Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 578/2004
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I 578/04

Urteil vom 28. Dezember 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiberin Durizzo

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

K.________, 1950, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Pius
Buchmann, Sonnenplatz 1, 6020 Emmenbrücke

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

(Entscheid vom 13. Juli 2004)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 29. Januar 2003 lehnte die IV-Stelle Luzern den Anspruch
von K.________ auf eine Invalidenrente ab und bestätigte ihre Auffassung mit
Einspracheentscheid vom 18. Juni 2003. Zur Begründung führte sie an, dass der
Versicherte in seinem angestammten Beruf als Schlosser trotz Rückenproblemen
zu 80 % arbeitsfähig und eine leichte, wechselbelastende Arbeit ohne Tragen
von Lasten über 25 kg ihm sogar zu 100 % zumutbar sei.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern mit Entscheid vom 13. Juli 2004 in dem Sinne gut, als es den
Einspracheentscheid aufhob und die Sache an die IV-Stelle zu weiteren
medizinischen Abklärungen zurückwies.

C.
Die IV-Stelle Luzern führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt die
Aufhebung des angefochtenen Entscheides.

K. ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
und ersucht um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege; das Bundesamt für
Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze zu den
Begriffen der Arbeits- und der Erwerbsunfähigkeit (Art. 6 und 7 ATSG) und der
Invalidität (Art. 8 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG) sowie zum
Beweiswert von medizinischen Gutachten (BGE 125 V 352 Erw. 3, 122 V 160 Erw.
1c mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.
Streitig ist, ob der Versicherte an einer invalidisierenden somatoformen
Schmerzstörung leidet.

2.1 Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit können in gleicher Weise
wie körperliche Gesundheitsschäden eine Invalidität im Sinne von Art. 4 Abs.
1 IVG in Verbindung mit Art. 8 ATSG bewirken. Nicht als Folgen eines
psychischen Gesundheitsschadens und damit invalidenversicherungsrechtlich
nicht als relevant gelten Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit, welche die
versicherte Person bei Aufbietung allen guten Willens, die verbleibende
Leistungsfähigkeit zu verwerten, abwenden könnte; das Mass des Forderbaren
wird dabei weitgehend objektiv bestimmt (BGE 102 V 165; AHI 2001 S. 228 Erw.
2b mit Hinweisen; vgl. auch BGE 127 V 298 Erw. 4c in fine).

Die Annahme eines psychischen Gesundheitsschadens, so auch einer anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung, setzt zunächst eine fachärztlich (psychiatrisch)
gestellte Diagnose nach einem wissenschaftlich anerkannten
Klassifikationssystem voraus (BGE 130 V 398 ff. Erw. 5.3 und Erw. 6). Wie
jede andere psychische Beeinträchtigung begründet indes auch eine
diagnostizierte anhaltende somatoforme Schmerzstörung als solche noch keine
Invalidität. Vielmehr besteht eine Vermutung, dass die somatoforme
Schmerzstörung oder ihre Folgen mit einer zumutbaren Willensanstrengung
überwindbar sind. Bestimmte Umstände, welche die Schmerzbewältigung intensiv
und konstant behindern, können den Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess
unzumutbar machen, weil die versicherte Person alsdann nicht über die für den
Umgang mit den Schmerzen notwendigen Ressourcen verfügt. Ob ein solcher
Ausnahmefall vorliegt, entscheidet sich im Einzelfall anhand verschiedener
Kriterien. Im Vordergrund steht die Feststellung einer psychischen
Komorbidität von erheblicher Schwere, Ausprägung und Dauer. Massgebend sein
können auch weitere Faktoren, so: chronische körperliche Begleiterkrankungen;
ein mehrjähriger, chronifizierter Krankheitsverlauf mit unveränderter oder
progredienter Symptomatik ohne längerdauernde Rückbildung; ein sozialer
Rückzug in allen Belangen des Lebens; ein verfestigter, therapeutisch nicht
mehr beeinflussbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten,
psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer Krankheitsgewinn;
"Flucht in die Krankheit"); das Scheitern einer konsequent durchgeführten
ambulanten oder stationären Behandlung (auch mit unterschiedlichem
therapeutischem Ansatz) trotz kooperativer Haltung der versicherten Person
(BGE 130 V 352). Je mehr dieser Kriterien zutreffen und je ausgeprägter sich
die entsprechenden Befunde darstellen, desto eher sind - ausnahmsweise - die
Voraussetzungen für eine zumutbare Willensanstrengung zu verneinen
(Meyer-Blaser, Der Rechtsbegriff der Arbeitsunfähigkeit und seine Bedeutung
in der Sozialversicherung, in: Schmerz und Arbeitsunfähigkeit, St. Gallen
2003, S. 77).
Beruht die Leistungseinschränkung auf Aggravation oder einer ähnlichen
Konstellation, liegt regelmässig keine versicherte Gesundheitsschädigung vor
(siehe Meyer-Blaser, a.a.O., S. 92 f.). Eine solche Ausgangslage ist etwa
gegeben, wenn: eine erhebliche Diskrepanz zwischen den geschilderten
Schmerzen und dem gezeigten Verhalten oder der Anamnese besteht; intensive
Schmerzen angegeben werden, deren Charakterisierung jedoch vage bleibt; keine
medizinische Behandlung und Therapie in Anspruch genommen wird; demonstrativ
vorgetragene Klagen auf den Sachverständigen unglaubwürdig wirken; schwere
Einschränkungen im Alltag behauptet werden, das psychosoziale Umfeld jedoch
weitgehend intakt ist (siehe Kopp/Willi/Klipstein, Im Graubereich zwischen
Körper, Psyche und sozialen Schwierigkeiten, in: Schweizerische Medizinische
Wochenschrift 1997 S. 1434, mit Hinweis auf eine grundlegende Untersuchung
von Winckler und Foerster; zum Ganzen: zur Publikation in der Amtlichen
Sammlung vorgesehene Erw. 1.2 des Urteils J. vom 16. Dezember 2004, I
770/03).

2.2 Die Vorinstanz hat erwogen, in den medizinischen Unterlagen werde
verschiedentlich auf eine Schmerzstörung mit Krankheitswert hingewiesen, so
durch Frau Dr. med. W.________, Physikalische Medizin FMH (Bericht vom 17.
Dezember 2001), Dr. med. G.________, Neurochirurgie FMH (Bericht vom 24.
Januar 2002) und den Hausarzt Dr. med. C.________ (Bericht vom 10. April
2002). Die Ärzte der Klinik X.________ hätten keine objektivierbaren Befunde
erheben können, die die unveränderte Schmerzsituation des Versicherten aus
rheumatologischer Sicht hätten erklären können (Austrittsbericht vom 25.
November 2002). Auf eine somatoforme Schmerzstörung deuteten schliesslich
auch die allerdings erst nach Erlass des Einspracheentscheids ergangenen
Ausführungen in den Berichten des Neurologen Dr. med. A.________ (Bericht vom
8. September 2003) sowie des Spitals Y.________ (Bericht vom 2. Dezember
2003) hin. Demgegenüber habe Dr. med. T.________, Psychiatrie und
Psychotherapie FMH, vom Institut für medizinische Begutachtung (IMB) keine
psychiatrischen Symptome oder Befunde erheben können (Gutachten vom 3.
Dezember 2002). Diese Feststellung sei unter Berücksichtigung der Berichte
der übrigen Ärzte aus diversen Fachbereichen nicht nachvollziehbar. Dr. med.
T.________ hätte zumindest in der einen oder anderen Form die Diagnose einer
Schmerzstörung feststellen müssen.

2.3 Dem kann nicht gefolgt werden. So haben zunächst einmal weder die Ärzte
der Klinik X.________ noch des Spitals Y.________ oder Dr. med. A.________ in
den genannten Berichten die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung
gestellt. Wie die Beschwerde führende IV-Stelle zutreffend rügt, berichtet
Dr. med. G.________, eine Schmerzverarbeitungsstörung trete "zunehmend in den
Vordergrund", Frau Dr. med. W.________ führt aus, dass der Versicherte
"wahrscheinlich" eine somatoforme Schmerzstörung entwickelt habe. Begründet
werden diese Auffassungen nicht. Allein deshalb auf das Vorliegen einer
somatoformen Schmerzstörung zu schliessen, weil die geklagten Beschwerden
nicht mit objektiven Befunden erklärt werden können, geht jedoch nicht an.
Des Weiteren setzt die Annahme einer somatoformen Schmerzstörung nach der in
Erwägung 2.1 ausgeführten Rechtsprechung eine psychiatrisch gestellte
Diagnose voraus. Entgegen den vorinstanzlichen Ausführungen hat Dr. med.
T.________ die zunächst vom Hausarzt Dr. med. C.________ gestellte Diagnose
diskutiert, konnte sie jedoch auf Grund der "absolut unauffälligen"
psychopathologischen Symptomatik nicht bestätigen.

Das kantonale Gericht hat erwogen, die Befunderhebung sei äussert rudimentär
und schemenhaft. Unter fachrichterlicher Mitwirkung sei festzustellen, dass
das Gutachten des Dr. med. T.________ den Grundsätzen einer
wissenschaftlichen Beurteilung nicht zu genügen vermöge. Diese Rüge ist
unbegründet. Dr. med. T.________ stellt fest, dass psychische Symptome beim
Versicherten nicht hätten gefunden werden können, setzt sich sodann mit der
Diagnose des Hausarztes auseinander und begründet, weshalb kein psychisches
Leiden mit Krankheitswert vorliege. Damit ist seine Einschätzung
nachvollziehbar und genügt den für den Beweiswert von Arztberichten
massgebenden Anforderungen (BGE 125 V 352 E 3a, 122 V 160 f. Erw. 1c). Nicht
stichhaltig ist auch der Einwand des Beschwerdegegners, die Begutachtung
hätte durch einen Dolmetscher unterstützt werden müssen, nachdem sich aus
seinem Lebenslauf und aus den medizinischen Unterlagen ergibt, dass eine
Verständigung auf Deutsch gut möglich ist. Damit steht fest, dass im
Zeitpunkt des Einspracheentscheides vom 18. Juni 2003, welcher für die
richterliche Überprüfungsbefugnis massgebend ist (BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 121 V
366 Erw. 1b), kein invalidisierendes psychisches Leiden vorlag.

3.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Eine Parteientschädigung zugunsten
der obsiegenden Beschwerde führenden IV-Stelle wird gemäss Art. 159 Abs. 2 OG
nicht zugesprochen. Da die Bedürftigkeit des Beschwerdegegners aktenkundig
ist und die Vertretung durch einen Anwalt geboten war, kann die
unentgeltliche Verbeiständung gewährt werden (Art. 152 Abs. 2 OG). Er wird
jedoch darauf hingewiesen, dass er gemäss Art. 152 Abs. 3 OG der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn er später dazu im Stande
ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 13. Juli 2004 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt Pius
Buchmann für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus
der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse Luzern und dem
Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 28. Dezember 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: