Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 509/2004
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I 509/04

Urteil vom 26. Juli 2005
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiber
Scartazzini

F.________, 1947, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Walter
Krähenmann, Kirchenfeldstrasse 68, 3005 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 28. Juni 2004)

Sachverhalt:

A.
Der 1947 geborene F.________ ist im Bereich Rohrreinigung Inhaber einer
Einzelfirma. Am 10. Mai 1995 meldete er sich zum Bezug von Leistungen der
Invalidenversicherung an. Nach ärztlichen Angaben litt der Versicherte seit
1992 an einer Agoraphobie mit Hyperventilation und zeitweiliger
Bewusstlosigkeit, was ihm in seinem Beruf verunmöglichte, in Kanäle und
Schächte einzusteigen sowie allein Auto zu fahren. Nach Prüfung seines
Gesuchs wurde ihm mit Verfügung vom 24. September 1998 wegen langdauernder
Krankheit ab 1. Mai 1994 eine ganze Rente zugesprochen, wobei der
Invaliditätsgrad auf 70 % festgesetzt wurde.

Gestützt auf die in einem Revisionsverfahren durchgeführten Abklärungen
verfügte die IV-Stelle Bern am 27. September 1999, der Versicherte sei wieder
in der Lage, ein rentenausschliessendes Einkommen zu erzielen, weshalb die
Versicherungsleistung auf Ende des nachfolgenden Monats aufgehoben wurde. Mit
Entscheid vom 4. Februar 2000 hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
die dagegen erhobene Beschwerde insoweit gut, als in Aufhebung der
angefochtenen Verfügung die Sache an die IV-Stelle zurückgewiesen wurde,
damit diese nach vorgängiger rechtsgenüglicher Anhörung des Versicherten neu
verfüge. Nach neuen Abklärungen und Durchführung des ordentlichen
Bemessungsverfahrens ermittelte die IV-Stelle mit Verfügung vom 29. November
2001 eine seit mindestens 1997 bestehende, invaliditätsbedingte
Erwerbseinbusse von 35 % und hob die Rente auf Ende des den Zustellungsmonat
der Verfügung folgenden Monats auf. Zur Begründung wurde insbesondere
ausgeführt, dass bezüglich der Mitarbeit der Ehefrau sowie eines zusätzlichen
teilweise behinderungsbedingt einzusetzenden Mitarbeiters ein
Personalmehraufwand von Fr. 101'172.- berücksichtigt worden sei.

B.
Dagegen liess der Versicherte beim kantonalen Gericht Beschwerde erheben und
den Hauptantrag stellen, es sei ihm auch nach dem 1. Januar 2002 eine halbe
Rente zuzusprechen. Angesichts eines Schreibens der IV-Stelle vom 16. Januar
2002, wonach die Aufhebung der Rente bereits auf Ende August 1998 zu erfolgen
habe, liess der Versicherte mit Eingabe vom 23. Januar 2002 das
Rechtsbegehren insoweit abändern, als ihm eine halbe Rente ab September 1998
zuzusprechen sei. Nachdem die IV-Stelle an ihrem Standpunkt festgehalten und
eine reformatio in peius beantragt hatte, liess der Beschwerdeführer dem
kantonalen Gericht mit Replik vom 2. September 2002 mitteilen, er halte an
der Beschwerde fest und beantrage die Aufhebung des Entscheides sowie die
Rückweisung der Sache an die Verwaltung zur Neuabklärung, eventualiter die
Zusprechung einer Rente ab 1. Oktober 1997.

Mit Entscheid vom 28. Juni 2004 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
die Beschwerde ab und hob die ganze Rente mit Wirkung ab Ende Januar 2000
auf. Damit schützte die Vorinstanz die angefochtene Revisionsverfügung vom
29. November 2001 in Anwendung der substituierten Begründung, dass die
ursprüngliche Rentenverfügung, mit welcher dem Beschwerdeführer eine ganze
Rente zugesprochen worden war, zweifellos unrichtig und ihre Berichtigung von
erheblicher Bedeutung war.

C.
Der Beschwerdeführer lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und in
Aufhebung des kantonalen Entscheides unter Kostenfolge und Neuverlegung der
Parteikosten durch die Vorinstanz beantragen, die Sache sei zur
Neubeurteilung an die IV-Stelle zurückzuweisen.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Zu prüfen ist, ob und gegebenenfalls auf welchen Zeitpunkt aufgrund des
Vergleichs des anlässlich der ursprünglichen Verfügung vom 24. September 1998
(Zusprache einer ganzen Rente ab 1. Mai 1994 bei einem Invaliditätsgrad von
70 %) gegebenen Sachverhalts mit demjenigen im Zeitpunkt der ersten
Rentenaufhebungsverfügung vom 27. September 1999 sich die tatsächlichen
Verhältnisse in dieser Zeitspanne so wesentlich verändert haben, dass der
Beschwerdeführer fortan keinen Anspruch mehr auf eine Invalidenrente gehabt
hätte.

1.1 Wie das kantonale Gericht zutreffend erkannt hat, findet das auf den 1.
Januar 2003 und damit erst nach Erlass der Verfügung vom 29. November 2001 in
Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG) keine Anwendung.
Dasselbe gilt für die erst im Zuge der 4. IV-Revision auf den 1. Januar 2004
neu eingeführten oder geänderten Bestimmungen des IVG und der dazugehörenden
Verordnung (IVV).

1.2 Bezüglich der rechtlichen Grundlagen für die Beurteilung des streitigen
Rentenanspruchs nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs oder
nach dem ausserordentlichen Bemessungsverfahren ist auf die Ausführungen im
kantonalen Entscheid zu verweisen. Von Bedeutung sind ferner die Bestimmungen
über die Rentenrevision (alt Art. 41 IVG [in der bis 31. Dezember 2002 gültig
gewesenen Fassung; nunmehr Art. 17 Abs. 1 ATSG] und alt Art. 88a Abs. 1 IVV
[in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung] sowie Art. 88bis Abs.
2 lit. a IVV; BGE 130 V 349 ff. Erw. 3.5; vgl. auch BGE 125 V 369 Erw. 2, 113
V 275 Erw. 1a, 112 V 372 Erw. 2b und 390 Erw. 1b, 109 V 265 Erw. 4a, 105 V
30, je mit Hinweisen) sowie die für  die Wiedererwägung rechtskräftiger
Verwaltungsverfügungen geltenden Regeln (BGE 127 V 469 Erw. 2c mit Hinweisen,
103 V 128).

Lassen sich die beiden hypothetischen Erwerbseinkommen nicht zuverlässig
ermitteln oder schätzen, so ist in Anlehnung an die spezifische Methode für
Nichterwerbstätige (Art. 27 IVV [in der bis 31. Dezember 2003 gültig
gewesenen Fassung]) ein Betätigungsvergleich anzustellen und der
Invaliditätsgrad nach Massgabe der erwerblichen Auswirkungen der verminderten
Leistungsfähigkeit in der konkreten erwerblichen Situation zu bestimmen
(ausserordentliches Bemessungsverfahren). Der grundsätzliche Unterschied
dieses Verfahrens zur spezifischen Methode besteht darin, dass die
Invalidität nicht unmittelbar nach Massgabe des Betätigungsvergleichs als
solchem bemessen wird. Vielmehr ist zunächst anhand des Betätigungsvergleichs
die leidensbedingte Behinderung festzustellen; sodann aber ist diese im
Hinblick auf ihre erwerbliche Auswirkung besonders zu gewichten. Eine
bestimmte Einschränkung im funktionellen Leistungsvermögen einer
erwerbstätigen Person kann zwar, braucht aber nicht notwendigerweise eine
Erwerbseinbusse gleichen Umfangs zur Folge zu haben. Wollte man bei
Erwerbstätigen ausschliesslich auf das Ergebnis des Betätigungsvergleichs
abstellen, so wäre der gesetzliche Grundsatz verletzt, wonach bei dieser
Kategorie von Versicherten die Invalidität nach Massgabe der
Erwerbsunfähigkeit zu bestimmen ist (BGE 128 V 30 f. Erw. 1 mit Hinweisen).

2.
2.1 Das kantonale Gericht hat befunden, entgegen der Ansicht des
Beschwerdeführers sei eine Berechnung aufgrund des ausserordentlichen
Bemessungsverfahrens nicht gerechtfertigt. Es hat festgestellt, dass die
IV-Stelle bei der Berechnung des Anteils für die nicht entlöhnte Mitarbeit
der Ehefrau sowie bezüglich der Berechnung des Personalaufwandes für einen
behinderungsbedingt zusätzlichen Mitarbeiter richtigerweise die vom Bundesamt
für Statistik gestützt auf die  Lohnstrukturerhebung (LSE) erstellten
Lohntabellen beigezogen hatte. Die Verwaltung war von den
Geschäftsabschlüssen der Jahre 1997 bis 2000 ausgegangen, somit von einem
Zeitraum, indem sich die invaliditätsbedingten Einschränkungen beim
Beschwerdeführer schon ausgewirkt hatten. Sodann hatte sie zuerst das
hypothetische Invalideneinkommen berechnet, um danach, bei Aufrechnung eines
behinderungsbedingten Mehraufwandes an Personal, das hypothetische
Valideneinkommen festzusetzen.

2.2 Demgegenüber vertritt der Beschwerdeführer die Auffassung, für die
Ermittlung des Invaliditätsgrades sei nicht die ordentliche Bemessungsmethode
mit Vergleichsberechnungen, sondern das ausserordentliche Bemessungsverfahren
anzuwenden. Zur Begründung macht er geltend, wenn die IV-Stelle noch eine
verbleibende Arbeitsfähigkeit von 20 % hinsichtlich der handwerklichen
Tätigkeit als Beifahrer auf dem Lastwagen angenommen habe, so übersehe sie,
dass diese Beschäftigung betriebswirtschaftlich sinnlos sei und zu keinem
Ertrag führe. Abklärungen darüber, welche Tätigkeit der Beschwerdeführer
überhaupt ausserhalb des Büros ausführen könne, seien keine durchgeführt
worden, wobei davon ausgegangen werden müsse, dass im handwerklichen Bereich
eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit bestehe. Werde die Erwerbsfähigkeit aufgrund
einer Buchhaltung ermittelt, seien nicht bloss die Zahlen, sondern auch die
entsprechenden Schwankungen mit zu berücksichtigen, weil eine ausgeglichene
konjunkturelle Entwicklung die Basis für ein konstantes Validen- bzw.
Invalideneinkommen bilde. Die Geschäftsergebnisse seien durch die
invaliditätsfremden Faktoren der Konjunkturlage, der Konkurrenzsituation, des
kompensatorischen Einsatzes seiner Ehefrau und eines Mitarbeiters beeinflusst
worden, weshalb das ordentliche Bemessungsverfahren für die Ermittlung des
Invaliditätsgrades untauglich sei. Da insbesondere die Geschäftsführung
keinen direkten Ertrag abwerfe, ihr aber im Vergleich zur
branchenspezifischen Tätigkeit grössere, wirtschaftliche Bedeutung zukomme,
könne ihre erwerbliche Gewichtung nicht aus den Betriebsergebnissen
abgeleitet werden. Auch die   massiven Ertragsschwankungen im Zeitraum von
1997 bis 2001 würden aufzeigen, dass die vorgenommenen Berechnungen
untauglich seien. Es sei daher zweckmässig, auf die Durchschnittszahlen des
Branchenverbandes abzustellen, was zu einer Erwerbseinbusse von 51,1 % führe.
Zur Nachholung der Abklärungen und zur Berechnung des Invaliditätsgrades nach
dem ausserordentlichen Bemessungsverfahren seien die Akten an die IV-Stelle
zurückzuweisen.

2.3 Eine Gegenüberstellung der in einem Gewerbebetrieb realisierten
Betriebsergebnisse lässt zuverlässige Schlüsse auf die invaliditätsbedingte
Erwerbseinbusse nur dort zu, wo mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
ausgeschlossen werden kann, dass die Geschäftsergebnisse durch
invaliditätsfremde Faktoren beeinflusst worden sind. Tatsächlich sind aber
für die jeweiligen Geschäftsergebnisse eines Gewerbebetriebes häufig
zahlreiche schwer überblickbare Komponenten wie etwa die Konjunkturlage, die
Konkurrenzsituation, der kompensatorische Einsatz von Familienangehörigen,
Unternehmensbeteiligten oder -mitarbeitern von massgeblicher Bedeutung. Eine
verlässliche Ausscheidung der auf solche (invaliditätsfremden) Faktoren
zurückzuführenden Einkommensanteile einerseits und der auf dem eigenen
Leistungsvermögen des Versicherten beruhenden Einkommensschöpfung
andererseits ist in solchen Fällen in der Regel aufgrund der
Buchhaltungsunterlagen nicht möglich (AHI 1998 S. 254 Erw. 4a).

Der Bemessung des Invaliditätsgrades durch die Vorinstanz kann nicht gefolgt
werden. Das kantonale Gericht führt zwar aus, der vorliegende Tatbestand
unterscheide sich von demjenigen, der in BGE 128 V 29 ff. zur Anwendung der
ausserordentlichen Invaliditätsbemessungsmethode geführt hatte, begründet
ihren Standpunkt allerdings nicht überzeugend. Der Beschwerdeführer macht zu
Recht geltend, invaliditätsfremde Faktoren, welche möglicherweise zu
bedeutenden Ertragsschwankungen geführt haben, seien in der Berechnung der
IV-Stelle nicht berücksichtigt worden. Auch welche Tätigkeiten er im
handwerklichen Bereich noch ausführen kann, wurde nicht abgeklärt. Die von
der Vorinstanz zwecks Durchführung eines möglichst exakten
Einkommensvergleichs im Rahmen der ordentlichen Bemessungsmethode
herangezogenen Betriebsergebnisse ermöglichen keine Beurteilung, inwiefern
sich die leidensbedingte Behinderung bei der Arbeit in erwerblicher Hinsicht
auswirkt, und bilden daher keine taugliche Grundlage für die
Invaliditätsbemessung. Die Sache ist unter diesen Umständen an die Verwaltung
zurückzuweisen, damit sie angesichts der Tatsache, dass vorliegend auch
invaliditätsfremde Faktoren das Geschäftsergebnis beeinflusst haben und
deshalb nicht ohne weiteres von der Einkommenseinbusse auf den
Invaliditätsgrad geschlossen werden kann, Letzteren nach der Methode des
ausserordentlichen Bemessungsverfahrens festlege und anschliessend über die
Rentenrevision neu befinde.

3.
Da es um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen geht,
sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 134 OG).

Dem Verfahrensausgang entsprechend steht dem anwaltlich vertretenen
Beschwerdeführer eine zu Lasten der unterliegenden Beschwerdegegnerin gehende
Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 28. Juni 2004 und die Verfügung vom
29. November 2001 aufgehoben und die Sache an die IV-Stelle zurückgewiesen,
damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über die
Rentenrevision neu befinde.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle Bern hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wird über eine Parteientschädigung
für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 26. Juli 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: