Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 588/2004
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2004
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2004


I 588/04

Urteil vom 31. Januar 2005
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiber Lanz

A.________, 1971, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Andres
Büsser, Marktgasse 20, 9000 St. Gallen,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 29. April 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1971 geborene türkische Staatsangehörige A.________ arbeitete, ohne über
eine Berufsausbildung zu verfügen, ab 1991 als Hartverchromer, zuletzt ab
Oktober 2000 in der Funktion eines Vorarbeiters, bei der Q.________ AG. Ab 2.
Juni 2003 wurde von ärztlicher Seite für diese Tätigkeit wegen eines
Rückenleidens eine volle Arbeitsunfähigkeit bestätigt. Eine leidensadaptierte
leichte bis mittelschwere Arbeit sei weiterhin zumutbar. Unter Hinweis auf
diesen Sachverhalt meldete sich A.________ im Juni 2003 bei der
Invalidenversicherung für berufliche Massnahmen an. Die IV-Stelle des Kantons
St. Gallen verneinte einen Anspruch auf Umschulung, da der
invaliditätsbedingte Minderverdienst zu gering sei, sowie auf
Arbeitsvermittlung (Verfügung vom 28. August 2003 und Einspracheentscheid vom
27. November 2003).

B.
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde mit dem Antrag, es seien
berufliche Massnahmen (vorab Umschulung) nebst Taggeld resp. befristeter
Rente zu gewähren, wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen ab,
soweit es darauf eintrat (Entscheid vom 29. April 2004).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt A.________ sein vorinstanzliches
Rechtsbegehren erneuern; eventualiter sei die Sache zum neuen Entscheid über
die Anspruchsberechtigung an Verwaltung oder Vorinstanz zurückzuweisen.
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, ohne
sich weiter zur Sache zu äussern. Das Bundesamt für Sozialversicherung hat
sich nicht vernehmen lassen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde richtet sich ihrer Begründung nach einzig
gegen die in Bestätigung des Einspracheentscheides vom 27. November 2003
erfolgte Verneinung des Anspruchs auf Umschulung im angefochtenen Entscheid.

2.
Wie die Vorinstanz intertemporalrechtlich korrekt erkannt hat, sind die mit
der 4. IV-Revision erfolgten Rechtsänderungen, da nach dem massgeblichen
Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheides (hier: vom 27.
November 2003) am 1. Januar 2004 in Kraft getreten, nicht anwendbar (vgl. BGE
129 V 4 Erw. 1.2).

3.
3.1 Invalide oder von einer Invalidität unmittelbar bedrohte Versicherte haben
Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, soweit diese notwendig und geeignet
sind, die Erwerbsfähigkeit wieder herzustellen, zu verbessern, zu erhalten
oder ihre Verwertung zu fördern. Dabei ist die gesamte noch zu erwartende
Arbeitsdauer zu berücksichtigen (Art. 8 Abs. 1 IVG in der bis Ende 2003
gültig gewesenen Fassung).
Der Versicherte hat Anspruch auf Umschulung auf eine neue Erwerbstätigkeit,
wenn die Umschulung infolge Invalidität notwendig ist und dadurch die
Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erhalten oder wesentlich verbessert werden
kann (Art. 17 Abs. 1 IVG in der bis Ende 2003 gültig gewesenen Fassung in
Verbindung mit Art. 8 Abs. 3 lit. b IVG).

3.2 Nach der zu Art. 17 IVG ergangenen Rechtsprechung ist unter Umschulung
grundsätzlich die Summe der Eingliederungsmassnahmen berufsbildender Art zu
verstehen, die notwendig und geeignet sind, dem vor Eintritt der Invalidität
bereits erwerbstätig gewesenen Versicherten eine seiner früheren annähernd
gleichwertige Erwerbsmöglichkeit zu vermitteln. Dabei bezieht sich der
Begriff der "annähernden Gleichwertigkeit" nicht in erster Linie auf das
Ausbildungsniveau als solches, sondern auf die nach erfolgter Eingliederung
zu erwartende Verdienstmöglichkeit. In der Regel besteht nur ein Anspruch auf
die dem jeweiligen Eingliederungszweck angemessenen, notwendigen Massnahmen,
nicht aber auf die nach den gegebenen Umständen bestmöglichen Vorkehren. Dies
deshalb, weil die Eingliederung nach dem Willen des Gesetzgebers lediglich so
weit sicherzustellen ist, als dies im Einzelfall notwendig, aber auch
genügend ist. Schliesslich setzt der Anspruch auf Umschulung voraus, dass die
versicherte Person wegen der Art und Schwere des Gesundheitsschadens im
bisher ausgeübten und in den für sie ohne zusätzliche berufliche Ausbildung
offen stehenden zumutbaren Erwerbstätigkeiten eine bleibende oder längere
Zeit dauernde Erwerbseinbusse von etwa 20 % erleidet, wobei es sich um einen
blossen Richtwert handelt (BGE 124 V 110 f. Erw. 2a und b mit Hinweisen; vgl.
auch BGE 130 V 489 f. Erw. 4.2).

4.
4.1 Kantonales Gericht und IV-Stelle verneinen einen Anspruch auf Umschulung
mit der Begründung, der Beschwerdeführer sei aufgrund von Ausbildungsstand
und bisheriger Tätigkeit als Hilfsarbeiter zu qualifizieren. Bei
Hilfsarbeitern resp. Ungelernten bestehe ein Anspruch auf Umschulung - und
damit auf eine erstmalige Berufsausbildung - nicht bereits bei einer
invaliditätsbedingten Erwerbseinbusse von rund 20 %. Ansonsten könnte die
versicherte Person aufgrund eines geringen Nachteils eine sehr teure
Eingliederungsmassnahme beanspruchen, was dem Grundsatz der
Verhältnismässigkeit zuwiderlaufe. Ein Anspruch des Hilfsarbeiters auf
Umschulung bestehe daher gemäss Praxis der Vorinstanz erst dann, wenn ohne
diese berufliche Massnahme ein Rentenanspruch drohe. Vorausgesetzt werde
somit ein behinderungsbedingter Minderverdienst von rund 40 %. Dieses
Erfordernis sei vorliegend, wie sich aus dem Vergleich der Einkommen mit und
ohne Behinderung ergebe, deutlich nicht erfüllt.

4.2 Nach der dargelegten Betrachtungsweise soll für den Umschulungsanspruch
von Hilfsarbeitern resp. ungelernten Arbeitskräften ein höherer
Mindestinvaliditätsgrad erforderlich sein als bei Versicherten, welche
bereits über eine Berufsausbildung verfügen. Das Eidgenössische
Versicherungsgericht hatte jüngst Gelegenheit und Anlass, sich mit diesem
Rechtsverständnis auseinanderzusetzen. Es entschied, dass für eine derartige
Differenzierung zwischen gelernten und ungelernten Versicherten keine
rechtliche Grundlage besteht (einlässlich: Urteil T. vom 30. September 2004,
I 73/04, Erw. 4, auch zum Folgenden; ferner Urteile B. vom 23. November 2004,
I 360/04, Erw. 3, und J. vom 14. Oktober 2004, I 168/04, Erw. 2.3). Zwar geht
es nicht an, den Anspruch auf Umschulungsmassnahmen - gleichsam im Sinne
einer Momentaufnahme - ausschliesslich vom Ergebnis eines auf den aktuellen
Zeitpunkt begrenzten Einkommensvergleichs, ohne Rücksicht auf den
qualitativen Ausbildungsstand einerseits und die damit zusammenhängende
künftige Entwicklung der erwerblichen Möglichkeiten anderseits, abhängen zu
lassen. Vielmehr ist im Rahmen der vorzunehmenden Prognose unter
Berücksichtigung der gesamten Umstände nicht nur der Gesichtspunkt der
Verdienstmöglichkeit, sondern der für die künftige Einkommensentwicklung
ebenfalls bedeutsame qualitative Stellenwert der beiden zu vergleichenden
Berufe mit zu berücksichtigen. Die annähernde Gleichwertigkeit der
Erwerbsmöglichkeit in der alten und neuen Tätigkeit dürfte auf weite Sicht
nur dann zu verwirklichen sein, wenn auch die beiden Ausbildungen einen
einigermassen vergleichbaren Wert aufweisen (BGE 124 V 111 f. Erw. 3b mit
Hinweisen). Dies rechtfertigt aber entgegen dem kantonalen Gericht nicht, den
Anspruch auf Umschulung bei ungelernten Versicherten generell von einer
höheren Mindestinvalidität als bei ausgebildeten Versicherten abhängig zu
machen. Entsprechend hat der Verordnungsgeber unter den grundsätzlich
Umschulungsberechtigten neben den beruflich Ausgebildeten ausdrücklich und
ohne zusätzliche Voraussetzungen daran zu knüpfen auch diejenigen
Versicherten aufgeführt, welche ohne vorgängige berufliche Ausbildung eine
Erwerbstätigkeit aufgenommen haben (Art. 6 Abs. 1 IVV). Hier wie dort ist
somit bei Erfüllung der gesundheitsbedingten Mindesterwerbseinbusse von rund
20 % der Umschulungsanspruch grundsätzlich gegeben, und es bleibt im
Einzelfall die Gleichwertigkeit der in Frage kommenden
Umschulungsmöglichkeiten nach den dargelegten Grundsätzen zu prüfen. Dem
Verhältnismässigkeitsprinzip - als Leitmotiv des Gleichwertigkeitsgedankens -
wird dabei Rechnung getragen, indem eine Umschulung, welche zu einem
wesentlich höheren Einkommen als dem mit der bisherigen (Hilfs-)Tätigkeit
erzielten führen würde, ausser Betracht fällt. Zudem muss der
voraussichtliche Erfolg einer Eingliederungsmassnahme in einem vernünftigen
Verhältnis zu ihren Kosten stehen (BGE 121 V 260 Erw. 2c mit Hinweisen),
womit auch unangemessen teure Ausbildungen vom Anspruch ausgeschlossen sind.

5.
Die IV-Stelle ist im Einspracheentscheid vom 27. November 2003 und im
vorinstanzlichen Verfahren von einem invaliditätsbedingten Minderverdienst
von rund 20 % ausgegangen. Der im angefochtenen Entscheid vorgenommene
Einkommensvergleich führt selbst unter Annahme der für den Versicherten
jeweils ungünstigeren Berechnungsfaktoren (namentlich kein leidensbedingter
Abzug von dem anhand von Tabellenlöhnen ermittelten trotz Invalidität
zumutbarerweise erzielbaren Einkommen [Invalideneinkommen]) ebenfalls zu
einem Invaliditätsgrad von knapp 20 %. Der nach der Rechtsprechung
erforderliche Mindestinvaliditätsgrad ist damit gegeben. Es bleibt, die
notwendigen Abklärungen über geeignete (vgl. Erw. 3.2 und 4.2 hievor)
Umschulungsmöglichkeiten zu treffen und über den Leistungsanspruch neu zu
befinden. Sofern für die Beurteilung der Gleichwertigkeit erforderlich, wird
auch zu prüfen sein, ob das ohne Invalidität mutmasslich erzielte Einkommen
(Valideneinkommen), wie vom Beschwerdeführer geltend gemacht, höher
anzusetzen ist als der von der Vorinstanz dem Einkommensvergleich zugrunde
gelegte Betrag. Die Akten geben hiezu nicht verlässlichen Aufschluss.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 29. April 2004
und der Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 27.
November 2003 aufgehoben und die Sache wird an die IV-Stelle des Kantons St.
Gallen zurückgewiesen, damit sie nach erfolgter Abklärung im Sinne der
Erwägungen über den Anspruch auf Umschulung neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen hat dem Beschwerdeführer für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ostschweizerische AHV-Ausgleichskasse für Handel und Industrie
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 31. Januar 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: