Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 624/2004
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I 624/04

Urteil vom 18. April 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Scartazzini

C.________, 1958, Beschwerdeführerin, vertreten durch den Procap
Schweizerischer Invaliden-Verband, Froburgstrasse 4, 4600 Olten,

gegen

IV-Stelle des Kantons Graubünden, Ottostrasse 24, 7000 Chur,
Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, Chur

(Verfügung vom 9. September 2004)

In Erwägung,
dass
die IV-Stelle des Kantons Graubünden mit Verfügung vom 4. Mai 2004 das von
C.________ am 5. Mai 2003 wegen Kniebeschwerden eingereichte Gesuch um
Zusprechung einer Invalidenrente nach Ermittlung eines Invaliditätsgrades von
0,59 % abgelehnt hat,
die Versicherte mit der am 10. Mai 2004 dagegen erhobenen Einsprache geltend
machte, mit der Verwaltungsverfügung sei sie nicht einverstanden, weil ihre
"Gesundheit mehr als 50 % betroffen" sei,
am 10. Juni 2004 bei der IV-Stelle ein Schreiben von Dr. med. L.________,
Facharzt FMH für Allgemeinmedizin, vom 26. Mai 2004 eingereicht wurde, in
welchem der Hausarzt der Versicherten erklärte, in der Zwischenzeit habe sich
die Arbeitsfähigkeit seiner Patientin deutlich verschlechtert, weshalb er die
Verwaltung bitte, den Anspruch auf Versicherungsleistungen neu zu prüfen und
bereit sei, zusätzliche medizinische Angaben zu machen,
die IV-Stelle die Einsprache mit Entscheid vom 30. Juni 2004 abwies, ohne auf
das Schreiben von Dr. med. L.________ einzugehen,
C.________ am 30. August 2004 dagegen beim Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden Beschwerde erheben liess mit dem Antrag um Aufhebung des
angefochtenen Entscheides und Zusprechung einer Invalidenrente, eventualiter
seien weitere medizinische Abklärungen anzuordnen,
die Beschwerdeführerin ihrer Eingabe einen Arztbericht von Dr. med.
L.________ vom 28. Juli 2004 beilegte, aus welchem hervorging, dass sie
hauptsächlich an einer akuten Depression leide,
die IV-Stelle mit Schreiben an das Verwaltungsgericht vom 8. September 2004
auf Grund des neu eingereichten Arztberichtes den angefochtenen
Einspracheentscheid und die Verfügung vom 4. Mai 2004  aufhob und
hinsichtlich einer Neubehandlung der Angelegenheit um Abschreibung des
Beschwerdeverfahrens infolge Gegenstandslosigkeit ersuchte,
die IV-Stelle dabei von der Zusprechung einer Parteientschädigung mit der
Begründung absah, der neue, der Verwaltung nicht bekannt gewesene Arztbericht
vom 28. Juli 2004 sei erst einen Monat nach Erlass des Einspracheentscheides
verfasst und zwei Monate danach eingereicht worden,
die Verwaltung zudem dafür hielt, in seinem Arztbericht habe Dr. med.
L.________ eine bereits seit Oktober 2003 stattgefundene Verschlechterung des
Gesundheitszustandes der Versicherten attestiert, sodass die IV-Stelle, hätte
sie davon Kenntnis gehabt, schon vor Erlass des Einspracheentscheides
zusätzliche Abklärungen in Auftrag gegeben und sich ein Beschwerdeverfahren
erübrigt hätte,
die Verwaltung ferner davon ausging, die Tatsache, dass der IV-Stelle das
Schreiben von Dr. med. L.________ vom 26. Mai 2004 bei der Ausfällung des
Einspracheentscheides vorgelegen habe, daran nichts zu ändern vermöge, weil
darin keine Begründung einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes der
Versicherten ersichtlich gewesen sei und sich auf Grund der Aktenlage nur die
bereits bekannten Knieprobleme, nicht indessen die neue Diagnose einer akuten
Depression ergeben hätten,
das kantonale Gericht die Beschwerde mit Verfügung vom 9. September 2004 als
gegenstandslos abgeschrieben und dabei weder Kosten erhoben noch der
Beschwerdeführerin eine Entschädigung zugesprochen hat,
C.________ dagegen Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben lässt mit den
Rechtsbegehren, unter Kosten- und Entschädigungsfolge habe die IV-Stelle in
Aufhebung der vorinstanzlichen Verfügung bezüglich des Kostenentscheides
gemäss Ziffer 2 des Dispositivs für das kantonale Beschwerdeverfahren eine
angemessene Parteientschädigung zu übernehmen,
die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde und das
Verwaltungesgericht auf deren Abweisung soweit darauf einzutreten sei
schliessen, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine
Vernehmlassung verzichtet,
im vorliegenden Fall das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz
über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000
(ATSG) anwendbar ist (BGE 129 V 356 Erw. 1),
nach der Rechtsprechung neue Verfahrensvorschriften mangels anders lautender
Übergangsbestimmungen mit dem Tag des In-Kraft-Tretens sofort und in vollem
Umfang anwendbar sind (BGE 130 V 331 Erw. 2.1, 4 Erw. 3.2),
gemäss Art. 61 lit. g ATSG die obsiegende Beschwerde führende Person Anspruch
auf Ersatz der Parteikosten hat (Kieser, ATSG-Kommentar, Zürich 2003, S. 628,
Rz. 94 ff. zu Art. 61), wobei als Obsiegen in diesem Sinne auch das
Abschreiben des Verfahrens infolge Gegenstandslosigkeit gilt (BGE 110 V 57
Erw. 3a),
die im Rahmen von Art. 85 Abs. 2 lit. f AHVG sowie Art. 108 Abs. 1 lit. g UVG
entwickelten Grundsätze zum Anspruch auf Parteientschädigung bei
Gegenstandslosigkeit des kantonalen Verfahrens unter der Herrschaft des ATSG
weiterhin Geltung haben und demnach für die Auslegung von Art. 61 lit. g Satz
1 ATSG massgebend sind (SVR 2004 AlV Nr. 8 S. 21 Erw.3.1),
Art. 82 Abs. 2 ATSG als einzige im ATSG enthaltene Übergangsbestimmung
verfahrensrechtlicher Natur vorsieht, dass die Kantone ihre Bestimmungen über
die Rechtspflege diesem Gesetz innerhalb von fünf Jahren nach seinem
In-Kraft-Treten anzupassen haben, wobei bis dahin die bisherigen kantonalen
Vorschriften gelten (vgl. RKUV 2003 S. 365 Erw. 1),
das kantonale Verwaltungsgericht seine Verfügung in Anwendung von Art. 61
lit. g ATSG erliess, sodass sich das Eidgenössische Versicherungsgericht
nicht mit den allfälligen kantonalen Bestimmungen über die Rechtspflege zu
befassen hat,
für die Annahme einer Einsprache grundsätzlich erforderlich ist, dass der
Wille feststeht, die erlassene Verfügung nicht zu akzeptieren, wobei es sich
bei der Begründung derselben insofern um eine von der versicherten Person zu
erfüllende Anforderung handelt, als sie erkenntlich ihren Willen um Änderung
der sie betreffenden Rechtslage zum Ausdruck zu bringen hat (BGE 123 V 131
Erw. 3a mit Hinweisen, 115 V 426 Erw. 3a; Kieser, a.a.O., Rz. 10 ff. zu Art.
52),
der Anspruch der obsiegenden Partei auf eine Parteientschädigung je nach der
Schwere des Fehlers im prozessualen Verhalten zu bestimmen ist, dabei jedoch
auch das Verhalten der Verwaltung, insbesondere ihre Verpflichtung, die
versicherte Person, deren Einsprache nicht genügend begründet oder unklar
ist, darauf aufmerksam zu machen, in die Würdigung miteinzubeziehen ist (BGE
123 V 131 Erw. 3b; ZAK 1987 S. 300 Erw. 5c; Verursacherprinzip, BGE 125 V 375
Erw. 2b; SVR 2004 AlV Nr. 8 S. 21 Erw. 3.1),
die ohne Rechtsvertretung handelnde Versicherte ihre Einsprache nicht
begründet hat, und die IV-Stelle mit der Einreichung des Schreibens von Dr.
med. L.________ vom 26. Mai 2004 nicht auf die nachträglich, mit Arztbericht
vom 28. Juli 2004, attestierte neue Diagnose aufmerksam gemacht wurde,
daher zu prüfen ist, ob C.________ es damit zu Unrecht unterlassen hat, in
Anwendung der - auch im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes geltenden -
Mitwirkungspflicht (BGE 125 V 195 Erw. 2) die IV-Stelle rechtzeitig über die
Begründung der Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu
benachrichtigen, oder ob die Verwaltung unter diesen Umständen dazu gehalten
gewesen wäre, bereits auf Grund des Schreibens vom 26. Mai 2004 von Amtes
wegen ergänzende Abklärungen vorzunehmen,
Dr. med. L.________ in seinem Schreiben vom 26. Mai 2004 zwar keine
Begründung des neu festgestellten Gesundheitsschadens angab, die Verwaltung
indessen unmissverständlich darauf hinwies, in der Zwischenzeit habe sich die
Arbeitsfähigkeit seiner Patientin deutlich verschlechtert, weshalb der
Anspruch auf Versicherungsleistungen neu zu prüfen sei,
dieses Schreiben, welches bei der IV-Stelle am 10. Juni 2004, also rund drei
Wochen vor Erlass des Einspracheentscheides (vom 30. Juni 2004) eingegangen
war, nach den Angaben der Verwaltung im massgebenden Zeitpunkt noch nicht bei
den dem Rechtsdienst der IV-Stelle zur Verfügung stehenden Akten gelegen
habe, weshalb im Einspracheentscheid auch nicht darauf eingegangen worden
sei,
in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde jedoch zutreffend dargelegt wird, nach
dem Untersuchungsgrundsatz von Art. 43 Abs. 1 ATSG habe die Behörde den
rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen abzuklären und aus eigener
Initiative vorzugehen, während sie Parteivorbringen nicht mit der Begründung
abtun dürfe, diese seien nicht belegt worden (vgl. Kieser, a.a.O., Rz. 9 zu
Art. 43),
bei den zur Begründung einer Einsprache gestellten Anforderungen der
Willensäusserung (BGE 123 V 131 Erw. 3a mit Hinweisen, 115 V 426 Erw. 3a) zu
berücksichtigen ist, dass die Überzeugung nach dem im
Sozialversicherungsrecht geltenden Grundsatz des Beweisgrades der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit gegeben ist, sofern dieser keine konkreten
Einwände entgegenstehen (vgl. Kieser, a.a.O., Rz. 23 zu Art. 43),
das Schreiben von Dr. med. L.________ vom 26. Mai 2004 einen konkreten
Einwand gegen die von der IV-Stelle getroffene Annahme (Verfügung vom 4. Mai
2004), die Beschwerdeführerin sei für eine wechselbelastende Tätigkeit zu 100
% arbeitsfähig, darstellt und somit dazu geeignet war, diese Schlussfolgerung
in Frage zu stellen,
sich der Hausarzt im Schreiben vom 26. Mai 2004 ausdrücklich bereit erklärt
hatte, zusätzliche medizinische Angaben nachzureichen und diesem Beweisantrag
mit seinem Arztbericht vom 28. Juli 2004 auch nachgekommen ist, was die
Verwaltung sodann veranlasste, in Aufhebung des angefochtenen
Einspracheentscheides und der Verfügung vom 4. Mai 2004 beim
Verwaltungsgericht um Abschreibung des Beschwerdeverfahrens zu ersuchen,
die Verwaltung somit dazu gehalten gewesen wäre, in Beachtung des
Untersuchungsgrundsatzes bereits anhand des Schreibens vom 26. Mai 2004
ergänzende Abklärungen hinsichtlich des Einspracheentscheides vorzunehmen,
die Verwaltung insbesondere gehalten ist, im Rahmen des Einspracheverfahrens
den gesamten Sachverhalt abzuklären und Beweise über jene Tatsachen
abzunehmen hat, die für ihre Entscheidung rechtserheblich sind, wobei sich
die Pflicht der Beweisabnahme im vorliegenden Fall nicht auf die Knieprobleme
der Versicherten beschränkte,
unter diesen Umständen auch der in der Vernehmlassung vom 28. Oktober 2004
geäusserte Einwand der IV-Stelle, das Schreiben vom 26. Mai 2004 hätte
ohnehin nicht berücksichtigt werden können, da damit lediglich bereits
Feststehendes habe bewiesen werden sollen, nicht stichhaltig ist,

C.________ die an die Begründung einer Einsprache gestellten Anforderungen
erfüllt hat und ihr für das kantonale Verfahren ein Anspruch auf Parteikosten
zusteht (BGE 126 V 11 ff.), welcher durch die Vorinstanz festzusetzen ist,
das Verfahren kostenpflichtig ist, da es nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen geht (Art. 134 OG e contrario),
sodass die unterliegende IV-Stelle die Gerichtskosten zu tragen hat (art. 156
Abs. 1 OG),
die unterliegende IV-Stelle der juristisch vertretenen Beschwerdeführerin
eine Parteientschädigung auszurichten hat (Art. 159 Abs. 1 OG, BGE 122 V 279
f. Erw. 3d und e),
erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird die Verfügung des
Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 9. September 2004 bezüglich
des Kostenentscheides gemäss Ziffer 2 des Dispositivs aufgehoben, und es wird
die Sache an dieses Gericht zurückgewiesen, damit es im Sinne der Erwägungen
vorgehe.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons Graubünden
auferlegt.

3.
Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 500.- wird der Beschwerdeführerin
zurückerstattet.

4.
Die IV-Stelle des Kantons Graubünden hat der Beschwerdeführerin für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 1'000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 18. April 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: