Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 659/2004
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I 659/04

Urteil vom 9. Februar 2005
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiber
Scartazzini

S.________, 1948, Beschwerdeführer, handelnd durch seinen Vormund R.________,
und dieser vertreten durch Fürsprecher Thomas Schwarz, Marktgasse 23/25, 4902
Langenthal,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 10. September 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1948 geborene S.________, von Beruf Schuhmacher, arbeitete ab Juli 1998
bei der Firma G.________ AG als Hilfsarbeiter. Am 6. März 2000 stürzte er
während der Arbeit von einer Leiter und zog sich dabei eine 2-gradig offene,
distale intraartikuläre Humerustrümmerfraktur rechts, eine akute traumatische
Extension einer degenerativen Rotatorenmanschettenläsion rechts, eine
Commotio cerebri, eine obere und untere Schambeinastfraktur links sowie
mehrere Rippenfrakturen rechts zu. Im Juli 2001 meldete sich der durch seinen
Vormund R.________ handelnde Versicherte bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an und beantragte eine Invalidenrente. Die IV-Stelle Bern
sprach S.________ mit Verfügung vom 2. November 2001 eine vom 1. März bis 30.
Juni 2001 befristete Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 100 % zu.
Diese Verfügung erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

Am 24. Januar 2002 machte R.________ eine Verschlechterung des
Gesundheitszustandes des Versicherten geltend und beantragte die Überprüfung
des Anspruchs auf eine halbe Invalidenrente. Mit Verfügung vom 5. April 2002
sprach ihm die IV-Stelle Leistungen in Form von Berufsberatung und
Unterstützung bei der Stellensuche durch die Stellenvermittlung der IV-Stelle
zu. Nach Eingang der Berichte über eine berufliche, vom 25. März bis 18. Juni
2003 erfolgte Abklärung bei der VEBO, Eingliederungsstätte für Behinderte
(vom 7. Juli 2003), sowie des Schlussberichts der Abteilung Berufliche
Eingliederung vom 30. Juli 2003 verfügte die IV-Stelle bei einer
Erwerbseinbusse von 32 % die Abweisung des erneuten Leistungsbegehrens auf
eine Invalidenrente (Verfügung vom 18. August 2003). Dies bestätigte sie nach
erfolgter Berücksichtigung eines am 23. September 2003 von Dr. med.
F.________, Allgemeine Medizin FMH, erstellten, mit der Einsprache
eingereichten Arztberichts mit Entscheid vom 19. November 2003. Dabei befand
sie, mit einer Leistungseinschränkung von 10-30 % sei dem Versicherten eine
angepasste Tätigkeit im Vollpensum zuzumuten.

B.
In der von S.________ hiegegen erhobenen Beschwerde wurde beantragt, in
Aufhebung des Einspracheentscheides sei ihm eine ganze, eventuell eine halbe
Rente mit Wirkung ab 1. Juli 2001 auszurichten. Das Verwaltungsgericht des
Kantons Bern wies die Beschwerde mit Entscheid vom 10. September 2004 ab.

C.
S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und, bei Einreichung
einer Stellungnahme des Dr. med. F.________ vom 22. September 2004, in
Aufhebung des angefochtenen Entscheides die vorinstanzlichen Rechtsbegehren
erneuern; eventualiter seien weitere Abklärungen durchzuführen. Gleichzeitig
ersucht er um unentgeltliche Prozessführung.

IV-Stelle und Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze
zum Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG; Art. 7 und 8 ATSG; BGE 116 V
249 Erw. 1b), zu den Voraussetzungen sowie zum Umfang des Rentenanspruchs
(Art. 28 Abs. 1 [in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung] und
1bis IVG [in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2003]) und zur Bemessung des
Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der
Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG; zu Art. 28 Abs. 2 IVG [in Kraft
gestanden bis 31. Dezember 2002] vgl. BGE 104 V 136 f. Erw. 2a und b; AHI
2000 S. 309 Erw. 1a in fine mit Hinweisen; vgl. auch BGE 128 V 30 Erw. 1 mit
Hinweisen) zutreffend dargelegt. Dasselbe gilt für die Rechtsprechung zur
Aufgabe des Arztes und der Ärztin bei der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V
261 f. Erw. 4 mit Hinweisen) und zum Beweiswert ärztlicher Berichte und
Gutachten (BGE 125 V 352 Erw. 3a mit Hinweis; AHI 2000 S. 152 Erw. 2c). Wurde
eine Rente zu einem früheren Zeitpunkt wegen eines zu geringen
Invaliditätsgrades verweigert und ist die Verwaltung auf eine Neuanmeldung
eingetreten (Art. 87 Abs. 4 IVV), so ist im Beschwerdeverfahren zu prüfen, ob
im Sinne von Art. 41 IVG (in Kraft gewesen bis 31. Dezember 2002; vgl. nun
Art. 17 Abs. 1 ATSG) eine für den Rentenanspruch relevante Änderung des
Invaliditätsgrades eingetreten ist (BGE 117 V 198 Erw. 3a mit Hinweis). Dies
beurteilt sich durch Vergleich des Sachverhaltes, wie er im Zeitpunkt der
ersten Ablehnungsverfügung bestanden hat, mit demjenigen zur Zeit der
streitigen neuen Verfügung (AHI 1999 S. 84 Erw. 1b).

1.2 Streitig und zu prüfen ist, ob im Zeitraum nach der Verfügung vom 2.
November 2001 und bis längstens zum Erlass des Einspracheentscheides vom 19.
November 2003, welcher rechtsprechungsgemäss die zeitliche Grenze der
richterlichen Überprüfungsbefugnis bildet (BGE 121 V 366 Erw. 1b mit Hinweis;
vgl. auch BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit Hinweisen),
wieder der Anspruch auf eine Invalidenrente entstanden ist. Diese Frage
beurteilt sich mit dem kantonalen Gericht, stehen doch keine laufenden
Leistungen im Sinne der übergangsrechtlichen Ausnahmebestimmung des Art. 82
Abs. 1 ATSG, sondern Dauerleistungen im Streit, über welche noch nicht
rechtskräftig verfügt worden ist, - den allgemeinen intertempo-ralrechtlichen
Regeln folgend - für die Zeit bis 31. Dezember 2002 auf Grund der bisherigen
Rechtslage und ab diesem Zeitpunkt nach den neuen Normen des auf den 1.
Januar 2003 in Kraft getretenen ATSG und dessen Ausführungsverordnungen (BGE
130 V 446 f. Erw. 1 mit Hinweis, 130 V 332 ff. Erw. 2.2 und 2.3 sowie Erw.
6). Keine Anwendung finden demgegenüber die per 1. Januar 2004 in Kraft
getretenen Änderungen des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vom
21. März 2003 und der Verordnung über die Invalidenversicherung vom 21. Mai
2003 (4. IV-Revision) sowie die damit einhergehenden Anpassungen des ATSG.

2.
2.1 Im angefochtenen Entscheid gelangt die Vorinstanz zum Schluss, aus der
Gegenüberstellung der medizinischen und erwerblichen Abklärungen (Bericht der
Orthopädischen Klinik des Spitals X.________ vom 9. Juli 2001, Unfallschein
nach UVG, Poliklinikbericht des Spitals X.________ von Dr. med. L.________
vom 28. Dezember 2001 [Untersuchung vom 21. Dezember 2001], Poliklinikbericht
des Spitals X.________ von Dr. med. E.________ vom 22. Januar 2002
[Untersuchung vom 21. Januar 2002], kreisärztliche Abschlussuntersuchung vom
22. Februar 2002 von Dr. med. I.________, Arztbericht von Dr. med. F.________
vom 23. September 2003, Bericht der VEBO, Eingliederungsstätte für Behinderte
vom 7. Juli 2003), welche den Sachverhalt im Zeitpunkt des Erlasses der
ursprünglichen Verfügung (vom 2. November 2001) und in jenem des streitigen
Einspracheentscheides (vom 19. November 2003) wiedergeben, gehe hervor, dass
seit der Einschätzung durch die Ärzte der Orthopädischen Klinik des Spitals
X.________ vom 9. Juli 2001 keine wesentliche Verschlechterung des
Gesundheitszustandes des Versicherten eingetreten war. Das kantonale Gericht
hat zudem erwogen, der vom Beschwerdeführer im Rahmen des
Einspracheverfahrens eingereichte Arztbericht von Dr. med. F.________ vom 23.
September 2003 sei mit dem Bericht der Orthopädischen Klinik sowie den
übrigen Arztberichten vereinbar und bestätige grundsätzlich die Einschätzung
der VEBO. Was ein nachgereichtes Zeugnis von Dr. med. F.________ vom 1. Juni
2004 anbelange, welches ohne nähere Begründung eine Arbeitsunfähigkeit von
100 % ab 6. Januar 2004 bis auf Weiteres attestiert, führte die Vorinstanz
aus, dieses beziehe sich auf einen Zeitpunkt nach Erlass des
Einspracheentscheides und sei mangels Begründung in die Beurteilung nicht
einzubeziehen.
Im genannten Arztbericht vom 23. September 2003 hatte Dr. med. F.________
ausgeführt, als Allgemeinpraktiker könne er nicht beurteilen, in wie weit die
am 6. März 2000 erlittene Commotio cerebri eine Auswirkung auf die
Arbeitsfähigkeit des Versicherten haben konnte; zur Abklärung dieser Frage
sollte ein neuropsychiatrisches Konsilium durchgeführt werden. Das kantonale
Gericht befand diesbezüglich, es bestehe kein Anhaltspunkt für eine
psychische Überlagerung des somatischen Beschwerdebildes. Ebenso wenig sei
den medizinischen Unterlagen ein Hinweis dafür zu entnehmen, dass der im
Rahmen der beruflichen Abklärung beim Beschwerdeführer festgestellte
IQ-Gesamtwert von 68 Punkten eine massgebende psychische Beeinträchtigung zu
begründen vermöchte.

2.2 In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird geltend gemacht, Dr. med.
F.________ habe sowohl in seinem Arztbericht vom 23. September 2003 als auch
in der Stellungnahme vom 22. September 2004 klar ausgeführt, dass der
Beschwerdeführer maximal noch Gewichte von fünf Kilo heben könne und dass
sich das Ellenbogengelenk wegen verminderter Beweglichkeit und Belastbarkeit
immer wieder entzünde. Das von ihm zur Prüfung der Auswirkung der erlittenen
Commotio cerebri verlangte neuropsychiatrische Konsilium sei nicht
durchgeführt worden, obwohl der Versicherte auf Grund der bestehenden Somatik
und seines IQ mit grösster Wahrscheinlichkeit nur noch Arbeiten in einer
geschützten Werkstätte verrichten könne. Insbesondere sei dem Umstand keine
Beachtung geschenkt worden, dass gemäss Berichten der IV-Stelle über die
berufliche Eingliederung vom 21. November 2002 und 30. Juli 2003 die
intellektuelle Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers mit einem Gesamt-IQ
von 68 als recht niedrig bezeichnet wurde. Nach Randziffer 1011 des
Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit beinhalte ein IQ unter 70
eine verminderte Arbeitsfähigkeit und müsse als eigentlicher geistiger
Gesundheitsschaden (Schwachsinn) bewertet werden. Angesichts der geklagten
Leiden und der beschränkten Arbeitsfähigkeit sei auch der Referenzlohn mit
Behinderung willkürlich festgelegt worden.

2.3 Die Einwendungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vermögen zu keinem
anderen Ergebnis zu führen. Nachdem der Versicherte am 24. Januar 2002 eine
Verschlechterung seines Gesundheitszustandes geltend gemacht hatte, nahm der
SUVA-Kreisarzt Dr. med. I.________ am 22. Februar 2002 eine ausführliche
Abschlussuntersuchung vor, welche im Rahmen der Unfallversicherung zur
Feststellung einer Erwerbsunfähigkeit von 13 % führte. Die Ergebnisse dieser
Abklärung, welche auch die Frage der Einschränkung beim Heben von Gewichten
betraf, bezeichnet der Beschwerdeführer in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
als exaktes Bild der somatischen Ausfälle. Der Zustand des Ellenbogens des
Versicherten wurde hauptsächlich durch Dr. med. E.________ am 21. Januar 2002
geprüft. Anlässlich dieser Untersuchung hatte der Patient angegeben, er habe
praktisch keine Schmerzen und auch funktionell störe ihn die eingeschränkte
Beweglichkeit nicht.

Auch in psychiatrischer Hinsicht sind die Schlussfolgerungen der Vorinstanz
nicht zu beanstanden. Anhaltspunkte für eine psychische Überlagerung des
somatischen Beschwerdebildes oder für eine wegen tiefem IQ vorhandene
psychische Beeinträchtigung liegen nicht vor. Zudem ist der Versicherte nach
den Angaben im Bericht der VEBO vom 7. Juli 2003 für den Einstieg in eine
angepasste und geeignete Beschäftigung in der offenen Wirtschaft als genügend
motiviert beurteilt worden. Zu seinen beruflichen Fähigkeiten wurde
ausgeführt, die praktische Veranlagung und das handwerkliche Können seien
vielseitig einsetzbar. Der Einsatz als Maschinenführer an einer auf den
Beschwerdeführer zugeschnittenen Anlage oder eine Montagetätigkeit im
Kleingerätebereich sei in Bezug auf seine Behinderung realistisch. Daraus ist
zu schliessen, nachdem mit dem Bericht der VEBO auch eine objektive
Beschreibung der Auswirkungen der Intelligenzminderung des Versicherten auf
sein Verhalten, auf die berufliche Tätigkeit, die normalen Tätigkeiten des
täglichen Lebens und das soziale Umfeld vorliegt (Kreisschreiben über
Invalidität und Hilflosigkeit [KSIH], Rz. 1011), dass weder eine psychische
Beeinträchtigung noch die Voraussetzungen für die Durchführung des von Dr.
med. F.________ vorgeschlagenen neuropsychiatrischen Konsiliums gegeben sind.

2.4 In erwerblicher Hinsicht besteht weder nach den Akten noch gestützt auf
die Vorbringen des Beschwerdeführers Anlass, auf den von der IV-Stelle
berücksichtigten Einkommensvergleich und den dabei ermittelten
Invaliditätsgrad von 32 % zurückzukommen. Da dieser unter dem für einen
Rentenanspruch erforderlichen Invaliditätsgrad von mindestens 40 % liegt, ist
im Vergleich zur ersten, eine befristete Leistung zusprechenden Verfügung vom
2. November 2001 keine anspruchswesentliche Änderung eingetreten.

3.
Da es im vorliegenden Verfahren um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss
Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben. Das Gesuch um unentgeltliche
Prozessführung im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten erweist sich
daher als gegenstandslos. Die unentgeltliche Verbeiständung kann gewährt
werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit
aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die
Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b je mit
Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam
gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten
haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Fürsprecher Thomas
Schwarz für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus
der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 9. Februar 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: