Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 57/2004
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I 57/04

Urteil vom 3. Juni 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Grunder

A.________, 1957, Beschwerdeführer, vertreten durch den Rechtsdienst für
Behinderte, Bürglistrasse 11, 8002 Zürich,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

(Entscheid vom 19. Dezember 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1957 geborene, bei der F.________ AG seit 23. April 1987 als Bauarbeiter
angestellte A.________ litt ab Sommer 1999 zunehmend an Schmerzen in der
Lendenwirbelsäule mit Ausstrahlung in das rechte Bein sowie Beschwerden im
rechten Vorderarm, weswegen er ärztlich bescheinigt ab 10. März 2000 nicht
mehr arbeitsfähig war. Am 26. Oktober 2000 meldete er sich bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Einholung diverserer
medizinischer Berichte (des Dr. med. K.________, Chiropraktor, vom 2. Mai und
10. Mai 2000; des Dr. med. J.________, Spezialarzt FMH für Physikalische
Medizin und Rehabilitation, speziell Rheumaerkrankungen, vom 14. Juni 2000;
des Dr. med. M.________, FMH Radiologie, vom 17. April 2000, der Höhenklinik
X.________, wo sich der Versicherte vom 22. August bis 12. September 2000 zur
polydisziplinären Rehabilitation aufhielt, vom 12. September 2000; des Dr.
med. G.________, FMH Neurologie, vom 21. Dezember 2000; des Hausarztes, Dr.
med. B.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 16. Januar 2001) veranlasste die
IV-Stelle Luzern eine Abklärung in der BEFAS, Berufliche Abklärungsstelle,
welche am 18. September und vom 15. Oktober bis 9. November 2001 stattfand
(Bericht der BEFAS vom 26. November 2001). Daraufhin wurde eine
psychiatrische (Gutachten des Instituts für Medizinische Begutachtung [IMB],
Dr. med. T.________, Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 11.
Juni 2002) sowie eine somatische Expertise (des IMB, Dr. med. W.________,
Facharzt FMH für Chirurgie, vom 19. April 2002) angeordnet. Der
psychiatrische Experte kam zum Schluss, dass sich keine psychische Störung
von Krankheitswert, insbesondere keine somatoforme Schmerzstörung,  finden
lasse. Dem Exploranden sei die nötige Willensanspannung zumutbar, die
geklagten Schmerzen aus eigener Kraft zu überwinden, da sie ohne
gesundheitliches Risiko einer objektiven Verschlimmerung möglich sei. Der
Versicherte sei vollschichtig arbeitsfähig. Dr. med. W.________
diagnostizierte eine Bandscheibenprotrusion L5/S1 rechts ohne neurologische
Auswirkungen (ICD-10 M51.27), bildgebend nachgewiesen seit 17. April 2000,
und hielt den Versicherten für weniger bandscheibenbelastende Arbeiten (wie
Parkplatzwächter, Tankstellenwart, Lagerist, Zustellchauffeur) für
vollständig arbeitsfähig. Die möglicherweise bestehende leichte Form einer
Epicondylopathia humeroscapularis (ICD-10 M77.0) an beiden Händen sei
grundsätzlich heilbar. Das Fortbestehen einer entsprechenden Symptomatik sei
angesichts der physischen Untätigkeit sowie fehlender neurologischer und
klinischer Befunde allerdings nicht plausibel. Nach durchgeführtem
Vorbescheidverfahren verneinte die IV-Stelle einen Anspruch auf berufliche
Massnahmen sowie Invalidenrente bei einem ermittelten Invaliditätsgrad von 14
% (zwei Verfügungen vom 10. Oktober 2002).

B.
Hiegegen liess A.________ Beschwerde einreichen und beantragen, es sei ihm
eine Invalidenrente bzw. gegebenenfalls berufliche Massnahmen zuzusprechen.
Gleichzeitig wurde der Bericht des Prof. Dr. med. S.________, FMH
Physikalische Medizin und Rehabilitation, vom 15. April 2003 aufgelegt. Mit
Entscheid vom 19. Dezember 2003 wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern die Beschwerde ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt A.________ das Rechtsbegehren
stellen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei ihm eine ganze
Invalidenrente zuzusprechen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 ist
nicht anwendbar, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der
streitigen Verfügung (hier: 10. Oktober 2002) eingetretene Rechts- und
Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt
werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2).
1.2 Im kantonalen Entscheid vom 19. Oktober 2003 werden die Bestimmungen über
den Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG), den Umfang des
Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG in den bis Ende 2003
[In-Kraft-Treten der Änderung des IVG vom 21. März 2003 am 1. Januar 2004]
gültig gewesenen Fassungen), die Ermittlung des Invaliditätsgrades bei
Erwerbstätigen nach der Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG)
sowie die Praxis zum Beweiswert ärztlicher Gutachten und Berichte (BGE 125 V
352 Erw. 3 mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.
Streitig und zu prüfen ist einzig das Ausmass des Gesundheitsschadens und die
damit einhergehenden Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit.

2.1 Mit dem kantonalen Gericht, welches die umfangreichen medizinischen
Unterlagen im angefochtenen Entscheid einer eingehenden Würdigung unterzogen
hat (worauf verwiesen wird), ist gestützt auf die Befunde und medizinische
Beurteilung des Dr. med. W.________ (Gutachten vom 19. Dezember 2002) und des
Dr. med. T.________ (Expertise vom 11. Juni 2002) anzunehmen, dass der
Beschwerdeführer in einer die Bandscheiben weniger belastenden Arbeit bei
einer Gewichtshebelimite von 25 kg aus somatischer und psychiatrischer Sicht
vollständig arbeitsfähig ist. Das Gutachten des Dr. med. W.________ erfüllt
die nach der Rechtsprechung geltenden Anforderungen an den Beweiswert
ärztlicher Berichte (BGE 125 V 352 Erw. 3a, 122 V 160 Erw. 1c; AHI 2001 S.
112 ff.). Es beruht auf umfassenden Abklärungen, insbesondere neurologischen
(Bericht des Dr. med. G.________ vom 21. Dezember 2000), rheumatologischen
(Bericht des Dr. med. J.________ vom 14. Juni 2000) und radiologischen
(magnetic resonance imaging [MRI] des Dr. med. M.________ vom 17. April 2000)
Untersuchungen sowie einer eigenen klinischen Exploration, berücksichtigt die
geklagten Beschwerden, leuchtet in der Beurteilung der medizinischen
Zusammhänge und der medizinischen Situation ein und enthält begründete
Schlussfolgerungen. Der Einwand in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, die
Expertise hätte von einem Neurologen oder Rheumatologen erstellt werden
sollen, ist daher nicht stichhaltig.

2.2 In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird im Wesentlichen vorgebracht,
abweichend von der Schlussfolgerung des Dr. med. W.________ hielten mehrere
andere Ärzte den Versicherten auch in einer Verweisungstätigkeit für
vollständig arbeitsunfähig. Auf Grund der medizinischen Unterlagen steht
fest, dass als somatisches Substrat einzig eine kleine rechtsseitige
Bandscheibenverwölbung auf der untersten Lendenwirbelsäulen-Etage
(lumbosakrale Diskusprotrusion; ICD-10 M51.27) gefunden werden konnte, mit
welcher die geklagte Schmerzsymptomatik medizinisch nicht hinreichend zu
erklären ist. Dr. med. G.________ (Bericht vom 21. Dezember 2000) konnte
keine ungewöhnlichen neurologischen Parameter finden. Seiner Auffassung nach
lag einzig ein ausgeprägtes Bindegewebs-Schmerz-Syndrom vor, ähnlich einem
Fibrositis-Syndrom mit massiver Schmerzhaftigkeit und entsprechender
Minderbelastbarkeit, das als traumatisch ausgelöstes, genetisch bedingtes
Leiden anzusehen sei. Der Hausarzt Dr. med. B.________ (Bericht vom 16.
Januar 2001) bezeichnete die Symptomatik als Konvergenzdysästhesien und
Kettentendinosen bei massiv gesteigerter Überempfindlichkeit. Prof. Dr. med.
S.________ kam zum Ergebnis, es bestehe eine generalisierte Myotendinose,
wobei im Mittelpunkt der schwere, hauptsächlich ligamentärbedingte
Dysfunktionszustand der distalen Hälfte der Lendenwirbelsäule stehe (Bericht
vom 15. April 2003). Diese Ärzte nahmen eine vollständige Arbeitsunfähigkeit
an.

2.3 Nach der Rechtsprechung genügen in Anbetracht der sich mit Bezug auf
Schmerzen naturgemäss ergebenden Beweisschwierigkeiten allein die subjektiven
Schmerzangaben der versicherten Person für die Begründung einer Invalidität
nicht; vielmehr muss im Rahmen der sozialversicherungsrechtlichen
Leistungsprüfung verlangt werden, dass die Schmerzangaben durch damit
korrelierende, fachärztlich schlüssig feststellbare Befunde hinreichend
erklärbar sind, andernfalls sich eine rechtsgleiche Beurteilung der
Rentenansprüche nicht gewährleisten liesse (im zur Publikation in BGE 130
bestimmtes Urteil N. vom 12. März 2004, I 683/03, Erw. 2.2.2 mit Hinweisen).
Die (rein) psychiatrische Erklärbarkeit der Schmerzsymptomatik allein - bei
weitgehendem Fehlen eines somatischen Befundes - genügt für eine
sozialversicherungsrechtliche Leistungsbegründung nicht. Es obliegt der
(begutachtenden) Fachperson der Psychiatrie im Rahmen der - naturgemäss mit
Ermessenszügen behafteten - ärztlichen Stellungnahme zur Arbeits(un)fähigkeit
und den Darlegungen zu den einer versicherten Person aus medizinischer Sicht
noch zumutbaren Arbeitsfähigkeit die Aufgabe, durch die zur Verfügung
stehenden diagnostischen Möglichkeiten fachkundiger Exploration der
Verwaltung (und im Streitfall dem Gericht) aufzuzeigen, ob und inwiefern eine
versicherte Person über psychische Ressourcen verfügt, die es ihr erlauben,
mit ihren Schmerzen umzugehen. Entscheidend ist, ob die betroffene Person,
von ihrer psychischen Verfassung her besehen, objektiv an sich die
Möglichkeit hat, trotz ihrer subjektiv erlebten Schmerzen einer Arbeit
nachzugehen (zur Publikation in BGE 130 V bestimmtes Urteil N. vom 12. März
2004, I 683/03, Erw. 2.2.4 mit Hinweisen).

2.4 Keiner der Ärzte, auf welche sich der Beschwerdeführer beruft, gibt an,
mit welchen diagnostischen Methoden sich das von ihnen beschriebene (nicht
entzündliche) weichteilrheumatische Geschehen medizinisch objektiv
feststellen lässt, bzw. welche objektiv erhebbaren Befunde, wie sie etwa zur
Feststellung eines Fibromyalgiesyndroms erforderlich sind (vgl. Pschyrembel,
Klinisches Wörterbuch, 259. Aufl., S. 521), zur Diagnosestellung vorliegen
müssen. Prof. Dr. med. S.________ erhebt (mit Ausnahme des symmetrischen
Nacken- und Kopfschmerzes) weitgehend dieselben Befunde wie vor ihm schon der
Rheumatologe Dr. med. J.________ (Bericht vom 14. Juni 2000), der aber daraus
nicht die Diagnose eines Weichteilrheumatismus ableitete, sondern eine
Symptomausweitung vermutetete. Jedenfalls sind die Diagnose eines
weichteilrheumatischen Geschehens und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen
(vollständige Arbeitsunfähigkeit) nicht ohne weiteres nachvollziehbar.
Namentlich setzen sich die Ärzte (Dres. med. G.________, B.________ und Prof.
Dr. med. S.________) in ihren Berichten weder mit der anamnestisch auf Grund
der medizinischen Unterlagen und dem Bericht der BEFAS vom 26. November 2001
feststellbaren, in den zwei Gutachten der Dres. med. W.________ und
T.________ bestätigten Symptomausweitung auseinander, noch mit dem Umstand,
dass sämtliche erfolgten therapeutischen Massnahmen fehlschlugen. Im Lichte
der bescheidenen somatischen Befunde und der jedenfalls für einen
medizinischen Laien nur schwer nachvollziehbaren Diagnose eines
weichteilrheumatischen Geschehens, leuchtet nicht ein, weshalb dem
Beschwerdeführer angesichts seiner vorhandenen psychischen Ressourcen (vgl.
Gutachten des Dr. med. T.________ vom 11. Juni 2002) eine (wenigstens
partielle) Schmerzüberwindung objektiv nicht möglich und zumutbar wäre.
Gesamthaft gesehen ist nicht zu beanstanden, dass Vorinstanz und Verwaltung
den Berichten der Dres. med. G.________, B.________ und Prof. Dr. med.
S.________ keinen ausschlaggebenden Beweiswert beigemessen und stattdessen
hinsichtlich des für die richterliche Beurteilung massgebenden Sachverhalts
bei Erlass der Verwaltungsverfügung (BGE 121 V 366 Erw. 1b) auf die Gutachten
des Dr. med. W.________ (vom 19. April 2002) und Dr. med. T.________ (vom 11.
Juni 2002) abgestellt haben. Eine seither eingetretene, sich möglicherweise
aus dem Bericht des Prof. Dr. med. S.________ vom 15. April 2003 ergebende,
mit Bezug auf den Rentenanspruch erhebliche Änderung des Invaliditätsgrades
hätte der Beschwerdeführer im Rahmen einer Neuanmeldung nach Massgabe von
Art. 87 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 3 IVV geltend zu machen. Soweit
schliesslich vorgebracht wird, es sei von der Beurteilung der BEFAS (Bericht
vom 26. November 2001) auszugehen, wonach bei einer Arbeitsfähigkeit von 75 %
bis 80 % eine Leistung von 60 % zumutbar sei, ist festzustellen, dass eine
objektive Erfassung des Leistungspotenzials in den während des
Abklärungsaufenthalts erprobten Tätigkeiten wegen mangelndem Interesse und
Motivation nicht möglich war. Es kann daher keine Rede davon sein, dass die
Einschätzung der BEFAS zum Leistungsvermögen aussagekräftiger sei als die
Beurteilung der medizinischen Gutachter.

3.
Hinsichtlich der Invaliditätsbemessung hat das kantonale Gericht den von der
IV-Stelle ermittelten Invaliditätsgrad von 14 % nach einlässlicher
Überprüfung im Ergebnis bestätigt. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
werden hiezu keine Einwände vorgebracht. Es wird auf die nicht zu
beanstandenden Erwägungen im angefochtenen Entscheid, welchen nichts
beizufügen ist, verwiesen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse Luzern und dem
Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 3. Juni 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: