Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 666/2004
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2004
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2004


I 666/04

Urteil vom 7. Juni 2005
IV. Kammer

Bundesrichter Meyer, Ursprung und Kernen; Gerichtsschreiberin Polla

S.________, 1943, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecherin Jasmin
Brechbühler, Tillierstrasse 4, 3005 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 3. September 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1943 geborene gelernte Gärtner und diplomierte Sozialpädagoge S.________
war von Januar 1993 bis Oktober 2001 als Betreuer in einer Institution für
geistig Behinderte tätig. Am 1. November 2001 meldete er sich wegen eines
seit Dezember 2000 bestehenden psychischen Leidens bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen in beruflicher
und medizinischer Hinsicht, (u.a.) gestützt auf ein psychiatrisches Gutachten
des Dr. med. H.________, Psychiatrie und Psychotherapie, Psychiatriezentrum,
vom 19. August 2003, lehnte die IV-Stelle des Kantons Bern das
Leistungsbegehren mangels eines psychiatrischen Leidens ab (Verfügung vom 6.
November 2003). Auf Einsprache hin legte sie die Sache ihrem ärztlichen
Dienst vor und hielt an ihrem Standpunkt fest (Einspracheentscheid vom 16.
April 2004).

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
ab (Entscheid vom 3. September 2004).

C.
S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
es sei ihm unter Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheide eine ganze
Invalidenrente zuzusprechen. Er lässt hiezu einen aktualisierten Bericht des
Dr. med. C.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 3. Oktober 2004
sowie einen Bericht der Poliklinik am Spital X.________ (vom 25. Juni 2004)
auflegen. Gleichzeitig lässt er um unentgeltliche Prozessführung ersuchen.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Wie das kantonale Gericht richtig festgestellt hat, finden - nachdem der
beanstandete Einspracheentscheid am 16. April 2004 ergangen ist - bei der
Beurteilung der geltend gemachten Leistungsansprüche sowohl die Bestimmungen
des auf den 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Bundesgesetzes über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG) als
auch die mit der 4. IV-Revision auf den 1. Januar 2004 neu eingeführten oder
geänderten Normen Anwendung (vgl. BGE 130 V 259 Erw. 3.5, 333 Erw. 2.3, 425
Erw. 1.1, 447 Erw. 1.2.1, je mit Hinweisen). Zutreffend dargelegt hat die
Vorinstanz auch die Begriffe der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG) und der
Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG), die Voraussetzungen für einen
Rentenanspruch und dessen Umfang (Art. 28 Abs. 1 IVG), die
Invaliditätsbemessung bei Erwerbstätigen nach der Einkommensvergleichsmethode
(Art. 16 ATSG; BGE 130 V 348 Erw. 3.4, 128 V 30 Erw. 1, 104 V 136 Erw. 2a und
b). Dasselbe gilt hinsichtlich der Bedeutung ärztlicher Schätzungen der
Arbeitsfähigkeit für die Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 Erw. 4, 115 V
134 Erw. 2, 114 V 314 Erw. 3c, 105 V 158 Erw. 1). Darauf wird verwiesen.

1.2 Zu beachten ist weiter, dass Beeinträchtigungen der psychischen
Gesundheit in gleicher Weise wie körperliche Gesundheitsschäden eine
Invalidität im Sinne von Art. 8 ATSG bewirken können. Nicht als Folgen eines
psychischen Gesundheitsschadens und damit invalidenversicherungsrechtlich
nicht als relevant gelten Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit, welche die
versicherte Person bei Aufbietung allen guten Willens, die verbleibende
Leistungsfähigkeit zu verwerten, abwenden könnte; das Mass des Forderbaren
wird dabei weitgehend objektiv bestimmt. Festzustellen ist, ob und in welchem
Umfang die Ausübung einer Erwerbstätigkeit auf dem ausgeglichenen
Arbeitsmarkt mit der psychischen Beeinträchtigung vereinbar ist. Ein
psychischer Gesundheitsschaden führt also nur soweit zu einer
Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG), als angenommen werden kann, die Verwertung
der Arbeitsfähigkeit (Art. 6 ATSG) sei der versicherten Person
sozial-praktisch nicht mehr zumutbar (BGE 102 V 165; AHI 2001 S. 228 Erw. 2b
mit Hinweisen; vgl. auch BGE 127 V 298 Erw. 4c in fine).

2.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf Invalidenrente. Dabei ist als
Voraussetzung für eine korrekte Invaliditätsbemessung in erster Linie der
Grad der Arbeitsunfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit zu prüfen.

2.1 Mit Blick auf die im letztinstanzlichen Verfahren neu aufgelegten
Berichte des Dr. med. C.________ vom 3. Oktober 2004 und des Dr. med.
E.________ vom 24. Juni 2004 ist darauf hinzuweisen, dass diese nur insoweit
beachtlich sind, als sie den massgebenden Zeitraum bis zum
Einspracheentscheid (16. April 2004) beschlagen (BGE 121 V 366 Erw. 1b mit
Hinweis). In seinem Bericht vom 10. November 2002 stellte Dr. med. C.________
mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit folgende Diagnosen: Rezidivierende
depressive Störung, gegenwärtig remittiert (F33.4); Hospitalisation auf der
Kriseninterventionsstation vom 11. Dezember 2000 bis 8. Januar 2001 infolge
einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen (ICD-10
F32.3); Ereignisse in der Kindheit, die den Verlust des Selbstwertgefühls zur
Folge haben und Probleme bei sexuellem Missbrauch in der Kindheit durch eine
Person ausserhalb der engeren Familie (ICD-10 Z61.3 resp. Z61.5); Probleme
bei der Lebensführung, problematisches sexuelles Verhalten (ICD-10 Z72)
(Sexsucht). Gestützt darauf bezeichnete er den Beschwerdeführer seit dem 11.
Dezember 2000 als vollständig arbeitsunfähig. Im Bericht vom 3. Oktober 2004
ergänzte Dr. med. C.________, lerntheoretisch könne ebenfalls von
akzentuierten, passiv-aggressiven, schizoiden Persönlichkeitszügen gesprochen
werden (ICD-10 Z73.1). Der von der IV-Stelle beauftrage Psychiater Dr. med.
H.________ hingegen diskutierte im Gutachten vom 19. August 2003 eine
Schizophrenie, diagnostizierte aber letztlich, da er im klinischen Bild keine
klar für einen floriden schizophrenen Prozess sprechende Symptome erkennen
konnte, einzig eine charakterneurotische Fehlentwicklung ohne Auswirkung auf
die Arbeitsfähigkeit.

2.2 Dr. med. H.________ gelangte hinsichtlich der verbleibenden
Arbeitsfähigkeit zum Schluss, unter den gegebenen Voraussetzungen sei klar,
dass der Versicherte mit Vorteil nicht mehr als Betreuer von Behinderten
arbeiten würde, zumindest dann nicht, wenn er Frauen betreuen müsste. Unter
der Rubrik "Beurteilung und Prognose" wurde vermutet, der Versicherte sei in
der Funktion als Betreuer von Behinderten halt doch überfordert gewesen;
nichts spreche aber gegen eine seiner ursprünglichen Ausbildung entprechende
Tätigkeit. Gleichzeitig hielt er jedoch fest, bei einer geeigneten, aufgrund
der Wirbelsäulenschäden körperlich nicht allzu belastenden Tätigkeit könne
eine volle Leistungsfähigkeit erwartet werden. Unter der Rubrik "Fragen"
führte er nochmals aus, die vorgekommene - allerdings nicht gravierende -
"Grenzüberschreitung" liesse es ratsam erscheinen, dass sich der Versicherte
besser wieder in seinem ursprünglichen Beruf betätige, wo sicher
Versuchungssituationen seltener seien. Eine Arbeitsunfähigkeit habe aber
höchstens im Zeitpunkt der "Krise" bestanden, dürfte jedoch nicht von
relevanter Dauer gewesen sein. Eine Betreuerfunktion sei von Vorteil zu
vermeiden, ungünstig sei wahrscheinlich eine Stelle, bei der er es mit einer
weiblichen Vorgesetzten zu tun bekäme.

2.3 In somatischer Hinsicht ergab ein am Röntgeninstitut Y.________, am 3.
März 2000 durchgeführtes MRT der Lendenwirbelsäule, dass der Versicherte an
einer rechtsbetonten, kleinen medianen Diskushernie Segment L4/L5 mit
Lagebeziehung zu der ausziehenden Nervenwurzel L5 rechts, sowie einer
Spondyloanterolisthesis L5/S1 mit hypoplastischem LWK 5, einer
Bandscheibendehydration Th 11/12, L3 bis S1 und einer fortgeschrittenen
Osteosklerose L5/S1 leidet. Dies deckt sich weitgehend mit dem Befund des Dr.
med. E.________, Leiter der Wirbelsäulenchirurgie an der Poliklinik am Spital
X.________, welcher am 8. Juni 2000 ein Lumboradikuläres Syndrom L5 rechts
bei hochgradiger Spondylolysthese diagnostizierte. Obwohl allfällige nach dem
Einsprachezeitpunkt eingetretene gesundheitliche Veränderungen nicht zu
beurteilen sind (Erw. 2.3 hievor), spricht beim Dr. med. E.________ am 25.
Juni 2004 erhobenen Befund doch einiges dafür, dass seine Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit, gemäss welcher er (lediglich) leichtere körperliche
Tätigkeiten, unter Vermeidung grösserer körperlicher Belastung und
stereotypen Arbeitsplätzen, eventuell in Teilzeit, für zumutbar erachtete,
auch im zu beachtenden Zeitraum nicht wesentlich anders ausfallen würde.

2.4 Daraus erhellt, dass sich aus den zur Verfügung stehenden medizinischen
Akten kein schlüssiges Bild über die in psychischer wie physischer Hinsicht
noch zumutbaren Tätigkeiten ergibt. Der von der Verwaltung beauftragte
Gutachter attestierte überhaupt keine Arbeitsunfähigkeit, erkannte dennoch in
der Betreuerfunktion eine Überforderung, empfahl hinsichtlich der
Rückenproblematik keine allzu belastenden Tätigkeiten und erachtete
gleichzeitig den Gärtnerberuf als zumutbar. Sowohl der ursprünglich gelernte
Beruf als Gärtner als auch die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Betreuer von
Behinderten ist körperlich anstrengend und somit mit dem Rückenleiden wohl
nicht vorbehaltlos vereinbar; die Betreuerfunktion stellt zusätzlich hohe
Anforderungen in psychischer Hinsicht an den Versicherten und verlangt
sozialpädagogische Handlungskompetenz. Die Auffassung des ärztlichen Dienstes
der Beschwerdegegnerin (laut undatierter Aktennotiz, erstellt im Rahmen des
Einspracheverfahrens), dem Versicherten könne "zugemutet werden, seine
bisherige Arbeit als Behindertenbetreuer weiterzuführen", kann aufgrund der
ausgeprägten "charakterneurotischen Fehlentwicklung" (Gutachten Dr. med.
H.________, S. 13) nicht überzeugen, da sie die untrennbar mit dem
psychischen Zustand verbundene Missbrauchsgefahr unberücksichtigt lässt. An
solchen Stellen ist die Verwertung der an sich noch bestehenden
Arbeitsfähigkeit für die Gesellschaft untragbar (BGE 102 V 167 erster Absatz
in fine).

Angesichts der gesamten teilweise divergierenden medizinischen Akten und
seiner in sich nicht widerspruchsfreien Stellungnahme zur Arbeitsfähigkeit
ist das Gutachten des Dr. med. H.________ nicht voll beweiskräftig (BGE 125 V
353 Erw. 3a und b/cc; BGE 122 V 160 Erw. 1c, je mit Hinweisen). Da auch die
Darlegungen des Dr. med. C.________ keine abschliessende Beurteilung
erlauben, sind ergänzende Abklärungen in medizinischer Hinsicht notwendig. Zu
diesem Zweck ist die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen. Sie wird ein
fachärztliches Gutachten veranlassen, dass sich aus somatischer und
psychischer Sicht zur Einschränkung der Arbeitsfähigkeit und zu den dem
Beschwerdeführer zumutbaren Arbeitsleistungen äussern wird. Gestützt auf die
Ergebnisse dieser Abklärung wird die Verwaltung die für den Beschwerdeführer
in Betracht fallenden Verweisungstätigkeiten mit Blick auf den
Einkommensvergleich prüfen und über den Rentenanspruch neu verfügen.

3.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend
hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 Abs.
1 und 2 in Verbindung mit Art. 135 OG). Das Gesuch um unentgeltliche
Prozessführung ist daher gegenstandlos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 3. September 2004 und der
Einspracheentscheid der IV-Stelle Bern vom 16. April 2004 aufgehoben werden
und die Sache an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen wird, damit sie, nach
erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Rentenanspruch neu
verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle Bern hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wird über eine Parteientschädigung
für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 7. Juni 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Vorsitzende der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: