Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 532/2004
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I 532/04

Urteil vom 8. Februar 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Hadorn

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

Innova Versicherungen, Bollstrasse 61, 3076 Worb, Beschwerdegegner,

betreffend A.________, 1989,

AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden

(Entscheid vom 20. August 2004)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 29. Januar 2004 lehnte die IV-Stelle des Kantons Thurgau
ein Gesuch von A.________ (geb. 1989) um medizinische Massnahmen ab. Die von
der Innova Versicherungen AG, Krankenkasse von A.________, hiegegen erhobene
Einsprache wies die IV-Stelle mit Entscheid vom 28. April 2004 ab.

B.
Die Innova legte dagegen Beschwerde ein, welche die AHV/IV-Rekurskommission
des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 20. August 2004 guthiess. Die IV-Stelle
wurde verpflichtet, Kostengutsprache für eine stationäre Psychotherapie zu
leisten.

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der kantonale Entscheid sei
aufzuheben.

Während die IV-Stelle auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet die Innova auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die kantonale Rekurskommission hat die gesetzlichen Bestimmungen zum Anspruch
auf medizinische Massnahmen im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1-3 IVG; 12 Abs. 1
IVG) und bei Minderjährigen im Besonderen (Art. 13 IVG; altArt5 Abs. 2 IVG
und Art. 8 Abs. 2 ATSG) sowie die dazu ergangene Rechtsprechung (AHI 2000 S.
63 Erw. 1) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf medizinische Massnahmen.

2.1 Nichterwerbstätige minderjährige Versicherte gelten als invalid, wenn ihr
Gesundheitsschaden wahrscheinlich eine Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben
wird (Art. 5 Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 ATSG). Nach der
Rechtsprechung können daher medizinische Vorkehren bei Jugendlichen schon
dann überwiegend der beruflichen Eingliederung dienen und trotz des
einstweilen noch labilen Leidenscharakters von der Invalidenversicherung
übernommen werden, wenn ohne diese Vorkehren eine Heilung mit Defekt oder ein
sonst wie stabilisierter Zustand einträte, wodurch die Berufsbildung oder die
Erwerbsfähigkeit oder beide beeinträchtigt würden (AHI 2003 S. 105 Erw. 2,
2000 S. 64 Erw. 1 mit Hinweisen). In diesem Sinne werden die Kosten der
psychiatrischen Behandlung Minderjähriger von der Invalidenversicherung
getragen, wenn das psychische Leiden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu
einem schwer korrigierbaren, die spätere Ausbildung und Erwerbsunfähigkeit
erheblich behindernden oder gar verunmöglichenden stabilen pathologischen
Zustand führen würde. Umgekehrt kommen medizinische Massnahmen der
Invalidenversicherung auch bei Minderjährigen nicht in Betracht, wenn sich
solche Vorkehren gegen psychische Krankheiten richten, welche nach heutiger
Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft ohne kontinuierliche Behandlung
nicht dauerhaft gebessert werden können. Dies trifft unter anderem auf
Schizophrenien zu (AHI 2000 S. 64 Erw. 1). Es darf keine Therapie von
unbeschränkter Dauer oder zumindest über eine längere Zeit hinweg in Frage
stehen, bei der sich hinsichtlich des damit erreichbaren Erfolges keine
zuverlässige Prognose stellen lässt (AHI 2003 S. 106 Erw. 4b).

2.2 Laut den Akten erhielt der Versicherte vom 23. Oktober 1995 bis 22. April
1997 eine logopädische Behandlung (Bericht des Jugendpsychologischen Dienstes
des Kantons Y.________ vom 21. Dezember 1995; Verfügung der IV-Stelle des
Kantons Thurgau vom 8. Juli 1996). Ab Oktober 1997 fand laut Bericht des
Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes vom 8. September 1998 eine weitere
intensive Behandlung statt, ab April 1998 in Form einer wöchentlichen
Einzeltherapie. Mit Verfügung vom 8. Oktober 1998 sprach die IV-Stelle dem
Versicherten Psychotherapie nach ärztlicher Verordnung für die Zeit vom 23.
Oktober 1998 bis 22. Oktober 1999 zu. Seit August 1998 hielt sich dieser in
teilstationärer Behandlung in der Klinik für Kinder und Jugendliche in
X.________ auf. Die IV-Stelle verlängerte die Übernahme der Psychotherapie
mit Verfügung vom 16. August 1999 bis Ende Juli 2000. Gemäss Bericht des
pädagogisch-psychologischen Dienstes des Kantons Y.________ vom 19. Juni 2000
bestand weiterhin eine schwere Verhaltensbehinderung im Rahmen einer
pathologischen Selbststeuerung. Trotz der langjährigen heilpädagogischen,
ergotherapeutischen und kinderpsychiatrischen Bemühungen sei der Versicherte
nicht mehr für die öffentliche Schule zu empfehlen. Er müsse schulisch wie
ausserschulisch konstant heil- und sozialpädagogisch geführt und gefördert
werden. Deshalb erhielt er mit Verfügung vom 17. November 2000 Sonderschulung
bis 31. Juli 2002 zugesprochen. Im Bericht vom 16. Juni 2002 führt Dr. med.
S.________, aus, der Versicherte leide an ausgeprägt depressiver
Stimmungslage, verminderter Frustrationstoleranz und teilweise kleinkindlich
anmutenden Verhaltensweisen. Er habe massive Selbstzweifel, sei im Kontakt
teilweise rebellisch, dann wieder distanzlos anbiedernd oder völlig
verschlossen. Daher sei eine therapeutische Begleitung für mehrere Jahre
unbedingt indiziert, da der Junge in seiner schulischen wie psychischen
Entwicklung sehr gefährdet sei. Eine ambulante Therapie sei momentan völlig
unzureichend, weshalb er in die Klinik M.________ einziehen werde. Die
Prognose könne durchaus günstig sein, sofern es gelinge, den Versicherten in
den nächsten Jahren mit einer guten Tagesstruktur, therapeutischer
Unterstützung und sonderpädagogischer Begleitung über alle auftauchenden
Klippen hinweg zu bringen. Die IV-Stelle sprach dem Versicherten ambulante
Psychotherapie ab 29. Mai 2001 bis zum Beginn des Aufenthalts in der Klinik
M.________ sowie die Übernahme der Kosten dieses Aufenthalts bis 31. Juli
2003 zu (Verfügung vom 6. August 2002). Laut Bericht der Klinik für
Psychiatrie und Psychotherapie L.________ vom 14. November 2003 leide der
Versicherte an einer Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem
Verhalten sowie an einer generalisierten Angststörung des Jugendalters,
welche durch sexuelle Missbrauchserfahrungen ausserhalb der Familie verstärkt
werde. Es sei eine stationäre Behandlung angezeigt, deren Abschluss zur Zeit
nicht absehbar sei. Wenn es gelingen sollte, dass die Familie bei den
familientherapeutischen Gesprächen Fortschritte mache, der Versicherte an
seinen Verhaltensweisen arbeite und eine Institution gefunden werde, in
welcher er pädagogisch strukturiert eingeleitet werde, sollte er in der Lage
sein, diese Institution zu besuchen. Da er schulisch sehr schwach sei und
auch der psychische Entwicklungsstand deutlich hinter seinem biologischen
Alter zurückliege, sei in den nächsten Jahren eine Nachreifung erforderlich.
Durch die Behandlung könne "gehofft werden", dass ein Abbau der massiven
schulischen Defizite erreicht werde.

2.3 Auf Grund dieser ärztlichen Angaben ist erstellt, dass sich der
Gesundheitszustand der Versicherten seit Beginn der Psychotherapie im Jahr
1997 wenig gebessert hat, wobei öfters Verschlechterungen eingetreten sind,
welche Hospitalisationen erfordert haben. Die Psychotherapie dauert nunmehr
von 1997 bis zum Datum des Einspracheentscheides vom 28. April 2004 (welches
die zeitliche Grenze der richterlichen Überprüfungsbefugnis bildet, BGE 116 V
248 Erw. 1b), schon mehr als sechs Jahre an und wird laut den jüngsten
Arztberichten weitergeführt. Eine gesicherte Prognose ist den Akten nicht zu
entnehmen. Dr. S.________ und die Klinik L.________ knüpfen ihre guten
Prognosen an verschiedene Bedingungen und äussern sich mit Vorbehalten. Es
liegt somit eine mindestens über längere Zeit andauernde Behandlung mit
ungewisser Prognose vor. Für eine solche hat die Invalidenversicherung nicht
mehr aufzukommen. In vergleichbaren Fällen hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht die Leistungspflicht der Invalidenversicherung ebenfalls
verneint (Urteile Z. vom 12. August 2004, I 128/04, K. vom 18. November 2003,
I 334/03, S. vom 17. November 2003, I 416/03 [ambulante Psychotherapie seit
Oktober 1997, verweigerte Verlängerung über Oktober 2001 hinaus], B. vom 27.
Oktober 2003, I 484/02 [5 Jahre von Behandlungsbeginn bis zur ablehnenden
Verfügung]). Der Fall gehört in den Leistungsbereich der Krankenversicherung.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid der
AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau vom 20. August 2004 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons
Thurgau, der IV-Stelle des Kantons Thurgau und der Ausgleichskasse des
Kantons Thurgau zugestellt.

Luzern, 8. Februar 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber:

i.V.