aus diesen Berichten ist zum einen zu schliessen, dass die
Beschwerdegegnerin - unter der Annahme einer Besserung ihres psychischen und
somatischen Gesundheitszustandes - in der Lage ist, ihre erlernten Berufe als
Primarlehrerin und als Psychomotoriktherapeutin in Nachachtung der
Schadenminderungspflicht auf dem allgemeinen ausgeglichenen Arbeitsmarkt mit
einer selbstständigen oder unselbstständigen Tätigkeit (teilzeitlich) zu
verwerten (z.B. Nachhilfestunden, Erwachsenenbildung, weitere (heil-)
pädagogische Tätigkeiten etc.), ohne dass es hiezu der beantragten Ausbildung
zur integrativen Leib- und Bewegungstherapeutin FPI  bedürfte. Bei Ausübung
einer solchen Tätigkeit hätte sie ebenfalls die Möglichkeit, ihren
Unterricht, ihre Arbeit oder die Therapiesitzungen so zu gestalten, dass ihr
Erholungspausen möglich und ihrem Leiden angepasst sind. Zum andern folgt aus
den erwähnten Berichten, dass die Beschwerdegegnerin, die mit der beantragten
Ausbildung die Ausübung einer Teilerwerbstätigkeit anstrebt, auch als Leib-
und Bewegungstherapeutin wegen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen
wahrscheinlich nicht voll leistungsfähig sein wird. Die fünfjährige
Ausbildung für die Wiederaufnahme einer Teilerwerbstätigkeit ist unter diesen
Umständen auch nicht als zweckmässig und angemessen zu betrachten.

4.3 Es kann daher offen bleiben, ob die Kosten in einem vernünftigen
Verhältnis zum Nutzen der beantragten Umschulung stehen und wie es sich mit
der Kostenübernahme für den im Ausland durchgeführten Ausbildungsteil
verhält.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid der
AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau vom 30. Dezember 2003 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons
Thurgau, der IV-Stelle des Kantons Thurgau und der Ausgleichskasse des
Kantons Thurgau zugestellt.
Luzern, 6. Januar 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: