Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 576/2004
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I 576/04
I 581/04

Urteil vom 28. April 2005
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Kernen;
Gerichtsschreiber Hadorn

I 576/04
IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdeführerin,

gegen

P.________, 1949, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Andreas
Hebeisen, Löwenstrasse 12, 8280 Kreuzlingen,

und

I 581/04
P.________, 1949, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Andreas
Hebeisen, Löwenstrasse 12, 8280 Kreuzlingen,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin

AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden

(Entscheid vom 6. Juli 2004)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 19. August 2003 lehnte die IV-Stelle des Kantons Thurgau
das Gesuch von P.________ (geb. 1949) um Ausrichtung einer IV-Rente ab. Diese
Verfügung bestätigte die IV-Stelle mit Einspracheentscheid vom 11. Februar
2004.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons
Thurgau mit Entscheid vom 6. Juli 2004 in dem Sinne gut, dass sie die Sache
zu näheren Abklärungen und neuer Verfügung an die IV-Stelle zurückwies.

C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der
kantonale Entscheid sei aufzuheben.

P. ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen,
während das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

D.
P.________ lässt ihrerseits ebenfalls Verwaltungsgerichtsbeschwerde
einreichen und beantragen, der kantonale Entscheid sei aufzuheben, und die
IV-Stelle habe neben den von der Rekurskommission angeordneten Abklärungen
zusätzliche weitere Untersuchungen vorzunehmen. Eventuell seien die
gesetzlichen Leistungen, insbesondere eine ganze IV-Rente ab 1. Juli 2002
zuzusprechen.

Die IV-Stelle schliesst auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
soweit die Aufhebung des kantonalen Entscheides verlangt wird, und auf
Abweisung hinsichtlich der darüber hinaus gehenden Begehren.

Das BSV verzichtet wiederum auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Da beiden Verwaltungsgerichtsbeschwerden derselbe Sachverhalt zu Grunde
liegt, sich die gleichen Rechtsfragen stellen und die Rechtsmittel den
nämlichen vorinstanzlichen Entscheid betreffen, rechtfertigt es sich, die
beiden Verfahren zu vereinigen und in einem einzigen Urteil zu erledigen (BGE
128 V 126 Erw.1 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 128 V 194 Erw. 1).

2.
Die kantonale Rekurskommission hat die gesetzlichen Bestimmungen zu den
Begriffen der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG), der Arbeits- (Art. 6 ATSG)
und Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG), zum Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28
Abs. 1 und 1bis IVG in der bis Ende 2003 gültig gewesenen bzw. Art. 28 Abs. 1
IVG in der ab 1. Januar 2004 geltenden Fassung), zur Ermittlung des
Invaliditätsgrades nach der Methode des Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG;
vgl. auch altArt. 28 Abs. 2 IVG) sowie die Rechtsprechung zur Bedeutung
ärztlicher Auskünfte im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 Erw.
4) und zum Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 125 V 146
Erw. 2c) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
Streitig und zu prüfen ist, ob der Sachverhalt ausreichend abgeklärt ist, und
bejahendenfalls, ob Anspruch auf eine IV-Rente besteht.

3.1 Die Versicherte wurde unter anderem in der Medas X.________
polydisziplinär untersucht. Das entsprechende Gutachten vom 15. Juli 1999
diagnostiziert eine paroxysmale, teilweise ekzematoide Gesichtsirritation bei
atopischer Disposition und epikutanen Sensibilisierungen auf
Quecksilberverbindungen, Glutaryldehyd, Nickel und Diaminophenylhydrochlorid,
ein Asthma bronchiale mit schwerer bronchialer Hyperreagibilität sowie eine
saisonale Rhinokonjunktivitis mit Sensibilisierung auf Beifuss-, Birken-,
Erlen-, Eschen- und Haselpollen. In der bisherigen Tätigkeit (Etikettieren,
Umgang mit Stoffen, Etiketten, Drucksachen usw.) sei wegen der Allergien
keine Arbeitsfähigkeit mehr gegeben. Ferner sei eine körperlich mittelschwere
oder schwere Arbeit nicht zumutbar. Als Atopikerin müsse die Versicherte
hautirritierende Substanzen und Exposition gegenüber Dämpfen, Stäuben und
Räuchen vermeiden. Bekannte Kontaktallergene (Nickel, Glutaryldehyd,
Diaminophenylhydrochlorid und Quecksilberverbindungen) müssten gemieden
werden. Es dürfe keine Kontakte zu Druckerzeugnissen wie Zeitungen, Journalen
und dergleichen geben, ebenso keine längerdauernden Expositionen unter
Halogenleuchten und UV-Licht. In Tätigkeiten, welche diesen Anforderungen
entsprächen, bestehe eine Arbeitsfähigkeit von 75 %, wobei die
pneumologischen Befunde limitierend wirkten.

3.2 In der Folge durchlief die Versicherte im Januar 2000 eine berufliche
Abklärung in der Abklärungs- und Ausbildungsstätte Z.________. Gemäss
Schlussbericht dieser Institution vom 7. März 2000 erschien eine Tätigkeit in
einem büroverwandten Bereich am naheliegendsten. Als Beispiele erwähnt der
Bericht die Arbeit an einem Schalter für Kundendienst oder in einer
Telefonzentrale. Die vom Medas-Gutachten genannte Restarbeitsfähigkeit von 75
% könne realisiert werden, am besten bei ganztägiger Beschäftigung und etwas
verlangsamtem Arbeitstempo. Zugleich empfahl die Abklärungsstätte, eine
Teilzeit-Handelsschule zu besuchen. Die Invalidenversicherung bewilligte eine
entsprechende Ausbildung, und am 25. April 2000 begann die Versicherte eine
bis 31. Januar 2002 dauernde Umschulung an der Schule Y.________. Während
dieser Ausbildung trat sie am 1. August 2001 eine befristete
Praktikantenstelle im Bereich Büro/Verkauf bei der Firma E.________ AG an.
Zunächst bestand die Versicherte die Abschlussprüfung nicht, weshalb die
IV-Stelle die Umschulung um fünf Monate verlängerte. Dabei holte sie die
Prüfung erfolgreich nach. Anschliessend meldete sie sich beim Regionalen
Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) Kreuzlingen an, um sich für eine Arbeit mit
einem Pensum von 80 % zur Verfügung zu stellen. Die Verwaltung erachtete die
Versicherte nunmehr als in rentenausschliessendem Ausmass arbeitsfähig,
weshalb sie einen Rentenanspruch mit Verfügung vom 19. August 2003 ablehnte.

3.3 Im Bericht vom 1. Februar 2003 hielt der Hausarzt, Dr. med. S.________,
Innere Medizin FMH, fest, dass die Situation der Versicherten nicht einfach
zu beurteilen sei. Insgesamt erachte er sie als zu 75 % arbeitsfähig. Erst in
einem späteren Kurzbericht vom 4. Oktober 2003 geht Dr. S.________ davon aus,
dass auch im Bürobereich keine Arbeitsfähigkeit mehr vorhanden sei.

3.4 Die Vorinstanz erachtete gestützt auf diese Akten eine Arbeitsfähigkeit
von 75 % in einer angepassten Tätigkeit als gegeben. Sie wies die Akten
jedoch an die IV-Stelle zurück, da nicht feststehe, ob es auf dem
ausgeglichenen Arbeitsmarkt den Behinderungen der Versicherten angepasste
Stellen gebe oder sich ein Arbeitsplatz finde, der behindertengerecht
eingerichtet werden könne. Die IV-Stelle hält demgegenüber weitere
Abklärungen für überflüssig, da das Profil der geeigneten Stellen ausreichend
umschrieben sei. Ausserdem stehe es der Versicherten frei, gegebenenfalls
Arbeitsvermittlung durch die IV-Stelle zu beantragen. Die Versicherte
wiederum macht geltend, es seien neue medizinische Abklärungen bezüglich der
Allergien notwendig, da sich der Zustand verschlimmert habe. Allenfalls sei
direkt eine ganze IV-Rente zuzusprechen.

3.5 Angesichts der übereinstimmenden Angaben der Medas, der Abklärungsstelle
Z.________ und von Dr. S.________ im Bericht vom 1. Februar 2003 ist davon
auszugehen, dass in angepassten Tätigkeiten eine Arbeitsfähigkeit von 75 %
besteht. Die Anforderungen, die auf Grund der Allergien an einen geeigneten
Arbeitsplatz gestellt werden müssen, sind in den medizinischen Akten
detailliert dargelegt. So werden Tätigkeiten in einer Telefonzentrale oder im
Bürobereich (mit entsprechenden Einschränkungen) als zumutbar genannt.
Gestützt auf die Angaben der Medas und der Abklärungsstelle hat die
Verwaltung denn auch eine Umschulung finanziert. Nach dem Bestehen der
Abschlussprüfung hat die Versicherte sich an das RAV gewendet, jedoch, soweit
ersichtlich, von der IV-Stelle keine Arbeitsvermittlung beantragt. Unter
solchen Umständen erscheint es nicht sinnvoll, die IV-Stelle gerichtlich zur
Abklärung zu verpflichten, ob geeignete oder behindertengerecht gestaltbare
Arbeitsplätze existieren. Die Arbeitsvermittlung war nicht Gegenstand des
hier streitigen Einspracheentscheides. Es steht der Versicherten, wie die
IV-Stelle zu Recht ausführt, frei, um derartige Leistungen zu ersuchen.
Ferner kann auf Grund der Akten keine ganze Rente zugesprochen werden. Der
Gesundheitszustand erscheint dabei als ausreichend abgeklärt, weshalb keine
weiteren Untersuchungen nötig sind. Die neuen Berichte von Dr. med.
S.________ und von Dr. med. B.________, Facharzt für Allgemeine Medizin,
vermögen daran nichts zu ändern. Soweit Dr. B.________ im Bericht vom 23.
September 2004 ohnehin eine Allergieabklärung veranlassen will, ist darauf
hinzuweisen, dass das Eidgenössische Versicherungsgericht auf Grund des
Sachverhaltes urteilt, welcher sich bis zum Zeitpunkt des
Einspracheentscheides (vorliegend 11. Februar 2004) ergeben hat (BGE 116 V
248 Erw. 1).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht.

1.
Die Fälle I 576/04 und I 581/04 werden vereinigt.

2.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde von P.________ wird abgewiesen.

3.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde der IV-Stelle des Kantons
Thurgau wird der Entscheid der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau
vom 6. Juli 2004 aufgehoben.

4.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons
Thurgau, der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 28. April 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: