Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 520/2004
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I 520/04

Urteil vom 18. August 2005
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiber
Nussbaumer

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdeführerin,

gegen

B.________, 1981, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Fürsprecher Christian
Flückiger, Spitalgasse 9, 3011 Bern

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 2. August 2004)

Sachverhalt:

A.
Die russische Staatsangehörige B.________ wurde am 2. Juli 1981 in Bern
geboren und hielt sich seit ihrer Geburt bis am 25. Dezember 1985 und seit
15. Oktober 1989 in der Schweiz auf. Ihr Vater gehörte, abgesehen von den
Jahren 1994-1997, dem diplomatischen Personal der russischen Botschaft in
Bern an. Seit 1. Januar 2002 verfügt sie über eine
Jahresaufenthaltsbewilligung für die Schweiz. Seit der Geburt leidet sie an
einer zentralen Bewegungsstörung im Sinne von Ziff. 390 GgV und an einer
Epilepsie. Am 28. Oktober 1992 liess sie sich zum ersten Mal zum Bezug von
Leistungen der Invalidenversicherung anmelden. Mit Verfügung vom 6. Januar
1993 lehnte die Ausgleichskasse des Kantons Bern das Leistungsgesuch ab, da
die versicherungsmässigen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Eine erneute
Anmeldung vom 15. Juni 1998 wies die IV-Stelle Bern mit unangefochten in
Rechtskraft erwachsener Verfügung vom 27. November 1998 wegen fehlender
versicherungsmässiger Voraussetzungen wiederum ab. Am 17. Januar 2003 reichte
B.________ ein drittes Gesuch zum Bezug von Hilfsmitteln und einer
Invalidenrente ein. Nach verschiedenen Abklärungen wies die IV-Stelle Bern
mit Verfügung vom 13. März 2003 das Leistungsgesuch wiederum mit der
Begründung der fehlenden versicherungsmässigen Voraussetzungen ab. Daran
hielt sie mit Einspracheentscheid vom 29. August 2003 fest.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons
Bern mit Entscheid vom 2. August 2004 insofern gut, als es in Aufhebung des
Einspracheentscheides die Akten an die IV-Stelle Bern zurückwies zur weiteren
Abklärung im Sinne der Erwägungen und zum Erlass einer neuen Verfügung.

C.
Die IV-Stelle Bern führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, es sei
der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben.

B. ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
und das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung stellen. Kantonales Gericht
und Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat zu Recht festgehalten, dass das am 1. Januar 2003
und damit vor Erlass der Verfügung vom 13. März 2003 in Kraft getretene
Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
vom 6. Oktober 2000 anwendbar ist (BGE 131 V 11 Erw. 1, 130 V 447 Erw. 1.2.1
mit Hinweisen). Keine Anwendung finden hingegen die am 1. Januar 2004 in
Kraft getretenen Änderungen des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung
vom 21. März 2003 und der Verordnung über die Invalidenversicherung vom 21.
Mai 2003. Zutreffend dargelegt hat die Vorinstanz ferner auch die Bestimmung
und die Rechtsprechung zum Eintritt der Invalidität im Zusammenhang mit dem
Anspruch auf Hilfsmittel (vgl. auch BGE 108 V 63 oben Erw. 2b) und auf
Eingliederungsmassnahmen.

2.
Streitig ist, ob die Beschwerdegegnerin die versicherungsmässigen
Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung
erfüllt.

2.1 Gemäss Art. 6 Abs. 1 Satz 1 IVG (in der bis 31. Dezember 2000 gültig
gewesenen Fassung) hatten Anspruch auf Leistungen gemäss den nachstehenden
Bestimmungen alle bei Eintritt der Invalidität versicherten Schweizerbürger,
Ausländer und Staatenlosen. Ausländische Staatsangehörige waren,
vorbehältlich Art. 9 Abs. 3, nur anspruchsberechtigt, solange sie ihren
Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz hatten und sofern sie bei
Eintritt der Invalidität während mindestens eines vollen Jahres Beiträge
geleistet oder sich ununterbrochen während zehn Jahren in der Schweiz
aufgehalten hatten (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 IVG in der vom 1. Januar 1997 bis
31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung). Ausländer vor dem vollendeten
20. Altersjahr mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz hatten
laut Art. 9 Abs. 3 IVG Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, wenn entweder
sie selbst die Voraussetzungen gemäss Art. 6 Abs. 2 erfüllten oder wenn
erstens bei Eintritt der Invalidität Vater oder Mutter versichert waren und
als Ausländer während mindestens eines vollen Jahres Beiträge geleistet oder
sich ununterbrochen während zehn Jahren in der Schweiz aufgehalten hatten
(lit. a) und (kumulativ) zweitens sie selbst in der Schweiz invalid geboren
waren oder sich bei Eintritt der Invalidität seit mindestens einem Jahr oder
seit der Geburt ununterbrochen in der Schweiz aufgehalten hatten (lit. b Satz
1).

2.2 Per 1. Januar 2001 wurden die Bestimmungen des AHVG über die freiwillige
Versicherung revidiert. Damit einher gingen auch Änderungen des IVG, welche
sich unter dem Stichwort "Aufhebung der Versicherungsklausel" zusammenfassen
lassen. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 IVG lautet seither wie folgt: "Schweizerische
und ausländische Staatsangehörige sowie Staatenlose haben Anspruch auf
Leistungen gemäss den nachstehenden Bedingungen." Art. 6 Abs. 2 Satz 1 IVG
blieb unverändert; für Erwachsene gilt demnach insbesondere weiterhin die
Anspruchsvoraussetzung einer einjährigen Beitrags- oder zehnjährigen
ununterbrochenen Aufenthaltsdauer bei Invaliditätseintritt. In Art. 9 Abs. 3
lit. a IVG, welcher die Versicherten ausländischer Staatsangehörigkeit
betrifft, die das 20. Altersjahr noch nicht vollendet haben, wurde die
Voraussetzung der Versicherteneigenschaft eines Elternteils gestrichen. Es
reicht nunmehr aus, wenn der Vater oder die Mutter, falls sie ausländische
Staatsangehörige sind, bei Eintritt der Invalidität während mindestens eines
vollen Jahres Beiträge geleistet oder sich ununterbrochen während zehn Jahren
in der Schweiz aufgehalten haben. Die Voraussetzungen, welche überdies in der
Person der Leistungsansprecherin oder des Leistungsansprechers selbst erfüllt
sein müssen (Art. 9 Abs. 3 lit. b Satz 1 IVG), blieben dagegen unverändert.

2.3 Die Beschwerdegegnerin, russische Staatsangehörige, wurde am 2. Juli 1981
in X.________ geboren. Sie hielt sich von der Geburt bis am 25. Dezember 1985
und ab 15. Oktober 1989 in der Schweiz auf. Ihr Vater gehörte mit Ausnahme
der Zeitspanne von 1994-1997 dem diplomatischen Personal der Botschaft
Y.________ in X.________ an. Nach Ablauf des Diplomatenstatus erhielten die
Beschwerdegegnerin und ihre Mutter per 1. Januar 2002 eine
Jahresaufenthaltsbewilligung für die Schweiz. Bereits in der Zeit von 1994
bis 1997, als der Vater vorübergehend in Moskau gearbeitet hatte, haben die
Beschwerdegegnerin und ihre Mutter über eine solche Bewilligung verfügt.
Eigene Beiträge an die AHV/IV hat die Beschwerdegegnerin nie geleistet.
Entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts wurden ihr auch nie
Eingliederungsmassnahmen zugesprochen.

Das kantonale Gericht ging davon aus, dass die Beschwerdegegnerin die
Voraussetzungen für Eingliederungsmassnahmen bis zum 20. Altersjahr wohl
nicht erfüllt habe, da sie sich von Januar 1986 bis im Oktober 1989 in
Russland aufgehalten habe, weshalb sie erst ab Oktober 1999 ununterbrochen
während 10 Jahren in der Schweiz Aufenthalt gehabt habe. Auf Grund der Akten
sei jedoch nicht ersichtlich, welche Eingliederungsmassnahmen ab Oktober 1999
bis zum Erreichen des 20. Altersjahres in Frage gekommen wären.
Möglicherweise sei ihre Mutter in der Zeit zwischen 1994 und 1997 als
Jahresaufenthalterin mit Ausweis B versichert gewesen (Art. 9 Abs. 3 lit. a
IVG in der damals geltenden Fassung) und habe Beiträge bezahlt. Gegen diese
Argumentationsweise wendet die IV-Stelle ein, die Familie habe bis am 31.
Dezember 2001 Diplomatenstatus gehabt, weshalb die Familienmitglieder,
abgesehen von der Periode von 1994 bis 1997, bis Ende Dezember 2001 nicht
Wohnsitz in der Schweiz gehabt haben. Zudem hätten weder der Vater noch die
Mutter der Beschwerdegegnerin während eines vollen Jahres Beiträge
entrichtet.

2.4 Nach ständiger Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts,
letztmals bestätigt im Urteil R. vom 20. Juni 2003 (I 645/02), zählen die von
einer im diplomatischen Dienst tätigen Person ausländischer
Staatsangehörigkeit sowie ihres Ehegatten und ihrer Kinder in der Schweiz
verbrachten Jahre nicht zum ununterbrochenen Aufenthalt (BGE 120 V 410 f.
Erw. 4b und c mit Hinweis auf das nicht veröffentlichte Urteil R. vom 6.
November 1990, H 118/89; vgl. auch BGE 110 V 153 Erw. 3c mit Hinweisen, 115 V
13 Erw. 3a). Erst wenn der diplomatische Status dahinfällt, d.h. im Fall der
Beschwerdegegnerin im Zeitraum zwischen 1994-1997 und ab 1. Januar 2002, kann
von einem Aufenthalt im Sinne von Art. 6 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 3 IVG in der
Schweiz gesprochen werden. Entgegen der Annahme der Vorinstanz erfüllen daher
weder die Eltern noch die Beschwerdegegnerin das Kriterium des
ununterbrochenen Aufenthaltes von 10 Jahren in der Schweiz.

Ob der Vater oder die Mutter in der Zeitspanne von Januar 1994 bis Oktober
1997 während mindestens eines vollen Jahres Beiträge geleistet haben, lässt
sich auf Grund der Akten nicht mit Sicherheit ausschliessen, da sie
diesbezüglich keine Belege enthalten. Die IV-Stelle wird daher diese Frage
noch abzuklären haben. Stellt sich heraus, dass weder der Vater noch die
Mutter der Beschwerdegegnerin in der fraglichen Zeitspanne während mindestens
eines vollen Jahres Beiträge an die AHV/IV geleistet haben, entfällt ein
Anspruch der Beschwerdegegnerin auf Leistungen der IV.

3.
Da die Beschwerdeführerin - wie vom kantonalen Gericht angeordnet - noch
zusätzliche Abklärungen zu treffen hat, ist sie auch im letztinstanzlichen
Verfahren als unterliegend zu betrachten, wird doch die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde im Sinne der Erwägungen abgewiesen. Sie hat
daher der Beschwerdegegnerin eine Parteientschädigung zu entrichten (Art. 159
Abs. 1 OG), so dass deren Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung
gegenstandslos ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Bern hat der Beschwerdegegnerin für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr.
1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 18. August 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
i.V.