Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 561/2004
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I 561/04

Urteil vom 23. März 2005
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiber Hadorn

R.________, 1985, Beschwerdeführer, vertreten durch Dr. med. S.________,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 20. Juli 2004)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 30. Oktober 2003 lehnte die IV-Stelle des Kantons Zürich
ein Gesuch von R.________ (geb. 1985) um medizinische Massnahmen ab. Diese
Verfügung bestätigte die IV-Stelle mit Einspracheentscheid vom 21. Januar
2004.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich mit Entscheid vom 20. Juli 2004 ab.

C.
R.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und die Zusprechung
medizinischer Massnahmen beantragen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Sozialversicherungsgericht hat die gesetzlichen Bestimmungen
zum Anspruch von Personen vor dem vollendeten 20. Altersjahr auf medizinische
Massnahmen (Art. 12 Abs. 1 IVG; Art. 5 Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 8
Abs. 2 ATSG) sowie die dazu ergangene Rechtsprechung (BGE 120 V 279 Erw. 3a,
AHI 2003 S. 104 Erw. 2, 2000 S. 64 Erw. 1) richtig dargelegt. Darauf wird
verwiesen.

2.
2.1 Laut den Akten leidet der Versicherte an einer Dysthymie, welche gemäss
dem Bericht von Dr. med. S.________, Kinder- und Jugendpsychiatrie FMH, vom
25. September 2003 erstmals am 15. April 2002 diagnostiziert worden sei. Die
intensive und fachgerechte Behandlung habe 15. August 2002 begonnen und müsse
dringend fortgesetzt werden. Seit dem Beginn dieser Behandlung zeige der
Versicherte eine gute Compliance. Er sei sehr zur Zusammenarbeit motiviert.
Ohne Behandlung drohe eine Invalidisierung, während die Therapie eine spätere
Eingliederung ins Erwerbsleben wesentlich verbessern werde. Es zeigten sich
bereits Fortschritte. Gleichzeitig ersuchte Dr. S.________ um
Kostengutsprache für die Therapie bis zum Erreichen des 20. Altersjahres,
d.h. August 2005.

In der Einsprache vom 24. November 2003 führt Dr. S.________ aus, der Zustand
habe sich verbessert. Die Weiterführung der Psychotherapie diene der
Erhaltung und weiteren Verbesserung des jetzt schon gebesserten Zustandes vor
allem im Hinblick auf die schulische und die daran anschliessende berufliche
Integration. Dieses anvisierte Ziel der sozialen und beruflichen Integration
des jetzt 18 Jahre alten Versicherten könne dank prognostisch günstiger
Faktoren mit grosser Wahrscheinlichkeit bis zum 20. Altersjahr erreicht
werden. In zwei Jahren werde sich die Therapie ohne negative Folgen für die
Berufsausbildung beenden lassen. Falls es nach Erreichen des erwähnten
Altersjahres erneut zu behandlungsbedürftigen Auswirkungen der Dysthymie
kommen sollte, bestehe mit grosser Wahrscheinlichkeit auch ohne Behandlung
keine Gefahr negativer Auswirkungen auf das Erwerbsleben mehr. Diese Prognose
lasse sich bereits heute genügend zuverlässig stellen. Sowohl retrospektiv
wie auch prospektiv liege keine Dauerbehandlung vor.

In der kantonalen Beschwerde vom 19. Februar 2004 führt Dr. S.________ aus,
die Behandlung diene nicht der Erhaltung eines stationären Zustandes, sondern
der beruflichen Integration mit deutlicher Verbesserung der Leistungen im
kognitiven und sozialen Bereich. Zudem bestätigt er die günstige Prognose und
die Begrenzung der Behandlungsdauer bis zum vollendeten 20. Altersjahr. Diese
Angaben wiederholt Dr. S.________ in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

2.2 Verwaltung und Vorinstanz verneinten den Anspruch auf medizinische
Massnahmen mit der Begründung, es lasse sich keine sichere Prognose stellen,
erwähne Dr. S.________ doch selbst die Möglichkeit, dass nach dem vollendeten
20. Altersjahr weitere Behandlungen erfolgen müssten. Gemäss der
medizinischen Fachliteratur sei eine Dysthymie zwar nicht zwangsläufig
chronisch, doch werde ihr besonders bei frühem Krankheitsbeginn keine
günstige Prognose gestellt. Vielmehr werde auf die ausgeprägte Tendenz zur
Chronifizierung hingewiesen. Es sei daher auch im vorliegenden Fall mit hoher
Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass eine kontinuierliche Behandlung nötig
sein werde, um einen stabilen Zustand zu erhalten.

2.3 Nach der Rechtsprechung fällt bei Versicherten vor dem 20. Altersjahr die
Übernahme von Psychotherapie als medizinischer Massnahme nicht schon deshalb
ausser Betracht, weil es um eine mehrere Jahre dauernde Behandlung geht. Von
der Invalidenversicherung nicht getragen wird eine solche Vorkehr hingegen,
wenn sie sich gegen eine psychische Krankheit richtet, welche nach heutiger
Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft ohne kontinuierliche Behandlung
nicht dauerhaft gebessert werden kann. Wie sich den Ausführungen des Dr. med.
S.________ entnehmen lässt, ist dies beim Beschwerdeführer nicht der Fall.
Gemäss den ärztlichen Berichten kann mit der Fortsetzung der Behandlung
verhindert werden, dass die Berufsbildung des Versicherten auf Grund der
bestehenden psychischen und sozialen Konflikte beeinträchtigt wird. Es ist
mit den bisherigen Massnahmen denn auch gelungen, eine stabile
Defektentwicklung zu verhindern. Unter diesen Umständen ist die für die
Übernahme einer Psychotherapie rechtsprechungsgemäss ausreichende
Voraussetzung, dass das psychische Leiden ohne die psychotherapeutische
Behandlung zu einem schwer korrigierbaren, die spätere Ausbildung und
Erwerbsfähigkeit erheblich behindernden oder gar verunmöglichenden stabilen
pathologischen Zustand führen würde, vorliegend erfüllt (Urteil M. vom 6. Mai
2003, I 16/03). In diesem Punkt unterscheidet sich der vorliegende Fall von
dem in AHI 2003 S. 103 publizierten Urteil, in welchem die Übernahme der
medizinischen Massnahme daran scheiterte, dass der Vorkehr kein überwiegender
Eingliederungscharakter zukam. Dies ist hingegen bei der hier streitigen
Psychotherapie der Fall. Sie bezweckt keinen labilen Zustand in stationärem
Gleichgewicht zu halten, sondern führt eine deutliche und dauerhafte
Verbesserung herbei. Zudem besteht eine gute Prognose und ist ein Ende der
Behandlung innerhalb von total zwei Jahren absehbar, weshalb keine
Dauerbehandlung vorliegt. Daran vermögen die Hinweise der Vorinstanz auf die
im allgemeinen ungünstige Prognose bei Dysthymien nichts zu ändern, ist doch
davon auszugehen, dass beim Beschwerdeführer einer der durchaus möglichen
günstig verlaufenden Fälle vorliegt. Beim Versicherten hat die Krankheit
sodann nicht schon im frühen Kindesalter begonnen, was die Therapiechancen
erhöht. Die Invalidenversicherung hat demnach die anbegehrte Massnahme, deren
Erforderlichkeit und Zweckmässigkeit feststeht und unbestritten ist, zu
übernehmen.

3.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Der durch einen Arzt vertretene
Beschwerdeführer hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1
OG; in BGE 122 V 230 nicht publizierte Erw. 7).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 20. Juli 2004 und der
Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 21. Januar 2004
aufgehoben, und es wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer Anspruch auf
medizinische Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung hat.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Entschädigung von Fr.
1000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 23. März 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: