Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 58/2004
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I 58/04

Urteil vom 24. September 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiberin Hofer

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

P.________, 1994, Beschwerdegegner, vertreten
durch seine Eltern,

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 23. Dezember 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1994 geborene P.________ leidet seit seiner Geburt an einer cerebralen
Bewegungsstörung (Geburtsgebrechen gemäss Ziffer 395 GgV-Anhang) und an einer
angeborenen cerebralen Lähmung (Geburtsgebrechen gemäss Ziffer 390
GgV-Anhang). Gemäss Therapiebericht vom 1. Mai 2003 steht er seit August 2000
in Behandlung bei B.________, welche logopädische und seit Oktober 2002 auch
psychotherapeutische Massnahmen (Beziehungsdynamik, Darstellen seelischer
Botschaften im Sand- und Rollenspiel) durchführt. Die Invalidenversicherung
kommt für die pädagogisch-therapeutischen Vorkehren auf und erteilte
Kostengutsprache bis 31. Juli 2004 (Verfügung vom 17. Juni 2003).
Am 23. Mai 2003 meldete der Kinderarzt Dr. med. V.________ P.________ zum
Leistungsbezug für die Behandlung eines frühkindlichen POS im Sinne von
Ziffer 404 GgV-Anhang an. Im Bericht über den Neuromotoriktest vom 7. April
2003 hielt der Arzt fest, aufgrund der jahrelangen Beobachtung erweise sich
die Diagnose eines ADS mit hypoaktiver Komponente sowie einer ataktischen
Bewegungsstörung und Teilleistungsschwächen in allen Wahrnehmungsbereichen
als gerechtfertigt. Es sei zu befürchten, dass sich durch die zunehmenden
Anforderungen in der Schule die Schwierigkeiten noch verstärken würden und
allenfalls sogar eine Zusatzunterstützung nötig sein werde. Als Massnahme
schlug er die Einleitung einer Psychotherapie vor, um das Selbstwertgefühl zu
stärken und die Unsicherheit und Verschlossenheit anzugehen. Nach Einholung
des Berichts des behandelnden Arztes vom 5. Juni 2003 eröffnete die IV-Stelle
des Kantons Zürich dem Versicherten mit Verfügung vom 16. Juli 2003, dass das
geltend gemachte psychoorganische Syndrom von der Invalidenversicherung nicht
als Geburtsgebrechen anerkannt werden könne, weil vor Vollendung des 9.
Altersjahres keine spezifische Therapie durchgeführt worden sei; das
Leistungsbegehren werde daher abgewiesen. Daran hielt sie mit
Einspracheentscheid vom 1. Oktober 2003 fest.

B.
Die von P.________, vertreten durch seine Eltern, hiegegen erhobene
Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit
Entscheid vom 23. Dezember 2003 in dem Sinne gut, dass der
Einspracheentscheid vom 1. Oktober 2003 aufgehoben und die Sache an die
Verwaltung zurückgewiesen wurde, damit diese im Sinne der Erwägungen verfahre
und über den Anspruch auf medizinische Massnahmen neu verfüge.

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheids.
Während sich P.________ nicht vernehmen lässt, schliesst die IV-Stelle auf
Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1  Im letztinstanzlichen Verfahren ist unbestritten, dass die Störung, an
welcher der Versicherte leidet, die für die Anerkennung als Geburtsgebrechen
gemäss Ziffer 404 GgV-Anhang geltenden Voraussetzungen nicht erfüllt, weshalb
medizinische Massnahmen gestützt auf Art. 13 IVG entfallen. Zu prüfen bleibt,
ob eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung gemäss Art. 12 IVG in
Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 IVG und Art. 8 Abs. 2 ATSG in Betracht fällt.

1.2  Das kantonale Gericht hat die Sache zur ergänzenden Abklärung und zum
Erlass einer neuen Verfügung über den Anspruch auf medizinische Massnahmen
nach Art. 12 IVG an die Verwaltung zurückgewiesen. Zur Begründung führte es
aus, es sei nicht von vornherein auszuschliessen, dass die gesundheitliche
Beeinträchtigung eine Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben werde. Aus den
vorhandenen medizinischen Unterlagen gehe indessen nichts Genaueres darüber
hervor, ob und gegebenenfalls wie sich die gesundheitliche Störung auf die
Berufsbildung und Erwerbsfähigkeit auswirken werde.

1.3  Das BSV hält dem unter Hinweis auf das bundesamtliche Kreisschreiben
über
die medizinischen Eingliederungsmassnahmen in der Invalidenversicherung
(KSME) entgegen, da beim Versicherten psychotherapeutische Massnahmen weder
im Zusammenhang mit Stottern, schwerer Pseudodebilität, schwerem elektivem
Mutismus oder psychogener Schreibunfähigkeit noch zur Ermöglichung von
Sonderschulmassnahmen notwendig seien, könnten solche Vorkehren im Rahmen von
Art. 12 IVG nur übernommen werden, sofern nach intensiver fachgerechter
Behandlung von einem Jahr Dauer keine genügende Besserung erzielt worden sei
und gemäss spezialärztlicher Feststellung von einer weiteren Behandlung
erwartet werden dürfe, dass der drohende Defekt mit seinen negativen
Auswirkungen auf die Berufsausbildung und Erwerbsfähigkeit ganz oder in
wesentlichem Ausmass verhindert werden könne. Bevor sich die Frage der
medizinischen Massnahmen stelle, müsse ein Karenzjahr abgewartet werden.
Soweit ersichtlich seien bisher keine psychotherapeutischen Massnahmen
ärztlich verordnet und von einer entsprechenden Fachkraft durchgeführt
worden. Die Rückweisung zu weiteren Abklärungen erweise sich daher als
unbegründet.

2.
2.1 Das sozialversicherungsrechtliche Verwaltungs- und
Verwaltungsgerichtsverfahren ist vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht.
Danach haben Versicherungsträger und Sozialversicherungsgericht von sich aus
und ohne Bindung an die Parteibegehren für die richtige und vollständige
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts zu sorgen (BGE 125 V 195 Erw.
2, 122 V 158 Erw. 1a). Das kantonale Gericht hat, wenn es den Sachverhalt als
ungenügend abgeklärt erachtet, grundsätzlich die Wahl, die Akten zwecks
weiterer Beweiserhebungen an die Verwaltung zurückzuweisen oder selber die
nötigen Instruktionen vorzunehmen. Bei festgestellter Abklärungsbedürftigkeit
verletzt die Rückweisung der Sache an die Verwaltung als solche weder den
Untersuchungsgrundsatz noch das Prinzip eines einfachen und raschen
Verfahrens. Anders verhielte es sich nur dann, wenn die Rückweisung an die
Verwaltung einer Verweigerung des gerichtlichen Rechtsschutzes gleichkäme
(z.B. dann, wenn aufgrund besonderer Gegebenheiten nur ein Gerichtsgutachten
oder andere gerichtliche Beweismassnahmen geeignet wären, zur Abklärung des
Sachverhalts beizutragen), oder wenn die Rückweisung nach den Umständen als
unverhältnismässig zu bezeichnen wäre. Grundsätzlich steht dem kantonalen
Gericht bei der Frage, ob es selber Beweise erheben oder die Akten zur
weiteren Abklärung an die Verwaltung zurückweisen will, ein weiter
Ermessensspielraum zu. Ein Eingreifen im Rechtsmittelverfahren lässt sich
praktisch nur dann rechtfertigen, wenn für eine Rückweisung keine sachlichen
Gründe ersichtlich sind.

2.2  Anfechtbar ist grundsätzlich nur das Dispositiv, nicht aber die
Begründung eines Entscheides. Verweist indessen das Dispositiv eines
Rückweisungsentscheides ausdrücklich auf die Erwägungen, werden diese zu
dessen Bestandteil und haben, soweit sie zum Streitgegenstand gehören, an der
formellen Rechtskraft teil. Dementsprechend sind die Motive, auf die das
Dispositiv verweist, für die Behörde, an die die Sache zurückgewiesen wird,
bei Nichtanfechtung verbindlich (BGE 120 V 237 Erw. 1a; RKUV 1999 Nr. U 331
S. 127 Erw. 2). Streitgegenstand im nachfolgenden
Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren bilden die Zulässigkeit der
Rückweisung als solche und die Rechtmässigkeit der mit dem
Rückweisungsentscheid verbundenen Weisungen.

3.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und von der
Rechtsprechung entwickelten - nach dem In-Kraft-Treten des ATSG am 1. Januar
2003 nach wie vor anwendbaren (Urteil G. vom 11. November 2003, I 457/03) -
Grundsätze über den Anspruch von nichterwerbstätigen Personen vor dem
vollendeten 20. Altersjahr auf medizinische Eingliederungsmassnahmen (Art. 5
Abs. 2 IVG [in der ab 1. Januar 2003 geltenden Fassung] in Verbindung mit
Art. 8 Abs. 2 ATSG und Art. 12 IVG; BGE 105 V 19 mit Hinweisen; AHI 2003 S.
104 Erw. 2, 2000 S. 64 Erw. 1) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
Nach der vom Eidgenössischen Versicherungsgericht ausdrücklich als
gesetzeskonform bezeichneten (BGE 105 V 20 in fine) Verwaltungspraxis sind
die Voraussetzungen für die Gewährung medizinischer Massnahmen an Versicherte
vor vollendetem 20. Altersjahr u.a. erfüllt bei schweren erworbenen
psychischen Leiden, sofern nach intensiver fachgerechter Behandlung von einem
Jahr Dauer keine genügende Besserung erzielt wurde und gemäss
spezialärztlicher Feststellung bei einer weiteren Behandlung erwartet werden
darf, dass der drohende Defekt mit seinen negativen Wirkungen auf die
Berufsausbildung und Erwerbsfähigkeit ganz oder in wesentlichem Ausmass
verhindert werden kann (Rz 645-647/845-847.5 KSME). Die dargelegten
Voraussetzungen müssen in dem für die Beurteilung des Leistungsanspruches
massgebenden Zeitpunkt, d.h. bei Erlass der streitigen Verfügung oder des
Einspracheentscheids, erfüllt sein.
Die Bestimmungen der auf den 1. Januar 2004 in Kraft getretenen 4.
IVG-Revision sind im hier zu beurteilenden Fall nicht anwendbar, da nach dem
massgebenden Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheides
eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2
mit Hinweisen).

4.
4.1 Nach Art. 14 Abs. 1 lit. a IVG umfassen die medizinischen Massnahmen die
Behandlung, die vom Arzt selbst oder auf seine Anordnung durch medizinische
Hilfspersonen in Anstalts- oder Hauspflege vorgenommen wird. Dies gilt auch
für die medizinischen Massnahmen im Sinne von Art. 12 IVG (ZAK 1990 S. 516
Erw. 4). Bei B.________ handelt es sich offenbar nicht um eine anerkannte
Psychotherapeutin im Sinne von Art. 26bis IVG. Die IV-Stelle hat die von ihr
durchgeführte psychotherapeutisch/logopädische Behandlung denn auch nicht
unter dem Titel medizinische Massnahmen, sondern als
pädagogisch-therapeutische Massnahme der Sonderschulung übernommen (vgl.
Verfügung vom 17. Juni 2003). In der Vernehmlassung im vorinstanzlichen
Verfahren führte sie aus, aufgrund der medizinischen Aktenlage, insbesondere
des Therapieberichts von B.________ vom 1. Mai 2003, sei beim Versicherten
bisher keine Psychotherapie durchgeführt worden. Hingegen hat Dr. med.

V. ________ im Bericht vom 7. April 2003 eine psychotherapeutische Behandlung
vorgeschlagen, bezüglich welcher die Mutter des Versicherten sich mit Dr.

F. ________ und Dr. N.________ in Verbindung zu setzen hatte. Bereits daraus
erhellt, dass es sich nicht um dieselbe Vorkehr handeln kann, wie sie von
B.________ durchgeführt wird. Die IV-Stelle hielt im vorinstanzlichen
Verfahren am 13. November 2003 fest, ob die Voraussetzungen von Rz 54 in
Verbindung mit Rz 645-647/845-847.5 KSME für eine Übernahme von
Psychotherapie als medizinische Massnahme nach Art. 12 IVG gegeben seien,
könne derzeit noch nicht geprüft werden. Sie erwarte jedoch von der
behandelnden Fachperson nach einem Jahr durchgeführter Psychotherapie einen
entsprechenden Bericht. Gestützt darauf werde sie prüfen, ob ein
Leistungsanspruch bestehe.

4.2  Nach ständiger Rechtsprechung stellt das Sozialversicherungsgericht bei
der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des
Erlasses des Einspracheentscheides (hier: 1. Oktober 2003) eingetretenen
Sachverhalt ab (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen). Tatsachen, die jenen
Sachverhalt seither verändert haben, sollen im Normalfall Gegenstand einer
neuen Verwaltungsverfügung sein (BGE 121 V 366 Erw. 1b mit Hinweis). Die
Notwendigkeit einer psychiatrischen Behandlung wurde von Dr. med. V.________
im Bericht vom 7. April 2003 erwähnt. Ob in der Zwischenzeit damit begonnen
wurde, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Falls dem indessen so wäre,
hätte mit der Behandlung frühestens im April 2003 begonnen werden können.
Damit wäre aber die Voraussetzung der einjährigen intensiven Psychotherapie
bei Erlass des Einspracheentscheides noch nicht erfüllt gewesen, weshalb
damals allein schon aus diesem Grund der Anspruch auf Kostengutsprache für
die Psychotherapie mit Recht verneint wurde. Insofern ist die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gutzuheissen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 23. Dezember 2003
aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und der IV-Stelle des Kantons Zürich zugestellt.
Luzern, 24. September 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: